Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben – "5:04" – Eine Blau-Weisse Autobiografie

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1991 – Die „Sternenfahrt“ zum Auswärtsspiel nach Mainz.

Da hat es Rudi Assauer wieder einmal gut gemeint und dann geht es voll in die Hose. Warum Rudi den Fans damals versprochen hat, kostenlose Busse zum Achtelfinale im DFB-Pokal nach Bremen einzusetzen, kann ich gar nicht sagen, denn der Schalker Fan-Club Verband hatte nichts damit zu tun. Es war auf jeden Fall ein teures Versprechen, was Rudi da von sich gegeben hat.

Am 30. November 1990 konnte also jeder Schalke-Fan kostenlos mit den bereitgestellten Bussen zum Auswärtsspiel nach Bremen mitfahren. Damals gab es weder Fan-Ordner im Bus, geschweige denn organisierte Reisen mit Mitfahrerlisten, auf denen jeder Teilnehmer registriert war. Nein, es konnte jeder anonym mitfahren. Und was passierte? Wir haben nicht nur das Pokalspiel mit 3:1 verloren, wir haben auch an Ansehen verloren. Kaum ein Rasthof zwischen Gelsenkirchen und Bremen wurde von randalierenden und plündernden Chaoten verschont. Auch die kostenfrei zur Verfügung gestellten Busse mussten daran glauben: aufgeschlitzte Sitze, Brandlöcher im Polster, abgerissene Fenstervorhänge und Aschenbecher sowie zerstörte und restlos überfüllte Toiletten. Viele Busse waren nach dieser Fahrt für mehrere Tage nicht mehr einsatzbereit. Besonders schlimm traf es das Unternehmen Brune Busse aus Gelsenkirchen. Ulrich Brune, Chef der Firma, war so entsetzt und wütend, dass er in der Gelsenkirchener Tageszeitung einen Bericht mit Bildern von seinem zerstörten Bus abdrucken ließ. Die dicke Überschrift lautete: „Nie wieder Schalke-Fans fahren.“ Ich hatte volles Verständnis für all jene, die durch unsere Fans einen Schaden zu beklagen hatten, auch, wenn ich nichts mit der Organisation der Fahrt zu tun hatte. Ich habe Ulrich Brune diese Worte auch in einem persönlichen Brief mitgeteilt.

Schalke ist nach der Niederlage zwar im DFB-Pokal ausgeschieden, trotzdem herrschte große Euphorie. Es sah nämlich verdammt gut aus, dass wir am Ende der Saison endlich wieder erstklassig spielen würden. Auf einem unserer Fan-Treffen im März 1991 verlangte Rudi Assauer von uns Fans, dass wir auch in den letzten Spielen die Mannschaft voll und ganz unterstützen müssten. Ich nutzte die Gunst der Stunde und habe Rudi vorgeschlagen, dass die Mitglieder des Fan-Club Verbandes zu einem Auswärtsspiel fahren und als 12. Mann hinter der Mannschaft stehen. Allerdings müsse der Verein die Busse bezahlen. Rudis Blick sagte alles, ihm ist fast die Zigarre aus dem Mund gefallen und er zeigte mir den Vogel. Er erinnerte mich noch einmal an die Fahrt zum Pokalspiel nach Bremen und wie viel der Verein hinterher an Schäden bezahlen musste. Aber ich ließ nicht locker und brachte das Argument, dass es sich bei der Fahrt nach Bremen um eine unorganisierte Fahrt handelte. Würde der Schalker Fan-Club Verband die Fahrt organisieren und betreuen, wäre das anders und besser. Rudi traute mir noch nicht ganz, aber ich ließ nicht locker. »Für jeden Bezirk einen Bus und ich verspreche dir, du wirst nach der Fahrt kein Ärger haben«, sagte ich ihm. Zu meiner Freude stimmte Rudi dem zu, aber nicht, ohne mir noch eine letzte Warnung mitzugeben. »Na gut, Alter, dann hast du jetzt die Verantwortung für 16 Busse, die wir bezahlen. Aber wehe dir, es kommen danach Beschwerden, dann trete ich dir persönlich in den Arsch.«

Ein paar Tage später schaute mir den Spielplan an und es gab eigentlich nur ein Spiel, das infrage käme, das Spiel in Mainz. Nachdem ich Rudi die Kosten für die Busse mitgeteilt hatte, kam von ihm das OK und ich konnte mit der Planung für die „Sternenfahrt“ beginnen. Wir nannten diese Fahrt Sternenfahrt, da aus allen Himmelsrichtungen Deutschlands ein Bus nach Mainz rollte.

Die 16 Busse verteilte ich auf die 16 Bezirke im Fan-Club Verband. Nicht jeder Bezirk wollte zu diesem Spiel einen Bus organisieren, sodass die Fans und Mitglieder in Gelsenkirchen mit mehreren Bussen planen konnten. Die Plätze in den Bussen waren schnell vergeben, allerdings musste sich jeder Teilnehmer vorab schriftlich mit seiner privaten Anschrift anmelden. Wir setzten in jedem Bus zwei verantwortliche als Fan-Ordner ein, die neben einer Mitfahrerliste und Musikkassetten auch ein Busschild mit der Bus-Nummer sowie die Anfahrt zum Stadion-Parkplatz und ein Merkblatt mit Verhaltensregeln im Bus, an Rasthöfen und im Stadion bei sich hatten. Natürlich habe ich die Sternenfahrt mit der Polizei abgesprochen und nach Rücksprache mit der Polizei Mainz wurde uns angeboten, dass jeder vom Fan-Club Verband gekennzeichnete Bus von einem Polizei-Kradfahrer an der Autobahn Ausfahrt in Empfang genommen und ohne weitere Kontrollen zum Stadion-Busparkplatz gebracht wird. Dieses Angebot haben wir selbstverständlich angenommen. Ohne Kontrollen und ohne Stau von der Autobahn bis auf den Parkplatz? Etwas Besseres hätte uns gar nicht passieren können!

Der 25. Mai kam und die 16 Busse machten sich auf den Weg nach Mainz. Verständlicherweise war ich der Erste, der auf dem Parkplatz in Mainz auf die Busse wartete. Nach und nach trudelten unsere Busse ein. Die Fan-Ordner kamen zu mir und gaben einen Stimmungsbericht aus dem Bus. Überall folgte die gleiche Rückmeldung: gute Stimmung, keine Zwischenfälle im Bus oder an Rasthöfen und eine gelungene Abholung durch die Polizei an der Autobahnabfahrt. Alle waren zufrieden und stolz nahm ich die Berichte entgegen.

Das Spiel in Mainz endete 1:1 durch ein Tor von Ingo Anderbrügge (83.), aber es reichte trotzdem für den vorzeitigen Aufstieg in die 1. Bundesliga. Mit großem Jubel und viel Alkohol ging es für die 16 Busse wieder nach Hause, und zwar ohne Zwischenfälle.

Am darauffolgenden Montag stand ich schon früh morgens bei Rudi auf der Matte und überbrachte ihm die frohe Botschaft, dass die vom Schalker Fan-Club Verband organisierten 16 Busse ohne Zwischenfälle und ohne Schäden die Fahrt nach Mainz überstanden haben. Rudi guckte nur kurz von seinem Schreibtisch auf und meinte: »Ich habe auch nichts anderes erwartet.«

Auf dieser Fahrt waren auch zwei Busse von Ulrich Brune dabei. Auch er war sehr froh, dass ich mein Wort hielt und er seine Busse unbeschädigt zurückbekam. Nach dieser Sternenfahrt haben wir vom Schalker Fan-Club Verband zu jedem Auswärtsspiel von Schalke Fan-Busse mit Fan-Ordnern eingesetzt. Markus Brune, der später den Betrieb seines Vaters übernahm, wurde sogar zu einem wichtigen Partner im Fan-Club Verband. Mit Markus sind wir viele Jahre zuverlässig und sicher zu allen Auswärtsspielen des FC Schalke 04 gefahren. Unvergessen bleiben auch die Fahrten zu den internationalen Spielen. Denn zu jedem Ort, der mit dem Bus zu erreichen war, wurde von uns ein Bus eingesetzt. Auch wenn der Schalker Fan-Club Verband die Partnerschaft mittlerweile beendet hat, der legendäre „Bosch-Bus“ kommt immer noch von Brune Busse.

»Auffällig ist, dass Menschen, die alles besser wissen, nie etwas besser machen.«

1991 – Der erste Sonderzug nach Nürnberg.

Ich war damals noch „jung“ und gerade erst 38 Jahre (geworden). Ich hatte eine tolle Familie und einen Job, der mir finanzielle Unabhängigkeit bescherte und mir Spaß machte. Eigentlich könnte man zufrieden sein. Eigentlich. Nicht aber, wenn man immer neue Herausforderungen sucht, so wie ich.

Seit 1984 gehörte ich dem Vorstand des Schalker Fan-Club-Verbandes an und konnte in meiner Amtszeit schon viel bewegen. Ich erlaubte mir den Luxus, jedes Wochenende unsere Fan-Clubs in ganz Deutschland und auch über die Landesgrenzen hinaus zu besuchen. Klar, so kam ich viel herum, aber das Familienleben musste zwangsläufig in den Hintergrund treten.

Auf den damaligen Versammlungen gab es nicht so viele Probleme wie heute. Es wurde oft nur diskutiert, wie der Verein die Mitglieder und Fan-Clubs besser unterstützen könnte. Probleme mit Preisen und Zuteilungen wie heute bei den Eintrittskarten für Heim- und Auswärtsspiele waren damals kein Thema, vielmehr interessierten sich unsere Fan-Clubs für die „Chaoten“ auf Schalke. Die Frage, warum einige „Chaoten“ jeden Spieltag den Namen des FC Schalke 04, und damit auch die ordentlichen Mitglieder, durch Vandalismus und Schlägereien in die Kritik brachten, war häufig ein Thema auf den Versammlungen. Schon damals wie auch heute habe ich immer versucht zu erklären, dass nicht jeder Fan, der ein Trikot und Schal trägt, auch ein Chaot ist. Und an dem Thema ist gut zu erkennen, wie sich die Zeiten und Wichtigkeiten bei den Fan-Clubs geändert haben. Damals waren etwa 123 Fan-Clubs mit 6.000 Fans im Verband registriert.


Es war Ende Mai im Jahr 1991, als ich auf der Rückfahrt von einer Fan-Club Versammlung, auf dem die „Chaoten“ wieder einmal Thema waren, im Auto mit dem damaligen Pressewart des Fan-Club Verbandes, Dietmar Biedermann, über die Anreise der Fans zu den Auswärtsspielen diskutierte. »Warum gibt es eigentlich keine Sonderzüge mehr?«, fragte mich Dietmar. Stimmt eigentlich, dachte ich. Immerhin hat der Fan-Club Verband auf der sogenannten „Sternenfahrt“ gerade erst erfolgreich Fans in 16 Bussen aus allen Ecken Deutschlands zum Auswärtsspiel nach Mainz gebracht. Es gab keine Randale, keine Schlägereien, sondern nur Lob. »Warum sollte eine organisierte Auswärtsfahrt nicht auch im Sonderzug funktionieren?«, fragte Dietmar. Er hatte recht. Warum eigentlich nicht.

Ich rief also am nächsten Tag direkt bei der Bundesbahn in Münster an. Und die haben wohl gedacht, dass ein Idiot anruft. Immerhin war klar, dass die Bundesbahn seit Jahren keine Sonderzüge mehr zu Fußballspielen einsetzte. Denn fast kein Zug schaffte es nach diesen Fahrten ohne größere Schäden in seinen Heimatbahnhof zurück. Und jetzt ruft einer an und will einen Sonderzug machen?

 

Ich weiß nicht, wie oft ich am Telefon weitergeleitet wurde und immer wieder von vorne erzählen musste. Und ich erreichte an diesem Tag auch erst einmal nichts. Doch wer mich kennt, weiß, dass spätestens jetzt mein Ehrgeiz geweckt war. Warum kein Sonderzug? Der letzte Beamte am Hörer gab mir den Rat, den neuen Spielplan abzuwarten, der in den nächsten Tagen veröffentlicht wird. Danach sollte ich mir erst einmal Gedanken machen, zu welchem Spiel ich einen Sonderzug einsetzen will, von welchem Bahnhof dieser abfahren und an welchen Stationen der Zug halten soll. Sofern der Zug ab Osnabrück starten soll, müsste ich mich an die Kollegen vor Ort wenden, so die Aussage des Bahnbeamten.

Zwei Wochen später fuhr ich mit dem Spielplan in der Hand zur Hauptverwaltung der Deutschen Bahn nach Osnabrück. Für mich kamen eigentlich nur zwei Spiele infrage – nach München oder Nürnberg. München hatte sich allerdings sofort erledigt, das Spiel fand an einem Dienstag statt. Also blieb nur noch die Fahrt zu unseren Freunden nach Nürnberg. Das Spiel war auf den 14. Dezember 1991 terminiert. Das machte mich ein wenig unruhig. Wie wird das Wetter am 14. Dezember sein? Können Schnee, Frost und Regen vielleicht zu einer Spielabsage führen – was mache ich dann? Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch kam ich in Osnabrück bei der Zentrale der Bundesbahn an.

Ich betrat ein Büro, in dem bereits sechs Beamte der Deutschen Bahn saßen und auf mich warteten. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde ging es los: Alle redeten laut und wild auf mich ein. Es wurden mir die schlimmsten Szenarien um die Ohren gehauen. Mir wurde gesagt, was alles passieren kann, wie hoch die eventuellen Schäden liegen, für die ich aufkommen müsste und wie pleite ich danach wäre. Schließlich hatten alle ausreichend Erfahrung mit Sonderzügen. Eigentlich fehlte im Raum nur noch ein Psychologe, der bescheinigte, dass ich mit meiner Idee ein bisschen „Balla Balla“ sein muss. Nachdem alle auf mich eingedroschen hatten, herrschte Stille und alle Anwesenden dachten wohl, ich würde kleinlaut meine Idee verwerfen. Aber genau dann, wenn jemand meint oder zu mir sagt, das schaffst du nicht, dann will ich es schaffen! Daher unterbrach ich die Stille mit meiner Frage. »Was kostet jetzt der Sonderzug?«

Ja, ich habe es geschafft, dem Druck standzuhalten und die Beamten der Bahn davon zu überzeugen, mir einen Zug zur Verfügung zu stellen. Den Sonderzug würde ich nach dem gleichen Konzept, wie die 16 Busse nach Mainz, nach Nürnberg und wieder zurückbringen – ohne Schäden. Wenn auch nicht gerne, erfuhr ich die Konditionen für meinen Sonderzug: 13 Waggons + 2 Sambawagen als Schnäppchenpreis für 64.000 DM.

Noch nachdenklicher als schon auf der Hinfahrt, fuhr ich zurück nach Hause. Mir gingen wieder einmal 1904 Gedanken durch den Kopf. 64.000 DM, das ist verdammt viel Geld. Aber ich war fest überzeugt, dass der Sonderzug voll wird. Ein kleines Problem beschäftigte mich trotzdem noch: die Haftung. Diese wollte ich nicht dem Schalker Fan-Club Verband übertragen, sodass ich den Sonderzug als Privatmann chartern müsste und damit auch persönlich für die 64.000 DM und alle Schäden haften würde. Und das wäre es dann mit meiner sicheren Existenz gewesen. Was sollte ich nun machen? Wahrscheinlich würden die meisten vernünftigen Menschen die Sache abblasen. Aber wenn ich mir einmal etwas in den Kopf gesetzt habe, will ich es auch umsetzen. Und ich wollte einen Sonderzug starten. Ich brauche euch nicht zu sagen, wie ich mich entschieden habe, denn viele von euch waren in diesem Sonderzug nach Nürnberg dabei …

Einen Tag nach dem Gespräch in Osnabrück informierte ich die Bahn, dass der Vertrag aufgesetzt werden kann. Für mich begann die Organisation: Wie hoch muss der Fahrpreis sein? Wo soll der Zug halten? Wer sorgt für Sicherheit und Ordnung im Zug? Wer kontrolliert die Fahrkarten? Wo finde ich einen DJ für die Sambawagen? Wer übernimmt die Bewirtung? Und wie komme ich an Eintrittskarten? Fragen über Fragen, auf die ich (noch) keine Antwort hatte. Nein, bisher hatte ich nur einen Zug, die persönliche Haftung, meine Frau, meine Kinder und einen Haufen Selbstvertrauen.

Nachdem die Planung weiter voranschritt, erhielt ich von der Bundesbahn den vorläufigen Fahrplan. Der Sonderzug sollte um 4:30 Uhr in Osnabrück starten. Weitere Haltestellen waren die Bahnhöfe in Münster, Gelsenkirchen, Oberhausen, Duisburg, Düsseldorf, Köln, Bonn und Frankfurt.

Damals war die Bewerbung für Auswärtsfahrten nicht so einfach wie heute. Internet mit Facebook, Twitter und Co. oder Nachrichten über WhatsApp gab es noch nicht. Briefe wurden auf den ersten Computern oder der Schreibmaschine getippt, kopiert und mit der Post verschickt. Ich habe ein Anmeldeformular mit Reisebedingungen erstellt, um mich wenigstens ein bisschen abzusichern und den Mitfahrern zu zeigen, dass auch sie Verantwortung mit ihrem Verhalten im Zug tragen. Sagen wir mal so: Nach den heutigen rechtlichen Bestimmungen hätte mich damals wohl jeder verklagen können.

Jetzt musste ich noch das Problem mit den Eintrittskarten lösen. Damals durften Eintrittskarten für die Auswärtsspiele des FC Schalke 04 nur über Pele Novak in seinem berühmten Lotto-Laden verkauft werden. Genau da habe ich auch immer alle Auswärtskarten für den Schalker Fan-Club Verband geholt. Für jede Stehplatzkarte musste eine Vorverkaufsgebühr von 1 DM gezahlt werden, für jede Sitzplatzkarte waren es 2 DM. Aber das war mir egal, ich war froh, dass ich die fast 900 Eintrittskarten für Mitfahrer und Helfer bekommen habe. Im Sonderzug gab es insgesamt 844 Sitzplätze. Die Verteilung war für mich ganz einfach, ich machte meine Gudrun dafür verantwortlich.

Ich muss zugeben, in den Wochen und Tagen vor der Fahrt habe ich oft schlecht geschlafen. Mir war bewusst, dass ich jeden freien Platz im Zug aus meiner Tasche bezahlen musste. Über eventuelle Schäden, die passieren könnten, machte ich mir weniger Sorgen. Und dass, obwohl mir jeder, dem ich voller Stolz von meinem Sonderzug erzählte, den Vogel zeigte. Ich gab den damaligen Bezirksleitern des Fan-Club Verbandes das Vorkaufsrecht für einen ganzen Waggon, es konnten also 77 Plätze in jedem Bezirks-Waggon vergeben werden. Jeder Bezirksleiter durfte kostenlos mitfahren, musste dafür aber auch in seinem Waggon für Ruhe und Ordnung sorgen.

Zu der Zeit des Sonderzuges war ich noch bei der Versicherung tätig und führte eine sehr gutgehende Agentur. Und wie das früher so war, wurde guten Versicherungsvertretern das Geld hinterhergeschmissen. Es gab zahlreiche Wettbewerbe mit teuren Preisen als Gewinn und ich sahnte dabei ab: Christmas Shopping in New York für zwei Personen mit Flug, Unterkunft im 5-Sterne Hotel plus 1.000 DM Taschengeld. Fast jeder hätte sich darüber gefreut, ich eher weniger. Denn die Fahrt mit dem Sonderzug nach Nürnberg war genau an dem Wochenende, an dem auch die Reise nach New York stattfinden sollte.… Also versuchte ich die Reise zu einem Schnäppchenpreis zu verkaufen. Das war aber gar nicht so einfach, denn alle, die ich kannte, haben sich für den Sonderzug nach Nürnberg angemeldet oder aber, sie hatten kein Geld. So kam es, dass ich meine ältere Schwester Renate schon fast nötigen musste, nach New York zu fliegen. Ich habe ihr die Reise geschenkt, auch wenn sie selbst lieber im Zug mit nach Nürnberg gefahren wäre. Aber um ehrlich zu sein: Die 1.000 DM Taschengeld habe ich meiner Schwester nicht gegeben, das Geld habe ich lieber in die Organisation des Zuges gesteckt.

Zu Beginn der Bundesligasaison war der Sonderzug zu etwa 60 % ausgelastet. Unser Pressesprecher Dietmar Biedermann und ich nahmen Kontakt mit dem Fankoordinator aus Nürnberg auf, damals war Klaus Spilgert für den Club verantwortlich. Klaus war von dem Sonderzug begeistert und versprach mir einen riesigen Empfang, den ich so schnell nicht vergessen würde. Er sollte nicht übertrieben haben, was ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht wissen konnte …

Wir luden für den Sonderzug auch ein paar offizielle Gäste ein. Der damalige S04-Präsident Günter Eichberg sagte die Fahrt zu und auch Erwin Weiss wollte mitfahren und für Stimmung sorgen. Von nun an riefen täglich irgendwelche Pressevertreter bei mir an, die über den Sonderzug und die Fan-Freundschaft zwischen Schalke und Nürnberg berichteten. Viele dieser Leute wollten sogar im Zug mitfahren, aber nur wenn es im Zug auch einen Sitzplatz gibt, natürlich kostenfrei.

Gegen Ende September war die Fahrt schon zu 80 % ausverkauft und es kamen täglich neue Anmeldungen hinzu. Vieles Anmeldungen gingen per Fax ein, oft jedoch unlesbar. Daher wurde unheimlich viel nachtelefoniert und recherchiert. Aber meine Gudrun schaffte es, jede Bestellung zu bearbeiten und jeden Teilnehmer im richtigen Waggon zu platzieren. Im Oktober war der Sonderzug nach Nürnberg eigentlich ausverkauft. Ich rief bei der Bahn in Osnabrück an, berichtete über den Stand der Dinge und fragte nach, ob noch ein oder zwei weitere Waggons an meinen Sonderzug gehängt werden können. Aus Sicherheitsgründen konnte ich leider nur noch ein Waggon bekommen, den ich dankbar annahm. Die 77 freien Plätze waren für die berühmten „Sonderfälle“, die immer und überall auftauchen.

Ab jetzt tauschte ich mich fast täglich mit Klaus Spilgert aus Nürnberg aus. Wir besprachen den Zeitplan für die Ankunft des Sonderzuges in Nürnberg und das weitere Programm vor Ort. Die Freude war groß, dass durch den Sonderzug die Fan-Freundschaft zwischen Schalke und dem Club wieder ein bisschen zum Leben erweckt wurde. Bei einem unserer Telefonate kamen wir auch auf die Idee, dass die mitfahrenden Schalke-Fans und Fan-Clubs von den Nürnbergern am Bahnhof in Empfang genommen werden könnten. Somit würde einer gemeinsamen Fan-Fete bis zur Rückfahrt des Sonderzuges nichts im Wege stehen. Wir dachten an eine Art Patenschaft und noch heute gibt es Fan-Clubs, die diese Patenschaft leben.

Über den damaligen Leiter des Schalker Fan-Projektes Michael Kissen besorgte ich mir Ordnungspersonal, dass keinem Fan-Club angehörte, sondern im Fan-Projekt engagiert war. Sicher ist sicher, dachte ich.

Die letzte Woche vor dem Spiel in Nürnberg begann und es waren noch etwa 60 freie und unbezahlte Plätze im Zug. Das hört sich viel an, aber ich denke, heute ist es nicht anders. Jeder wird verstehen, dass für mich zu diesem Zeitpunkt nichts mehr wichtig war, weder mein Chef noch meine Versicherungsagentur samt Kunden geschweige denn irgendwelche Arzttermine oder Familientreffen – für mich gab es nur noch den Sonderzug.

Klaus Spilgert aus Nürnberg informierte mich, dass die Nürnberger Polizei eigenständig entschieden hat, den Sonderzug am Nürnberger Hauptbahnhof halten zu lassen, die Endstation jedoch der Bahnhof Nürnberg-Dutzendteich sei. Von da aus könnten alle Fans zu Fuß ins Stadion gehen. Klaus sagte mir, dass er mich und die Paten-Fan-Clubs mit einer großen Delegation am Zug abholen will. Mit einer Blaskapelle würden wir gemeinsam ins Stadion einmarschieren und dort mit unseren Fahnen eine Ehrenrunde drehen. Im Anschluss sollte es auf dem Platz ein Penaltyschießen zwischen beiden Fan-Verbänden geben. Insgesamt haben sich 25 Fan-Clubs für die Patenschaft angemeldet.

Die Zeit bis zum Spiel in Nürnberg verflog. Unser Haus in Saerbeck war eigentlich nicht mehr bewohnbar, da meine Gudrun alle Bestellungen für den Sonderzug nach Abteilen auf dem Boden sortiert hat. Sie versuchte so, die entsprechenden Eintrittskarten zuzuordnen. Heute würde die Zuteilung wahrscheinlich in wenigen Sekunden über eine Software laufen. Damals hatten wir aber keinen Computer, geschweige denn eine Software. Alles lief von Hand, vom Rechnung schreiben über die Zuteilung des Sitzplatzes im Zug bis hin zur Eintrittskartenverteilung. Und das bei über 900 Bestellungen. Nachtschichten und Wochenendarbeiten waren daher vorprogrammiert.

Und es gab da auch noch ein paar Probleme zu lösen: Da ich mir fest vorgenommen hatte, den Fan-Club Verband nicht der Gefahr einer Pleite auszusetzen, habe ich alle Buchungen über unser damaliges Sporthauskonto abgewickelt. Unsere Steuerberaterin schlug die Hände über den Kopf zusammen, wie konnte ich nur so einen Blödsinn machen. Tja, so ist es wohl oft im Leben – wer etwas besonders gut machen will, macht es meist verkehrt: Nachdem ich den Zug mit der Deutschen Bahn abgerechnet und den Gewinn an den Fan-Club Verband gegeben habe, kam ein Jahr später natürlich das Finanzamt zu mir und wollte die Mehrwertsteuer von mir haben. Ein anderes Problem waren die Eintrittskarten. Die Tickets wurden bewusst nicht mit der Post verschickt, da es zu unsicher war. Denn jede nicht angekommene Karte würde zu einer Endlosdiskussion führen. Daher sollten die Karten direkt im Zug ausgegeben werden. Ich weiß nicht, wie meine Gudrun es hinbekommen hat, aber drei Tage vor Abfahrt waren alle Plätze verkauft, bezahlt und die Eintrittskarten zugeteilt. Mit einem Koffer voller Geld fuhr ich nach Osnabrück und bezahlte den Zug. Für mich war jetzt nur noch wichtig, dass es endlich losgeht.

 

Ihr könnt euch vorstellen, dass unser Telefon die letzten zwei Tage vor der Abfahrt nicht mehr stillstand. Bis spät in die Nacht klingelte es und Fragen wie wann hält der Zug hier, wann ist der Zug da und wann bekomme ich die Eintrittskarte wurden beantwortet. Den Mittwoch vor der Fahrt ging ich mittlerweile sichtlich genervt ans Telefon. Aber zu meiner Überraschung war kein fragender Fan am anderen Ende der Leitung, sondern Schalke 04. Dr. Wehrmann rief an, um mir mitzuteilen, dass Günter Eichberg nicht mitfahren kann. Dafür würde aber Herbert Burdenski mitkommen. Ehrlich gesagt, war mir das jetzt egal. Natürlich wäre es schön, wenn der Schalke-Präsident im Zug sitzt. Ich hatte aber andere Sorgen als einen Promi im Zug. Doch Dr. Wehrmann hatte noch eine weitere und sehr wichtige Information für mich.

Er sagte mir, dass in der Nacht aus Versehen die Sprinkleranlage im Nürnberger Stadion angegangen sei. Eine dicke Eisschicht bedeckt nun den Rasen und es sei noch nicht sicher, ob das Spiel überhaupt stattfinden kann. Mir stockte der Atem. Was hat der Geschäftsführer von Schalke 04 da gerade gesagt? Das Spiel ist gefährdet? Ich musste mich sofort setzen und der Angstschweiß stand auf meiner Stirn. Dr. Wehrmann erzählte weiter, dass am morgigen Donnerstag um 10:00 Uhr eine Platzkommission vom DFB die Sache begutachten und eine Entscheidung treffen würde. Sobald er weitere Informationen vom DFB hätte, würde er sich bei mir melden. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie die Nacht für mich war. Im Geiste sah ich mich mit meiner Familie und meinem letzten Hab und Gut unter einer Brücke liegen, weil wir alles verloren haben. Ich haftete für den entstandenen Schaden! Also sah ich mich vor Gericht stehen und der Richter verdonnerte mich im Minutentakt zum Schadensersatz für fast 1.000 Fans, weil mich alle verklagten. Die Nacht war endlos lang und ich machte kein Auge zu.

Es war Donnerstag 10:00 Uhr und ich saß übernervös vor dem Telefon. Es bimmelt bald jede Minute und nie war Dr. Wehrmann am anderen Ende der Leitung. Daher wimmelte ich jeden Anrufer ab und sagt, dass ich mich später melden wurden. Es war schon 11:00 Uhr und noch immer kein Anruf von Dr. Wehrmann. Einfach im Internet nachgucken was der DFB in Nürnberg entschieden hat war damals leider nicht möglich. Ich konnte also nur warten und bibbern, bis um 12:00 Uhr endlich der Anruf kam, das Spiel findet statt.

Es war Freitag. Nur noch ein Tag und der Zug startet. Schon am frühen Morgen erstellte ich eine Liste, was ich noch alles erledigen wollte, und das war einiges. Im Zug durchgehen und in jedem Abteil Reisebedingungen auslegen. Mit jedem Bezirksleiter, der eine Patenschaft für einen Waggon übernommen hat, die letzten Informationen austauschen. Die letzten Anweisungen für die Fan-Ordner erstellen. In beiden Sambawaggons die Warenbestellung überprüfen. Mit den DJs den genauen Ablauf und die Musik absprechen. Die Ansagen für die Bahnhöfe aufschreiben und weitergeben. Und vieles mehr. Meine To-Do-Liste wurde immer länger. Irgendwann kam meine Gudrun zu mir an den Frühstückstisch und wir gingen gemeinsam alles durch.

An diesem Freitag musste ich dummerweise noch zu der Weihnachtsfeier der Bezirksdirektion meiner Versicherung in Bremen. Ich weiß nicht, was mich geritten hat, in der Nacht vor der Abfahrt unseres Sonderzuges zu einer Weihnachtsfeier nach Bremen zu fahren. Aber versprochen ist versprochen. Während ich beim Frühstück abwechselnd telefonierte, Notizen machte und ins Brötchen biss, vertiefte sich meine Gudrun in die Bild-Zeitung. So ganz nebenbei fragte sie mich: »Sag mal, wenn im Zug irgendetwas passiert, wer haftet eigentlich dafür? Der Fan-Club Verband?« Ich druckste ein wenig herum »Ja, so ungefähr«, nuschelte ich. »Das ist aber komisch«, sagte sie. »hier in der Bild-Zeitung steht, dass ein verrückter Schalke-Fan aus dem Münsterland als Privatperson einen Sonderzug nach Nürnberg angemietet hat.« Und meine Gudrun schaute mich so an, so wie Frauen einen Mann anschauen, um ihn in die Enge zu treiben. Ich wusste, aus der Nummer komme ich nicht wieder heraus. »Ja, mein Schatz, aber du weißt doch, wir Schalke-Fans sind die Besten und ich habe volles Vertrauen in die Fan-Clubs und in meine Mitarbeiter. Vertrau mir, wir schaffen das schon«, sagte ich ganz lieb zu ihr. Ich weiß bis heute nicht, ob sie mir das geglaubt hat. Aber sie sagte kein weiteres Wort mehr dazu, weder im Bösen noch im Guten, sie nahm es einfach zur Kenntnis.

Oh ja, mein Sonderzug nach Nürnberg war wieder einmal eine riskante Sache. Schließlich könnte auch alles in die Hose gehen und meine Familie müsste wie in meinem schlimmsten Traum unter der Brücke schlafen. Aber ich war fest davon überzeugt, dass die Mitglieder des Fan-Club Verbandes keine Chaoten und Randalierer sind. Und ich Doofmann bin dann wirklich am Freitag, einen Tag vor Abfahrt des Sonderzuges nach Nürnberg, die rund 180 km nach Bremen zur Weihnachtsfeier gefahren. Um 23:00 Uhr seilte ich mich ab und fuhrt zurück, sodass ich gegen 1:00 Uhr nachts wieder in Saerbeck war.

Dort wartete auch schon ungeduldig meine Familie auf mich, Gudrun und die Kinder, alle in blau und weiß gekleidet. Während ich mich umzog, teilte mir Gudrun den neusten Stand mit: Erwin Weiss sagte die Fahrt ab, etwa 20 Fans haben die Fahrt storniert, würden aber eine Ersatzperson schicken. Ich war müde und kaputt, und ehrlich gesagt interessierte mich das alles nicht mehr. Ich wollte nur noch eins, das der Zug endlich rollt. Also gab es schnell noch einen Kaffee gegen die Müdigkeit und dann ging es los zum Auto. Die anderen Mitfahrer aus Saerbeck warteten schon und gemeinsam fuhren wir im Konvoi die 40 km zum Osnabrücker Hauptbahnhof.

Auf der einen Seite hatte ich ein riesiges Glücksgefühl im Kopf und war stolz darauf, dass ich es geschafft habe, einen Sonderzug nach Nürnberg einzusetzen. Auf der anderen Seite hatte ich riesige Bauchschmerzen, denn ich machte mir jetzt doch ein paar Sorgen, was alles im Zug passieren könnte. Ich sah die Bilder von zerstörten Bussen vor den Augen, mir gingen Zeitungsberichte von randalierenden Fans in Zügen durch den Kopf und ich dachte an meine Familie. Wird alles gut gehen?

Die nächtliche Fahrt zum Osnabrücker Hauptbahnhof wurde immer wieder durch lautes Hupen unterbrochen. Auf der Autobahn waren unzählig viele Schalker unterwegs, die alle eins wollten: mit dem Sonderzug nach Nürnberg. Ich hatte das Gefühl, als würden alle 900 Mitfahrer in Osnabrück zusteigen. Dabei waren es laut der Anmeldeliste nur knapp 150 Fans, die am Abfahrtbahnhof einsteigen würden.

Die letzten 100 m bis zum Bahnhof waren schaurig schön, denn schon vom weiten hörten wir immer wieder das lang gezogene „Schaaaaalke, Schaaaaaaalke“ durch den Bahnhof hallen. Es war erst kurz nach 2:00 Uhr in der Nacht, aber es standen schon fast 100 Schalker singend in der kalten Bahnhofshalle, die uns lautstark empfingen. Nach der Begrüßung der Fans ging ich zu den ungefähr 20 anwesenden Bahnpolizisten, die uns im sicheren Abstand beobachteten. Ich stellte mich vor und erklärte ihnen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. »Wir sind Schalker und keine Chaoten«, sagte ich.

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