Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben – "5:04" – Eine Blau-Weisse Autobiografie

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Schon nach wenigen Tagen hatte ich von allen Gläubigern die schriftliche Zusage. Auch mein Chef bekam von beiden Banken die Zusage, dass nichts weiter gegen mich unternommen würde. Während mein Arbeitgeber auch einem Zinsstillstand zustimmte, hat die Hausbank weiter ordentlich Zinsen berechnet. Das war mir aber erst einmal egal, jetzt hatte ich die Ruhe, die ich brauchte, um richtig zu arbeiten.

Jeder Gläubiger wurde am Monatsende mit einem kleinen Betrag vorerst zufrieden gestellt. Wenn ich einen guten Monat hatte, habe ich ein bisschen mehr Geld in die Hand genommen und bin zu einem kleineren Gläubiger gegangen und habe ihm angeboten anstatt einer monatlichen kleinen Rate jetzt sofort ein Drittel der Schuldsumme zu bezahlen und den Restbetrag zu vergessen. Fast alle Handwerker ließen sich auf diesen Deal ein, auch wenn ich manchmal noch etwas nachlegen musste. Aber innerhalb von zwei Jahren habe ich alle Handwerker in Saerbeck bezahlt, bereits zwei Jahre später die Leasing-Bank und Quelle. Nun blieben nur noch die beiden großen Banken über. Nach über fünf Jahren kam ich auch mit unserer Hausbank zu einem Vergleich und da meine Versicherungsbank auf den größten Teil der Hypothek verzichtete, war ich endlich wieder schuldenfrei.

Oh ja, das war eine ganz, ganz harte Zeit und ich bin froh und dankbar, dass mir unser damaliger Rechtsanwalt als unser Freund und Berater zur Seite stand. Und auch, dass mein Arbeitgeber mir für meinen Einsatz und meine Loyalität zur Firma, unheimlich entgegengekommen ist. Ohne die Unterstützung der beiden wäre die Sache vielleicht ganz anders ausgegangen.

Ich ärgere mich heute nicht darüber, dass ich damals so viel Geld verloren habe. Nein, ich bin eher stolz, dass ich fast 1 Million DM Schulden abgearbeitet habe und kein Gläubiger auf der Strecke geblieben ist. Das war fast so wie im Fußball, als die Bayern am letzten Spieltag der Saison 2000/01 nach Hamburg mussten: In der 90. Minute machte Sergej Barbarez das 1:0 für die Hamburger und Schalke 04 war eigentlich Deutscher Meister. Eigentlich. Die Bayern Spieler lagen zerstört am Boden und nur Olli Kahn rannte zu seinen Kameraden und furzte sie an. Weiter, weiter, immer weiter! Und in der 94. Minute machten die Bayern das nicht mehr für möglich gehaltene 1:1 und wurden deutscher Fußballmeister.

Ein bitterer Tag auf Schalke …

»Weiter, immer weiter!«

(Oliver Kahn)

1984 – Zu Besuch bei Olaf Thon.

Die Bayern kommen! Am 27. Oktober 1984, es war der 10. Spieltag, waren die Bayern wieder zu Gast im Parkstadion in Gelsenkirchen. Nein, wir haben das Spiel nicht wie so oft gegen die Bayern verloren, aber wir haben auch nicht gewonnen. In der 31. Minute brachte Klaus Augenthaler die Bayern mit 1:0 in Führung, aber in der 79. Minute konnte Bernhard Dietz den Ausgleich zum 1:1 Endstand erzielen.

Ich hatte wie zu jedem Heimspiel für unsere Mitglieder einen Bus von Saerbeck nach Gelsenkirchen organisiert. Klar, gegen Bayern einen Bus voll zu bekommen war wirklich keine Kunst. Denn so wie heute, waren auch früher die Spiele gegen die Lederhosen immer ausverkauft. Und weil die Nachfrage zu diesem Spiel so groß war, habe ich einen alten Gelenkbus für über 70 Personen organisiert: Keine Toilette, keine Klimaanlage, keinen Luxus, dafür aber viele Plätze für wenig Geld.

Normalerweise braucht ein Bus für die 104 Kilometer von unserem Vereinslokal „Dorfkrug“ in Saerbeck bis zum Busparkplatz am Parkstadion, wenn es alles gut läuft, etwa anderthalb Stunden. An diesem Tag haben wir mehr als zwei Stunden benötigt, da wir vier Pinkelpausen einlegen mussten. Und jeder, der zum Fußball fährt, weiß was das bedeutet. 70 feiernde Fußballfans nach jeder Pinkelpause wieder in den Bus zu bekommen, das ist ein Akt.

Wir sind damals immer über die A52 bei Marl nach Gelsenkirchen gefahren, da wir von hier aus besser zur Braukämperstraße 79 kamen. Genau, mein altes Zuhause, hier wohnten meine Eltern. Mutti und Vati haben während wir auf Schalke waren, auf unsere beiden kleinen Töchter Susi (7) und Melanie (4) aufgepasst. Thomas, unser Ältester, war schon immer mit im Stadion. An normalen Spieltagen lief es meist wie folgt ab: Opa Franz stand schon immer wartend auf der Straße. Der Bus rollte langsam an, hielt und öffnete die Tür. Ich stieg aus und hatte Susi und Melanie an der Hand. Ein kurzes »Hallo« zum Vater, anschließend habe ich ihm schnell eine Tasche mit all den wichtigen Dingen, die man als „Babysitter“ benötigt, übergeben, bin wieder eingestiegen und Abfahrt. Wenn die Formel 1 heute einen Reifenwechsel in 2,8 Sekunden schafft, waren wir mit gefühlten 20,8 Sekunden nicht schlecht. Da wir diesmal viele neue Mitfahrer dabeihatten, ließ ich den Bus etwas länger an der Straße stehen und zeigte auf das Haus, in dem meine Eltern lebten. Dann ergänzte ich, dass meine Eltern oben in der vierten Etage wohnten, genau da, wo gerade meine Mutter aus dem Küchenfenster die „Kinderübergabe“ anschaute. Ja, da oben wohnte ich viele Jahre. Aber: »Da unter uns, also ganz unten, da wohnte ein Star, da wohnte Olaf Thon.« Die Fans waren aus dem Häuschen und drückten ihre Nasen an den Fensterscheiben platt, trommelten mit den Fäusten dagegen und sangen wie bekloppt „Olaf Thon, Olaf Thon, Olaf Thon!“ Mag sein, dass die überschwängliche Begeisterung auch am Alkoholkonsum lag, immerhin wurde auf den 104 km doch schon das eine oder andere Bier getrunken. Auf den restlichen 3 Kilometern von der Braukämperstraße bis zum Parkplatz am Stadion habe ich den Fans noch die Geschichte erzählt, als der kleine Olaf früher meine Riesenfahne schwenken wollte.

Zum Spiel gegen die Bayern gibt es nicht viel zu sagen, wir haben 1:1 gespielt …

Während heute die meisten Fan-Clubs so schnell wie möglich vom Busparkplatz verschwinden wollen und teilweise sogar richtig böse werden, wenn es einmal länger dauert, war das früher noch ein bisschen anders. Man hat sich mit den anderen Fan-Clubs an den Bussen unterhalten und noch gemeinsam ein Bierchen getrunken. Oft wurden auf dem Busparkplatz auch Fahrgemeinschaften zum nächsten Auswärtsspiel gebildet. Es wurde noch viel miteinander gesprochen, vielleicht, weil es WhatsApp oder E-Mail noch nicht gab.

Wir waren mit unserem Bus aus Saerbeck häufig unter den letzten, die vom Parkplatz rollten. Diesmal drängte ich jedoch auf eine schnellere Rückfahrt, da ich mit Grauen an die zahlreichen Pinkelpausen dachte, die uns auf der Rückfahrt nicht erspart bleiben würden. Also ging es nach dem Spiel gegen Bayern schnell wieder in Richtung Braukämperstraße, um unsere beiden Töchter einzusammeln. Opa Franz wartete bestimmt schon ungeduldig auf uns. Und ja, vom weiten sahen wir schon meinen Vater mit den beiden Mädels auf der Straße stehen. Meine Anweisung an unsere Mitglieder, dass alle im Bus bleiben, um sofort weiterzufahren, hätte ich mir sparen können. Denn auch wenn die Fahrt vom Parkstadion bis zur Braukämperstraße nur knapp sieben Minuten dauert, mussten die ersten schon wieder pinkeln.

Während auf der einen Seite der Straße die Wohnblocks lagen, befanden sich auf der anderen Seite die Felder von Bauer Holz. Natürlich haben die Wiesen förmlich zur Pinkelpause eingeladen. Und jetzt stellt euch bildlich vor, wenn 70 nicht mehr nüchterne Fans auf der Braukämperstraße aussteigen, ihre Bierdosen in den Händen halten und sich dabei laut grölend oder singend in den Armen liegen. Wer gerade keine Bierdose in den Händen hielt, stand pinkelnd am Ackerfeld. Dieses Treiben führte dazu, dass immer mehr Menschen auf die Balkone strömten. Die Wohnsiedlung wurde damals von der GGW gebaut und allein in dem Haus, in dem meine Eltern und Olaf Thon wohnten, hatten 16 Familien ihr Zuhause. In den Häusern links und rechts nebendran wohnten nochmals 52 weitere Familien. Die meisten hatten ihren Balkon zur Straße, auf der unser Bus stand. Und wer von den Anwohnern nicht auf dem Balkon war, schaute aus einem der zahlreichen Fenster dem bunten Treiben zu.

Während ich die Zeit nutzte, um noch ein paar Worte mit meinem Vater zu wechseln, kamen die ersten Fans auf die Idee, zu Olafs Wohnung zu gehen. Mit wedelnden Schals und Fahnen in der Hand zogen die Jungs und Mädels von der Hauptstraße bis zur Eingangstür und grölten unaufhörlich „Olaf Thon, Olaf Thon, Olaf Thon!“ Inge, die Mutter von Olaf, schaute zuerst aus dem Fenster. Als sie dann aber unsere singenden Fans auf sich zukommen sah, zog sie sich ganz schnell zurück. Ich hätte gern gewusst, was sie in diesem Augenblick von uns dachte. Das Spektakel ging jetzt schon 10 Minuten und ein Ende war noch immer nicht abzusehen. Ich musste mich also ordentlich ins Zeug legen, um meine Mitglieder wieder in den Bus zu bekommen. Immer wieder fing einer an zu singen und alle anderen stimmten ein. Sie lagen sich in den Armen und posierten für die Nachbarn auf den Balkonen, die mit ihren Pocket-Kameras Fotos machten. Zum Glück gab es damals noch keine Handys.

Nach weiteren 20 Minuten hatte ich es endlich geschafft und alle, bis auf drei Leute, saßen wieder im Bus. Und wie das so ist, einer von den Dreien wollte unbedingt noch einmal seine Blase entleeren. Kurz bevor die letzten Tropfen fielen, hörte ich meinen Bruder Uwe aus dem Bus schreien: »Dahinten kommt der Olaf!« Tatsächlich, in dem Wagen, der gerade um die Ecke kam, saß Olaf Thon. Wie ein Bienenschwarm stürzten alle wieder aus dem Bus. Meine Mitglieder überrannten mich, stürmten über die Straße und folgten dem Wagen. Und wieder hallte ein schaurig schönes „Olaf Thon, Olaf Thon, Olaf Thon“ über die Braukämperstraße.

Trotz des Unentschiedens gegen die Bayern hatte Olaf gute Laune, denn so viel Zuspruch vor seiner Haustür hat er an diesem Tag nicht mehr erwartet. Ihr könnt euch vorstellen wie lange es nun dauerte, bis der letzte Fan endlich sein Autogramm bekommen hat. Auch als Olaf schon lange in seiner Wohnung verschwunden war, standen die Fans noch immer mit Tränen in den Augen vor der Wohnung und feierten Olaf weiter. Für mich fing nun mein Job wieder von vorne an. Ich glaube es war schon weit nach 20:00 Uhr, als ich endlich alle Mitreisenden im Bus hatte und wir die Fahrt nach Saerbeck fortsetzen konnten.

 

Ich bin mit Olaf auf der Braukämperstraße großgeworden und habe zahlreiche schöne Momente auf dieser Straße erlebt. Das war meine Heimat. Und jedes Mal, wenn ich heute noch an der ehemaligen Wohnung meiner mittlerweile verstorbenen Eltern vorbeikomme, sehe ich den Gelenkbus auf der Straße und die 70 Fans vor der verschlossenen Tür stehen. Und ein „Olaf Thon, Olaf Thon, Olaf Thon“ ertönt immer wieder in meinen Ohren …

»Das Leben ist nicht immer perfekt, aber es gibt Momente, die machen die Situation perfekt.«

1988 – Mein geheimes Konto in Österreich.

Ach, was hätte ich doch nur für ein tolles Leben, wenn nur die Hälfte von dem stimmen würde, was einige Fans sich so erzählen. Über mich und meine „angeblichen“ Vermögensverhältnisse gibt es ja die tollsten Geschichten. Hinter vorgehaltener Hand und aus natürlich wasserdichter Quelle wird erzählt, dass ich mehrere Häuser im Sauerland besitze und auch Ferienwohnungen in Bayern und auf Sylt sind meins. Natürlich nicht zu vergessen die (vielen) Häuser in Gelsenkirchen und die mehreren Eigentumswohnungen im Ruhrpott.

Diese Schlauköpfe haben immer geglaubt, dass alles, was ich im Schalker Fan-Club Verband an Einnahmen erwirtschafte, sei es durch Kartenvorverkauf, Fan-Kneipe oder Fan-Shop, mir persönlich gehörten. Das ich aber auch nur ein Angestellter des Verbandes war, haben, oder wollten, diese Schlauköpfe trotz mehrfachen Erklärungen nicht verstehen oder glauben. So habe ich dann irgendwann aufgehört, mich zu rechtfertigen. Aber immer, wenn dieses Thema irgendwo wiederaufkam, habe ich, ernsthaft mit einem Grinsen, behauptet, dass ich jetzt nur noch ein bisschen Geld sparen müsste, um mir dann die Berliner Brücke an der Schalker Meile in Gelsenkirchen kaufen zu können. Danach würde ich von allen eine Mautgebühr für die Berliner Brücke verlangen, dann hätte ich es geschafft …

Nur mal so nebenbei bemerkt: Ich habe keine Reichtümer und erwarte auch keine. Das Einzige, was ich gemeinsam mit meiner Gudrun besitze, ist mit ein altes Zechenhaus von 1904 in Gelsenkirchen-Erle. Für dieses Objekt zahlen wir eine monatliche Erbpacht und natürlich auch die Kosten für Strom, Heizung, Wasser und was sonst noch so anfällt. Und nein, wir haben weder Aktien noch Sparbücher und unsere Konten sind auch nicht prall gefüllt, sondern „nur“ ausgeglichen. Und wenn ich mich jetzt schon so „nackig“ mache: Gudrun und ich leben zusammen von 1.500 Euro Rente, aber damit sind wir glücklich und zufrieden.

Na gut, jetzt habe ich doch ein wenig geschwindelt, ich besitze ja noch ein geheimes Konto. Zwar nicht in der Schweiz, aber in Österreich. Und da ist auch noch ein „dickes“ Guthaben drauf. Wie ich zu diesem Konto kam, ich erzähle es euch.

Wie schon erwähnt, habe ich früher bei der Versicherung gutes Geld verdient. So konnten wir es uns leisten, mit unseren drei Kindern mindestens zweimal im Jahr für 14 Tage in den Urlaub zu fahren.

Im Jahr 1988 waren wir im Winterurlaub im Allgäu. Als ich irgendwann im August des Jahres am Abend vor dem Fernseher saß und durch die Programme zappte, bin ich bei einem Bericht über eine Bank in Österreich gelandet. Diese Bank war nur von deutscher Seite aus erreichbar. Ich glaube sogar, dass es da noch ein oder zwei andere Banken gibt. Aber die Bank, von der gerade im Fernsehen berichtet wurde, lag in Reutte, einem Ort, der nicht sehr weit von unserem Urlaubsort entfernt war. In diesem Fernsehbericht wurde erwähnt, dass unheimlich viele deutsche Geschäftsleute mit ihren dicken Autos hierhinfahren, um ganz viel Schwarzgeld einzuzahlen. Denn die österreichische Bank gibt scheinbar keine Daten an die deutschen Finanzbehörden weiter.

Mal ehrlich, wer von uns ist nicht gerne einmal ein Träumer? Ich war in diesem Augenblick nicht nur ein Träumer, sondern auch reichlich naiv. Ich war fasziniert von dem Bericht über ein „Geheimkonto im Ausland“ mit einem millionenschweren Guthaben. Und ja, ich verdiente damals wirklich gutes Geld. Aber es ist nicht möglich, vor allem bei einer großen Versicherung, auch nur irgendwie ein bisschen Schwarzgeld zu verdienen. Ich machte jedes Jahr meine Steuererklärung und musste meistens auch eine große Summe nachzahlen. Aber ich war zufrieden, auch ohne Schwarzgeld. Warum ich nun von einem „geheimen Konto“ schwärmte, wusste ich selbst nicht. Vielleicht, weil es spannend und aufregend klang, also setzte sich der Gedanke in meinem Kopf fest.

Ich schaute mir die Route von unserem Urlaubort im Allgäu nach Reutte etwas genauer an. Nur 20 Minuten Fahrzeit durch Deutschland. Hm, dachte ich, das wäre doch einen Abstecher wert. In meinen Gedanken sah ich mich schon in einem blauen Cabrio sitzen, mit dunkler Sonnenbrille und einem Silberkoffer voller Geldscheine auf dem Rücksitz, über die sonnige Bergstraße Richtung Reutte fahren.

Das Fernsehen berichtete, dass die deutsche Finanzbehörde auf der einzigen Zufahrtsstraße zur Bank hoch oben auf dem Berg liegen würde und sich jedes Auto, das in Richtung Reutte fuhr, notierte. Somit könnten später die Besitzer überprüft werden. Mensch, das wird ja so spannend wie in einem Krimi werden, dachte ich.

Ein paar Wochen später war es soweit und wir fuhren in Richtung Kempten in unseren Urlaub. Die ganze Zeit musste ich daran denken, was ich im Fernsehen gesehen habe. Natürlich hatte ich viel Bargeld für den Urlaub dabei. Aber viel Geld bedeutet mit fünf Personen auch, dass da wahrscheinlich nach einem zweiwöchigen Urlaub nicht viel überbleibt. Kreditkarten besaß ich damals noch nicht, dafür aber ein paar Euro-Schecks.

Wir feierten ein schönes Weihnachten im Allgäu mit viel Schnee und wir bereiteten uns langsam auf den Silvesterabend vor. Einen Tag vor dem Jahreswechsel ging ich zu Gudrun. »Ich fahre heute nach Kempten. Erhol du dich ein bisschen und wenn ich heute Nachmittag wiederkomme, gehen wir mit den Kindern lecker essen«, sagte ich unauffällig. Es brannte mir unter den Nägeln, ich wollte unbedingt diese Bank sehen. Deshalb notierte ich mir Anfahrtsweg und Adresse genau, denn ein Navi gab es damals noch nicht. Mein Ziel war die Raiffeisenbank Reutte in Jungholz.

Ich fuhr also mit unseren neuen Santana-Kombi los. Ein schöner Familienwagen und nicht ganz so teuer wie der große Bruder von VW, der Passat Kombi. Auf der Strecke nach Jungholz schaute ich immer wieder unruhig nach links und rechts und versuchte, irgendwo die Polizei zu entdecken. Die müssten bei der Kälte wahrscheinlich irgendwo in den Bergen liegen und sich und alle Autos notieren. Wahrscheinlich haben die Beamten auch schon längst mein Kennzeichen notiert und warteten bereits irgendwo auf mich. Mensch, war das spannend. Vielleicht halten die mich sogar an und durchsuchen mein Auto, dann könnte stolz und cool sagen: Ihr findet nichts, ich bin sauber.

Aber ich sah keinen Polizisten und ich kam auch nicht in eine Kontrolle. Aber dafür kam ich in Jungholz an. Ein sehr kleines Dorf, in dem sich im Herzen die besagte Raiffeisenbank aus dem TV-Bericht befand. Direkt vor der Bank konnte ich parken, hier stand nur ein Auto mit österreichischen Kennzeichen. Ich stieg aus und bin ungefähr vier oder fünf Mal an der Bank vorbeigelaufen, weil ich mich noch nicht traute, reinzugehen. Ich schaute mich um, ob mich jemand beobachtete, oder ob irgendwo dicke Autos parkten, aus denen vielleicht zigarrenqualmende Männer im Nadelstreifenanzug mit großen Koffern voller Schwarzgeld aussteigen würden. Aber es war nichts zu sehen, ich war so ziemlich der Einzige in diesem Dorf. Eigentlich wollte ich schon wieder zurück zu Gudrun und den Kindern fahren, denn meine Neugier war befriedigt. Aber irgendjemand flüsterte mir immer wieder ins Ohr. »Geh rein und eröffne das Konto. Wer weiß, wann du es gebrauchen kannst.«

Draußen war es kalt und es fielen schon die ganze Zeit kleine Schneeflocken. Aber das bemerkte ich erst, als ich die Bank betreten und im warmen Wartezimmer saß. Meine Ohren wurden heiß und rot. In der Bank war es ruhig, sauber und mollig warm. Aber es sah es auf keinen Fall wie in einer herkömmlichen Bank aus, eher wie in einer großen Rechtsanwaltskanzlei. Die Möbel waren aus edlen Materialien, der Schreibtisch der netten Empfangsdame aus Mahagoniholz, die Sitze aus weichem Leder. Die dicken Teppiche auf dem Boden sogen das Wasser von meinen nassen Schuhen auf und dämpften alle Schritte.

Eine schick gekleidete Frau kam mit einem Block und einen Stift in der Hand zu mir, fragte, ob ich etwas trinken möchte und welche Wünsche ich hätte. Ich bekam einen trockenen Hals und würgte nur ein »Ähh, ich möchte nur ein Konto eröffnen« hervor. Sie bat mich, in einer kleinen Nische Platz zu nehmen und fragte mich nochmals, ob ich einen Kaffee, ein Wasser oder etwas anderes trinken möchte. Ich nahm dann doch ein Wasser, denn meine Zunge fühlte sich dick und geschwollen an, sodass ich kaum ein Wort verständlich sprechen konnte. Das Glas Wasser leerte ich dankbar mit einem Zug und die schick gekleidete Dame schaute mich verwundert und fragend an. Bevor ich etwas sagen konnte, kam ein junger Mann im scheinbar teuren Designeranzug auf mich zu und bat mich freundlich, ihm in sein Besprechungszimmer zu folgen. Nach seinem Aussehen lässt er beim Après-Ski bestimmt mit seiner Kohle die Puppen tanzen, ging es mir durch den Kopf.

Die Tür zu seinem Besprechungszimmer war mindestens 40 cm dick und beidseitig mit Leder bezogen. Ich glaube, die besten Abhörgeräte des Geheimdienstes hätten dadurch kein Wort verstanden. Wir setzten uns an seinen Schreibtisch und ich merkte, dass ich trotz der angenehmen Temperatur, die im Raum herrschte, immer feuchter unter den Armen wurde. Der junge Mann berichtete mir, wie sicher die Kunden aus Deutschland in dieser Bank vor dem Finanzamt seien. Daten oder Zahlen würde nicht an Dritte weitergegeben, dafür verbürgt sich die Bank. Zur Bestätigung überreichte er mir die Geschäftsbedingungen und einige Zeitungsberichte, die ich natürlich nicht gelesen habe. »Super«, sagte ich »das ist ja alles toll hier, aber eigentlich wollte ich nur ein Konto eröffnen.« Der schick gekleidete Bankmitarbeiter antwortete »Das ist doch gar kein Problem«, nahm ein Blatt Papier und fragte nach meinen persönlichen Daten. Meine Zunge im Hals wurde schon langsam wieder dicker und das Sprechen fiel mir immer schwerer. Nachdem er meine Daten notiert und nochmals mit mir überprüft hat, stellte er die für ihn wohl wichtigste Frage: »An was für eine Summe haben Sie gedacht? Wieviel Geld möchten Sie einzahlen?«

Nun bildeten sich Schweißperlen an meinen dicken Hals, die langsam meinen Rücken runterliefen und mein Hemd durchnässten. Der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn, schließlich hatte ich ja gar kein Geld zum Einzahlen mitgebracht. Die Idee mit dem „geheimen Konto“ war doch eh nur eine blöde Träumerei. Tja, aber nun saß ich hier und der Kerl im Anzug wollte von mir eine Summe hören. Ich überlegte kurz, ob ich noch irgendwie aus der Nummer rauskomme, aber mir fiel nichts ein. Also antwortete ich ihm. »Ich könnte mir vorstellen, mit 100 anzufangen.« Während er daraufhin den Einzahlungsbeleg fertig machte, fragte ich mich, wie ich das später Gudrun erklären solle. Soll ich ihr etwa sagen, dass wir heute nicht lecker Essen gehen, weil ich 100 DM auf einem Sparkonto in Österreich eingezahlt habe? Ich bin so doof, dachte ich und hörte den Mann wie durch einen dicken Nebel erklären, dass viele Anleger erst einmal klein anfangen und später, nachdem mehr Vertrauen zu der Bank besteht, die Beträge erhöhen. So langsam gewann ich meine Sicherheit wieder zurück. »Klar, später kann ich auch mehr einzahlen«, sagte ich. Dann warf ich einen Blick auf den Einzahlungsschein, den mir der junge Mann entgegenhielt. Ja, da standen wirklich 100 drauf. Aber mit drei weiteren Nullen hintendran, 100.000 DM Einzahlungssumme!

Ich wurde rot und ich weiß gar nicht mehr genau, was ich sagte, aber ich erklärte ihm, dass ich mit der 100 eher 100 DM meinte. Mit einer Schnelligkeit, die ich ihm gar nicht zugetraut habe, sprang er aus seinem dicken Sessel, rannte förmlich um den Schreibtisch, nahm mir den Einzahlungsschein aus der der Hand und zerriss ihn. Noch heute bin ich froh, dass er mir nur das Wasserglas weggenommen und mich nicht verhauen hat. Ruckzuck schubste er mich aus der Tür und sagte zu der schick gekleideten Dame »Herr Rojek möchte bei Ihnen etwas einzahlen« und schloss die Tür hinter sich. Wow, da stand ich nun mit meinem nassen Hemd und einem hochroten Kopf vor der Bankmitarbeiterin. Diese lächelte verständnisvoll. Solche Situationen hatte sie bestimmt schon öfter mitbekommen. Sie ging mit mir zu ihrem Schreibtisch, füllte den Einzahlungsschein auf 100 DM aus, nahm das Geld und händigte mir ein Sparbuch mit einem Guthaben von 100 DM aus. Sie lächelte amüsiert, als ich mich stotternd von ihr verabschiedete und ihr noch einen guten Tag und ein frohes neues Jahr wünschte.

 

Als ich wieder draußen vor der Tür stand, schneite es schon bedeutend mehr. Ich ließ die Schneeflocken auf mein heißes Gesicht fallen und empfand die Kühle als einen Segen. Endlich raus hier und nun schnell weg von dieser Bank, dachte ich still und leise. Ich holte mir an der Tankstelle eine eiskalte Cola und exte die Dose in fast einem Zug leer. Man, man, man. Was war das gerade nur? Ich schaute auf das Sparbuch in meiner Hand. Jetzt musste ich ein wenig schmunzeln. Was der Bankangestellte in seinem Anzug nun wohl der schick gekleideten Dame über mich erzählen würde? Ach egal, ich habe mein Konto. Und wer weiß, vielleicht habe ich ja irgendwann einmal so viel Geld, dass ich es dann genau hier einzahlen kann. Glücklich und zufrieden fuhr ich also wieder in Richtung unserer Ferienwohnung nach Kempten.

Nach 41 Jahren kam Gudrun mit dem Sparbuch in der Hand die Treppe runter. »Schau mal«, sagte sie, »was ich oben gefunden habe. Ob das Guthaben noch existiert?« Ich versprach ihr, in den nächsten Tagen in Österreich anzurufen. Und ja, ich habe angerufen. Und es ist genauso, wie es mir der Bankkaufmann vor 41 Jahren erzählte: Keiner bekommt die Daten von der Bank. Ich konnte ihn fragen, was ich wollte, er verwies mich immer wieder darauf, dass er mir nichts sagen dürfte. Ich müsste persönlich vorbeikommen. Tja, und nun stellt sich bei mir die Frage, fahr ich für 100 DM noch einmal nach Österreich oder soll unser Enkelkind das Geld später bekommen? Wer weiß, was er dann für Zinsen und Zinseszins auf dem Sparbuch erhält …

»Als ich jung war, glaubte ich, Geld sei das Wichtigste im Leben, jetzt wo ich alt bin, weiß ich, dass es das Wichtigste ist.«

(Oscar Wilde)