Hitlers Vater

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Adolfs Vorsehung

»Als glückliche Bestimmung gilt es mir heute, dass das Schicksal mir zum Geburtsort gerade Braunau am Inn zuwies«, lautet der erste Satz von Mein Kampf: »Liegt doch dieses Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint!« Hitler fährt dann fort: »Nur wenig haftet aus dieser Zeit noch in meiner Erinnerung, denn schon nach wenigen Jahren musste der Vater das liebgewonnene Grenzstädtchen wieder verlassen, um innabwärts zu gehen und in Passau eine neue Stelle zu beziehen; also in Deutschland selber.«98

Dieser Einleitungssatz, an dem Hitler lange herumgefeilt hatte, ist reine Politpropaganda. Hitler spielte mit dem Symbolwert: Schon 1921 hatte er in einer Erklärung im Völkischen Beobachter hervorgestrichen, dass der Ort seiner Geburt »bloß 250 m von der bayerischen Grenze entfernt, noch vor 100 Jahren selber bayerisches Staatsgebiet war […]. Ich könnte auch einwenden, dass ich einen Teil meiner Kindheit bereits in Bayern verbrachte, zu Passau, und dass ich mich nunmehr seit geschlagenen 10 Jahren in München befinde.«99 Er wollte sich den Lesern als geborener deutscher Bürger, angestammter Bayer und wirklicher Großdeutscher präsentieren.

Ob lieb gewonnen oder nicht: An Braunau am Inn, das nicht nur der Reichspräsident Hindenburg, sondern auch schon lange vorher Hitlers Münchner Kampfgefährte Rudolf Heß mit der gleichnamigen böhmischen Stadt (tschechisch Broumov) verwechselt hatte, konnte Adolf wenig oder gar keine Erinnerung haben, wie er auch selbst zugab.100 Doch wer hätte ihm die selbst ernannte Rolle als wichtigster Braunauer in seiner eigenen Vorstellung streitig machen können? Edmund Glaise-Horstenau, der Vizekanzler im österreichischen »Anschluss«-Kabinett Seyß-Inquart und von 1941 bis 1944 »Deutscher Bevollmächtigter General in Kroatien«, war ebenfalls Braunauer. Als die beiden bei einem Zusammentreffen auf ihren gemeinsamen Geburtsort zu sprechen kamen, sagte Hitler lächelnd: »Sie haben Pech, dass ich auch dort geboren wurde, sonst wären Sie der berühmteste Braunauer!« Glaise wandte ein: »Mein Führer, das ist doch nicht ganz richtig. Sie erinnern sich. Vor einigen Jahrhunderten gab es in Braunau einen Bürgermeister, der einen so langen Bart hatte, dass er sich mit den Füßen drauftrat und zu Tode stürzte. Der stünde noch immer zwischen uns.« Es folgte allgemeines Gelächter.101 So elegant hat wohl selten jemand dem Großmaul den Mund gestopft.

Es hätte auch noch andere berühmte Braunauer gegeben, die aber noch weniger in das Hitlersche Weltbild passten: vor allem die jüdische Familie Wertheimer, die 1851 das ehemalige Kloster Ranshofen samt Gutswirschaft erworben hatte und es zu einem Musterbetrieb ausbaute. Ferdinand Wertheimer, der sich um die Wirtschaft des Innviertels und die Stadt Braunau große Verdienste erworben hatte, wurde Ehrenbürger der Stadt. Sein Enkel, Egon Ranshofen-Wertheimer, der in der Emigration gegen Hitler arbeitete, erwarb sich nach dem Zweiten Weltkrieg um die europäische Einigung große Verdienste und könnte mit gutem Recht als berühmtester Braunauer gelten.

Definitiv nichts mit der Stadt Braunau hat hingegen das Braun der nationalsozialistischen Parteifarben zu tun, von den Braunhemden bis zum Braunen Haus. Die Farbe Braun ist zwar schon in den Anfangsjahren der NSDAP nachweisbar, aber doch wohl dem Kostenfaktor zuzuschreiben, weil von der jungen Partei ein größerer Posten von ursprünglich für die deutsche Schutztruppe in Deutsch-Ostafrika bestimmter Braunhemden als Uniformierung günstig erworben werden konnte.102

Hitlers Geburtsjahr 1889 war ein geschichtlich markantes Jahr. In Paris wurde der Eiffelturm eröffnet. Über 30 Millionen Besucher bestaunten auf der Weltausstellung die modernsten Errungenschaften der damaligen Welt. In Deutschland starb 1888 Kaiser Wilhelm I. und 1890 trat Bismarck zurück. In Österreich beging Kronprinz Rudolf Selbstmord. Es war die Zeit, als alle drei österreichischen Massenparteien sich formierten, die Deutschnationalen, die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten. An der Jahreswende 1888/89 wurde auf dem Hainfelder Parteitag die Gründung der österreichischen sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) besiegelt. Im Herbst des Jahres erschien Bertha von Suttners Roman Die Waffen nieder!

Die Umstände einer Geburt, das ist Teil jeder historischen Legendenbildung, verweisen auf die künftige Bestimmung großer Persönlichkeiten. Bei Hitler wurde an dieser Legende, von ihm selbst entsprechend unterstützt, während und auch nach der nationalsozialistischen Zeit weiter kräftig gestrickt. Das Geburtshaus wurde zu einem Ort abstruser Verehrung und zu einem bis in die Gegenwart umstritten gebliebenen Ort. Wie mit ihm umgehen, was damit anfangen, wie es nutzen? Eine befriedigende Lösung ist bis jetzt nicht gefunden.103

Am 20. April 1889, es war der Karsamstag, kam dort der nunmehr, nach dem frühen Tode Gustavs, wieder erste Sohn des Ehepaares Alois und Klara Hitler zur Welt. Ob im heute noch stehenden Straßenteil oder in dem später abgerissenen hinteren Hofteil des Hauses, ist umstritten. Geburtshelferin war die Hebamme Franziska Pointecker. Anwesend war wohl auch die Hausgehilfin Rosalia Hörl, die später auch als Hebamme arbeitete. Dass sie damals an der Geburt des zukünftigen »Führers« als solche mitgewirkt hätte und dass sie, wenn sie gewusst hätte, »was aus dem kleinen Adolf einmal wird«, diesem die Nabelschnur um den Hals gelegt hätte, gehört zu den vielen Legenden, die rund um den »Führer« später erfunden wurden.104 Auch dass der Kindesvater Alois gar nicht zuhause war, weil er wie jeden Samstag bis 18 Uhr seinen Dienst versehen habe, mag Tratsch sein. Es war ja der Karsamstag, und die Teilnahme an den Osternachtfeiern, die ja schon am frühen Abend begannen, hat man im katholischen Österreich den Beamten zweifellos nicht vorenthalten wollen. Zwei Tage später, am Ostermontag um 15.30 Uhr, wurde das Kind von Pfarrer Ignaz Probst in der Braunauer Stadtpfarrkirche getauft. Dass der Vater um acht Uhr früh schon wieder im Dienst gewesen sei und an der Taufe nicht teilgenommen habe, ist allerdings richtig böser Tratsch.105 Denn der Ostermontag war ein gebotener Feiertag und galt auch für Beamte. Taufpaten waren wieder, wie schon bei allen früheren Kindern, Johann und Johanna Prinz, Private in Wien III, Löwengasse 28. Weil sie nicht persönlich nach Braunau kommen konnten, musste Maria Matzelsberger, Hitlers Schwiegermutter aus der zweiten Ehe, stellvertretend einspringen.

Wurde als »Geburtsstätte des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler« unter Denkmalschutz gestellt: das Geburtszimmer Adolf Hitlers in der musealen Gestaltung nach 1938 (oben links).


Der kleine Adolf genoss eine bevorzugte Behandlung durch die Mutter: »Er wurde vom frühen Morgen bis in die späte Nacht verwöhnt« (oben rechts).


Die Taufpaten Johann und Johanna Prinz aus Wien konnten nicht persönlich zur Tauffeier nach Braunau kommen: Taufschein und »Geburtszeugnis« für »Adolfus« (unten).

Die in den Jahren 1941 bis 1943 entwickelten Pläne des Architekten Rudolf Fröhlich sahen für die »Geburtsstadt des Führers« die Errichtung eines »Forums« mit Parteihaus und Landes- und Volkskundlichem Museum, ausgestattet mit Weihehof und Glockenturm, vor.


Man darf die Taufpatenangelegenheit nicht gering schätzen. Denn Taufpaten waren damals, vor allem in der bäuerlich-kleinbürgerlichen Tradition, von großer Wichtigkeit, nicht nur weil sie nach kirchlicher Vorschrift erforderlich waren, sondern weil sie auch wertvolle Netzwerke herstellen konnten. Nicht nur zur Taufe selbst, sondern auch zu Allerheiligen und Ostern gab es für die Patenkinder kleine Geschenke: Allerheiligenstriezel, Osterwecken, gefärbte Eier, Süßigkeiten. Vor allem aber konnten die Patenleute Rat und Hilfe bieten, wie der Autor aus eigener Kenntnis der bäuerlichen Denkweise weiß. Dass man trotz der Umständlichkeit, bei den in Braunau stattfindenden Taufen für die in Wien weilenden Paten jeweils einen örtlichen Vertreter finden zu müssen, bei den Wiener Paten blieb, mag schlicht den Grund gehabt haben, nicht wechseln zu wollen. Vielleicht lag es auch am Prestige von Paten aus der Hauptstadt, auch wenn diese dort bloß Saaldiener oder Badewärter waren. Wie eng die Beziehungen des Ehepaars Hitler und der Patenkinder zu den Wiener Pateneltern waren, ist nicht bekannt. Sicher war die räumliche Distanz groß. Verwunderlich wäre es dennoch, wenn es gar keine Kontakte gegeben hätte. Alois Hitler, der einige Male dienstlich in Wien war, könnte bei ihnen Unterkunft gefunden haben. Es wäre auch nicht unwahrscheinlich, wenn Adolf Hitler bei seinem ersten Wienaufenthalt im Jahr 1906, von dem kein Meldezettel bekannt ist, bei seiner Taufpatin Unterschlupf gefunden hätte. 1907 hingegen war die Wohnung in der Löwengasse bereits aufgegeben. Adolf Hitler selbst hat seine Taufpaten nie erwähnt. Dass er aber über die Bedeutung der Patenschaft wusste, wird daraus ersichtlich, dass er später sein geliebtes Linz ausdrücklich zu seiner Patenstadt erklärte und selbst symbolisch die Patenschaft für viele Kinder übernahm.

 

Rosalia Hörl, das Kindermädchen, bescheinigte dem kleinen Adolf später eine bevorzugte Behandlung durch die Mutter. Die Stiefgeschwister seien eifersüchtig gewesen: »Er wurde vom frühen Morgen bis in die späte Nacht verwöhnt, und die Stiefkinder mussten sich endlose Geschichten anhören, wie wunderbar Adolf war.« Diese Aussage der Rosalia Hörl, die ja schon im Geburtsjahr Adolfs aus dem Dienst ausgeschieden war und nach dem Wegzug der Familie aus Braunau sicher keine Informationen aus erster Hand mehr haben konnte, ist daher wenig bedeutsam. Auch ihr böses Urteil über die im Haushalt lebende Johanna, die »Hanni-Tant«, die ledig gebliebene, vielleicht bucklige, aber nicht geistig behinderte Schwester Klaras, war sicher nicht vorurteilsfrei.106 Stieffamilien waren meist konfliktgeladen und durch Spannungen zwischen Stiefmutter und Stiefkindern oder zwischen den älteren und jüngeren Halbgeschwistern gezeichnet, wenn Liebe und Strafe ungerecht verteilt wurden, wenn es um materielle Bevorzugungen oder Benachteiligungen ging oder wenn schlicht ein aus Märchen und Sagen bekanntes Klischee weiter gepflegt wurde.

Im später so berühmt gewordenen Hitler-Geburtshaus lebte Adolf nur ein paar Monate. Bereits am 4. Juni 1889 übersiedelte die Familie in das Hörlhaus in der Altstadt Nr. 16 und am 1. September 1890 in das Botenhaus, Linzer Straße 47.107 Am 17. Juni 1892, drei Jahre nach Adolfs Geburt, folgte noch in Braunau Klaras viertes Kind, von dem man bis vor wenigen Jahren geglaubt hatte, dass es bereits 1888 noch vor Adolf geboren worden wäre. Weil Otto bereits sechs Tage nach der Geburt verstarb, hat man ihn kaum zur Kenntnis genommen. Die Neue Warte am Inn meldete am 23. Juni in der Rubrik Sterbefälle bloß nüchtern: »Otto Hitler, Beamtenskind, 7 Tage alt, Wasserkopf.« 108 Für den Braunauer Historiker Florian Kotanko, der das Todesdatum richtiggestellt hat, stellten sich mehrere Fragen: »Wie wurde der dreijährige Adolf mit Geburt und Tod eines Bruders konfrontiert?« »Hat er den sogenannten Wasserkopf des Bruders bewusst miterlebt?« Und: »Hat sich diese Beobachtung auf Hitlers spätere Einstellung zu Menschen mit Behinderung ausgewirkt?«109 Viel zentraler aber war, dass es für die Eltern ein neuer Schock war, über den man erst hinwegkommen musste und für dessen Bewältigung kaum Zeit blieb. Denn nur wenige Tage nach Ottos Begräbnis musste die Familie die Stadt verlassen und nach Passau übersiedeln.110 Adolf behielt als Erinnerung an seine Braunauer Zeit nur ein im Klinger’schen Fotoatelier, Ringstraße 23, damals Vorstadt 318, aufgenommenes Babyfoto. Während sein Vater Alois auch nach 1892 immer wieder nach Braunau kam, hier alte Freunde traf, sich Geld auszuborgen versuchte, das Bezirksgericht aufsuchte oder seiner Schwiegermutter aus der zweiten Ehe beim Übersiedeln von Möbeln half, kam Adolf, abgesehen von einer Wahlrede im Jahr 1920, nur mehr ein einziges Mal nach Braunau: am 12. März 1938 beim von ihm befohlenen Einmarsch der deutschen Wehrmacht nach Österreich. Es war eigentlich kein Aufenthalt in der festlich geschmückten Stadt. Er war durchgefahren und am »Geburtshaus« einfach vorbeigefahren, ohne auch nur kurz anzuhalten oder gar auszusteigen. Die Stadt blieb für ihn nur ein politisches Symbol.

Für Alois Hitler war es sein längster Dienstort, aber die Zeit, die ihm in Braunau beschieden gewesen war, war nicht wirklich die glücklichste: die erste Frau schwer krank, der Kindersegen versagt, die zweite Frau bald bettlägrig und jung verstorben, und aus der dritten Ehe drei Kinder in Braunau begraben. Für Klara, aber auch für Alois musste der Stress, den die vielen Todesfälle und Schicksalsschläge mit sich brachten, jedenfalls enorm gewesen sein. In einem Brief an den Straßenmeister Radlegger schreibt Alois später, dass er sich damals in einer tiefen psychischen Krise befunden habe.111



Das Rauschergut in Hafeld: Hier wollte Alois Hitler seinen Traum von einer eigenen Landwirtschaft verwirklichen. Bilder aus einem 1939 gedrehten Film über die Wohnorte des »Führers«. Nordico Stadtmuseum Linz. Reproduktion Thomas Hackl.

Die Lust, Bauer zu werden
Wertheimer und Wieninger

»Unsere Vorfahren waren nur Bauern«, sagte Adolf Hitler in einem seiner Monologe im Führerhauptquartier.112 Sein Vater Alois Hitler wollte mehr sein als nur ein kleiner Bienenzüchter. Er wollte ein richtiger Bauer sein. Er war zwar Beamter geworden. Aber er hatte seine Bindung und Liebe zum Bauerntum nie aufgegeben. Sein Traum war eine eigene Landwirtschaft. Aber er wollte kein gewöhnlicher Bauer werden. Er wollte ein gebildeter Bauer sein. Als er in Hafeld einen Bauernhof erwarb, betonte er voller Stolz seine Kenntnisse in der modernen Düngerchemie, Wiesenbewirtschaftung, Tierzucht und Saatgutwahl, die er sich im Innviertel bei fortschrittlichen Landwirten und Agrarreformern erworben hatte. Alois Hitler, der sich über die Erwachsenenbildung eine Beamtenkarriere erarbeitet hatte, war auch für die landwirtschaftliche Weiterbildung entsprechend aufgeschlossen.

Es fällt auf, dass das Innviertel für die bäuerliche Fortbildung ein sehr fruchtbarer Boden war. Im Jahr 1880/81 entfielen von den insgesamt 74 landwirtschaftlichen Kursen mit insgesamt 941 Teilnehmern, die in diesem Jahr in ganz Oberösterreich abgehalten wurden, etwa zwei Drittel auf das Innviertel. Zwei österreichische Agrarpioniere, mit denen auch Alois Hitler Kontakt hatte, stechen besonders hervor: Ferdinand Wertheimer in Braunau und Georg Wieninger in Schärding.

In Ranshofen, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Braunau, lebte der jüdische Bankier und Großgrundbesitzer Ferdinand Wertheimer. Aus einer einflussreichen Augsburger und Wiener jüdischen Großhändlerfamilie kommend, hatte er sich nach Abschluss seines Studiums in München und Göttingen ausgiebig mit Forschungen zur Agrikulturchemie und Düngerlehre beschäftigt. Durch zahlreiche Studienreisen nach Deutschland, Frankreich, England, Belgien, Österreich und Ungarn hatte er internationale Erfahrung gesammelt. 1850 heiratete er Fanny Porges, die Tochter des einflussreichen Wiener Bankiers Efraim Porges, was ihn in die Lage versetzte, 1851 das aufgehobene Kloster Ranshofen zu kaufen, das er zu einem landwirtschaftlichen Musterbetrieb ausbaute. Für das gesamte Innviertel gewann das vorbildhafte Wirkung: leistungsfähigere Viehrassen, neue Maschinen, trockengelegte Wiesen, verbesserte Fruchtfolgen und mineralische Düngung konnte man hier kennenlernen. Auch die Fisch- und die Bienenzucht erhielten durch ihn wesentliche Impulse. 1867 wurde er für die liberale Wählergruppe (Kurie des Großgrundbesitzes) in den oberösterreichischen Landtag gewählt und wirkte dort ab 1870 auch als Mitglied des Ausschusses für Landeskultur und Forstwirtschaft.113 Die Braunauer Ehrenbürgerschaft wurde ihm für seinen Einsatz bei der Errichtung der Eisenbahnlinie Neumarkt–Braunau–München verliehen. Auch nach dem großen Braunauer Stadtbrand 1874 sprang er mit großzügigen Hilfen ein.

Es sind keine direkten Kontakte zwischen Alois Hitler und Ferdinand Wertheimer bekannt. Es wäre aber ganz unwahrscheinlich, wenn Alois nicht von den Wertheimerischen Innovationen gewusst und von diesen nicht gelernt hätte. Vielleicht ist sogar die zweite Heirat von Alois in der Ranshofener Schloss- und Pfarrkirche ein Indiz für eine Bekanntschaft mit dem Ranshofener Schlossherrn und Agrar- und Bienenpionier Ferdinand Wertheimer.

Wertheimers beide Söhne Philipp und Julius führten das Erbe des Vaters nach 1883 in seinem Sinne weiter.114 Vor allem Philipp, der an der Landwirtschaftsschule in Hohenheim studiert hatte, übte eine große Anziehungskraft auf bildungswillige Landwirte aus und engagierte sich im Zentralausschuss der oberösterreichischen Landwirtschaftsgesellschaft und ab 1902 sogar als deren Vizepräsident.115 Philipp Wertheimer hatte drei Töchter, Anna, Emilie und Gabriele, Julius zwei Söhne, Egon und Otto. Die Hitlerschen und Wertheimerischen Lebenswege kreuzten sich noch mehrmals, zumindest virtuell: 1919 war Egon Wertheimer, der sich später den Doppelnamen Ranshofen-Wertheimer zulegte, in der Münchener Räterepublik aktiv, die auch Adolf Hitlers Lebensweg entscheidend beeinflusste. Während Egon dem aus Studenten gebildeten »Revolutionärer Hochschulrat« angehörte und Ende April 1919 aufgrund dieses linksradikalen Engagements Bayern verlassen musste, war für Adolf Hitler diese Revolution ein entscheidender Anstoß zur rechtsradikalen Wende. Im Jahr 1938 wurde das Gut Ranshofen der drei Cousinen Egon Wertheimers arisiert und auf dem Gelände das Aluminiumwerk Ranshofen errichtet. 1942 wurde das Grab Ferdinand Wertheimers auf dem Jüdischen Friedhof Kriegshaber in Augsburg von Nationalsozialisten geschändet, weil man den Umstand, dass Wertheimer Ehrenbürger von Braunau war, als Beeinträchtigung für Adolf Hitlers Braunauer Herkunft und Ehrenbürgerschaft ansah. Erst in jüngster Zeit erinnerte sich Braunau an diese große Familie, nachdem die Braunauer Zeitgeschichte-Tage Egon Ranshofen-Wertheimer 2007 eine Tagung gewidmet hatten und im Anschluss daran von der Stadt ein nach ihm benannter Preis vergeben und 2012 auch ein Denkmal für ihn enthüllt wurde.

Der zweite große Innviertler Agrarpionier war Georg Wieninger. Auch er hatte sich auf Studien und Reisen agrarwirtschaftlich aus- und weitergebildet und suchte dieses Wissen nicht nur auf dem eigenen Besitz anzuwenden, sondern auch an die Bevölkerung weiterzugeben. Aber während der jüdisch-liberale Politiker Julius Wertheimer zum Katholizismus konvertiert war und 1917, »versehen mit den Tröstungen der heiligen Religion«, unter großer Anteilnahme der Bevölkerung und der Honoratioren des Landes in Ranshofen bestattet worden war, hatte sich der liberal-katholische Politiker Wieninger immer mehr von seinem Glauben entfernt und war mit der Entscheidung, sich nach dem Tode einäschern zu lassen, auf direkten Konfrontationskurs mit der katholischen Amtskirche und damit auch der damaligen Landespolitik gegangen.

Dass Alois Hitler nach Passau versetzt worden war, machte es ihm leichter möglich, die landwirtschaftlichen Vorträge und Fortbildungsveranstaltungen Wieningers zu besuchen, die dieser auf dem 1887 von seinem Vater übernommenen Musterbetrieb in Otterbach bei Schärding seit 1890 anbot. Hitler mag es interessiert haben, dass Wieninger durch Führung eines größeren Bienenstands, Erweiterung der Bienenweide und entsprechende Obstbaumpflanzungen die Voraussetzungen für die Gründung einer eigenen Innviertler Honigverwertungsgenossenschaft geschaffen hatte. Auch in der Betriebsführung beschritt Wieninger mit Maschinen und Mineraldüngern, mit Kleegrasmischungen und Wiesenmeliorationen, Saatgutverbesserung und Tierzucht, Versicherungswesen und Hauswirtschaft neue Wege und vermittelte Wissen, mit dem Alois Hitler ein paar Jahre später in Hafeld protzen konnte.116

Wieningers agrarwirtschaftliche Verdienste sind bis heute unbestritten. Auf ihn gehen zahlreiche Gründungen zurück, u. a. eine Volkshochschule (1890), eine landwirtschaftliche Frauenschule (1910), eine landwirtschaftlich-chemische Versuchsanstalt (1899), vor allem aber die Erste Zentral-Teebutter-Verkaufsgenossenschaft (1900), heute als Schärdinger Molkereiverband die größte Molkereigenossenschaft Österreichs. Zudem richtete er 1886 ein Privatmuseum zur Naturkunde, Volks- und Völkerkunde sowie Landwirtschaft ein.

Als liberal denkender Gutsbesitzer und Volksbildner war er ständig bestrebt, sein Wissen zu erweitern und weiterzugeben und in regionalen und überregionalen Gremien in diesem Sinne zu wirken, insbesondere als Vizebürgermeister von Schärding und Präsident der oberösterreichischen Landwirtschaftsgesellschaft. Wieninger war antiklerikal und politisch liberal eingestellt, sodass er zwar dem Deutschnationalismus zuneigte, aber eine Kandidatur für die Deutsche Volkspartei dezidiert ablehnte, zu der er von deren Führer Carl Beurle 1906 eingeladen worden war. Denn antisemitisches Denken passte nicht zu seiner weltbürgerlichen Gesinnung. So blieb es nicht aus, dass er sich das kirchliche und das nationale Lager zum Feind machte. Ein Anliegen der christlich-konservativen Landtagsmehrheit in Linz war daher die politische Demontage der von Wieninger geführten Landwirtschaftsgesellschaft, die zugunsten des neu gegründeten Landeskulturrates von den öffentlichen Förderungen abgeschnitten und finanziell ausgehungert wurde. Das ging so weit, dass Wieninger vom Landtag eine Ehrung für seine Verdienste dezidiert verweigert wurde, obwohl sich alle darüber klar waren, wie viel mehr er für die Interessen der Landwirtschaft geleistet hatte als andere damals Geehrte.

 

Als Wieninger im Jahr 1911 mit seinen Unternehmungen unter unglücklichen Umständen Konkurs anmelden musste, half ihm in Oberösterreich niemand. Weil er zwar viel studiert, aber nie eine akademische Ausbildung abgeschlossen hatte, wurde ihm trotz seiner unbestrittenen fachlichen Kompetenz nur eine untergeordnete Stellung im Wiener Ackerbauministerium angeboten, die er mit Lehraufträgen an der Tierärztlichen Hochschule und an der Hochschule für Bodenkultur finanziell aufbessern musste. Nur der großdeutsche, aber nicht deutschnationale Bundespräsident Michael Hainisch hielt ihm die Treue: In seinem Kondolenzschreiben an Wieningers Witwe 1925 steht der ehrenvolle Satz: »Ich habe den Herrn Gemahl stets für einen der wertvollsten Männer in unserem Vaterland gehalten.«

Zur Beisetzung der Urne auf dem Schärdinger Friedhof hatten sich außer den Familienangehörigen und Anverwandten nur einige untergeordnete Vertreter des Ministeriums für soziale Fürsorge, des Landeskulturrates, der von ihm gegründeten Genossenschaften und der Ämter und Behörden eingefunden. Nach dem Musikstück »Über allen Wipfeln ist Ruh‘« und Reden des Bürgermeisters von Schärding und einiger Vereinsvertreter erklang der schottische Bardenchor »Stumm schläft der Sänger«.117 Das katholische Linzer Volksblatt, das Hauptorgan der Partei des Landeshauptmanns und des regierenden christlich-konservativen Volksvereins, widmete dem Verstorbenen nur vier Zeilen.

Alois Hitler erwies sich als ein aufmerksamer Hörer und Schüler Wieningers, nicht nur in der Bienenzucht, in der Tierhaltung und im Ackerbau, sondern auch in den politischen Ansichten und Haltungen. 1890, kurz bevor Alois nach Passau versetzt worden war, hatte Wieninger auf seinem Gutshof in Otterbach eine Bauernhochschule nach dem Muster der dänischen Volkshochschule gegründet. Der Erfolg war riesig. Die ständigen Vorträge begannen im Herbst 1890. Über die Jahre 1893 und 1894, die für Hitler infrage kommen, liegt ein umfassender Bericht vor: Die Themen erstreckten sich von der Gründüngung über Futterbereitung und Pflanzenschutz bis zur Chemie im Haushalt, Erste Hilfeleistung in Krankheitsfällen und zu Grundsätzen der Erziehung. Wieninger hatte auch bienenkundliche Vorträge im Programm, ebenso Obstbaumzucht, Geflügelzucht, Wiesendrainage, Schutzimpfung, Blitzgefahr und Blitzableiter, Behandlung des Getreides vor und nach der Ernte, Versicherungswesen und Bäuerliche Betriebslehre.118 Dass Alois Hitler das alles brav gelernt hatte, geht aus seinen Briefen klar hervor. Ob es auch der Einfluss Wieningers war, dass er sich vom gläubigen Katholiken, zu dem er als Kind zweifellos erzogen worden war, zum kritischen Antiklerikalen und vom aufstiegsorientierten Beamten zum großdeutsch denkenden Kritiker der Habsburgermonarchie gewandelt hatte, darüber kann man nur spekulieren.

Alois Hitler ließ sich von ihren Innovationen inspirieren: die Innviertler Agrarreformer Ferdinand Wertheimer (links) und Georg Wieninger (rechts).

Urfahr, Kaarstraße, um 1910: Am 8. November 1894 übersiedelte die Familie Hitler in das Haus Kaarstraße 27 in Urfahr, das dem jüdischen Unternehmer Leopold Mostny gehörte (Mitte).


Man war deutschnational, trug Gehrock und Zylinder und strotzte vor Selbstbewusstsein: die Gemeindevertretung von Urfahr, um 1905 (unten).

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