Es ist niemals zu früh, um Schalke zu leben – "5:04" – Eine Blau-Weisse Autobiografie

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1972 – Schalke wird Herbstmeister und ich erlebe mein zweites Finale.

Am Samstag, den 11. Dezember 1971, waren die Bayern zu Gast in Gelsenkirchen und die Glückauf Kampfbahn war, wie immer zu diesem „Top-Spiel“, restlos ausverkauft. Kein Wunder, wir waren am letzten Spieltag mit 26:6 Punkten, also mit einem Punkt Vorsprung vor den Bayern, Tabellenführer. Wir brauchten daher nur ein Unentschieden, um Herbstmeister zu werden.

Bis zur Halbzeit sah es ganz gut für uns aus, wir kämpften und versteckten uns nicht vor den Bayern. Somit ging es verdient mit einem 0:0 in die Halbzeit. Die Stimmung war gut und die Fans standen wie eine Eins hinter der Mannschaft. Dann kam die 77. Minute und Heinz van Haaren schoss das goldene Tor zum 1:0 für Schalke. Die Glückauf Kampfbahn bebte und der FC Schalke 04 war Herbstmeister.

Die Fans in der Nordkurve tobten. Damals gab es in der Kurve neben den normalen Fahnen auch viele besonders große Fahnen, so wie meine. Dennoch konnte man noch nicht von einem „blau-weißen Fahnenmeer“ sprechen. Egal. Ich war immer mittendrin, statt nur dabei.

Ich erinnere mich noch so genau an dieses Spiel, da vor mir in der Nordkurve zwei hübsche Mädels standen, die mir vorher noch nie aufgefallen sind. Mein Freund Ralle und ich haben den Torjubel sowie den Abpfiff zum Herbstmeister genutzt, um die Mädels zu umarmen, und zwar länger als sonst üblich. Sollte ich an diesem Tag etwa nicht nur Herbstmeister werden, sondern auch meine erste feste Freundin finden? Mir gefielen beide Mädels, Ulla mit den langen blonden Haaren und die kühle Susanne. Bei Ralle und Susanne hatte der Torjubel wohl Wirkung gezeigt, bei Ulla und mir leider nicht. Somit habe ich Ulla schnell vergessen, die Herbstmeisterschaft aber nicht …

Ich liebte die Nordkurve, die früher überhaupt nicht mit heute zu vergleichen war. Es gab weder Fangruppierungen, keinen Capo und nur wenige Fan-Clubs. Nichts war geplant oder organisiert, die Stimmung sprang mit dem Funken der Mannschaft auf die Fans über. Jeder hat gesungen, was und wie er wollte. Es kam daher öfters vor, dass verschiedene Lieder aus unterschiedlichen Richtungen gesungen wurden. Das Lied der lauteren Gruppe wurde dann von allen anderen übernommen.

Die Auswärtsfahrten mit Schalke waren immer wie ein Überraschungsei: Ein bisschen Spiel, ein bisschen Spaß und ganz viel Spannung. Denn meist hast man erst im Bus erfahren, wer aus der Nordkurve auf der Fahrt mit dabei war. Die Busfahrkarten haben wir uns immer im Reisebüro Laska gekauft. Es gab keine Anmeldelisten, wer zuerst kam, war dabei.

Natürlich gab es auch früher schon Sonderfahrten mit dem Zug, die waren für uns Fans mit den großen Fahnen jedoch ganz schön gefährlich. Denn selbst wenn wir unsere Fahnenstangen in der Mitte teilen konnten, waren diese immer noch 2,5 bis 3 Meter lang. Die Bahnangestellten machten daher jedes Mal drei Kreuze, wenn wir mit dem Zug verschwunden waren. Die Sorge der Angestellten war groß, dass wir mit unseren langen Fahnenstangen an die Oberleitung kommen.

Aber auch beim Einstieg gab es oft Probleme, da die langen Fahnenstangen durch die Fenster in den Zug gereicht werden mussten. Wenn Hunderte von Fans auf dem Bahngleis drängeln, während andere mit ihren langen Fahnenstangen rumhampeln, wird es schnell stressig und so manche Zugscheibe ging zu Bruch.

Vor der Abfahrt in Gelsenkirchen sind wir oft in das WEKA (Westfälisches Kaufhaus) gegangen und haben uns mit einem Stauder Bier für 0,40 Pfennig eine Erfrischung gegönnt. Das war jedes Mal ein großes Schauspiel, wenn 150 bis 200 Schalke-Fans singend mit ihren Fahnen die Rolltreppe in die vierte Etage gefahren sind. Während die ersten Fans ihr Bier schon ausgetrunken hatten, standen die letzten Schalker noch immer unten an der Rolltreppe.

Ich glaube schon, dass meine Kumpels und ich so etwas ähnliches wie „Anführer“ der Nordkurve waren, auch wenn es keine organisierten Strukturen gab. Wenn ich mit Ralle, Harry, Wowo und meinen anderen Freunden irgendwo hingegangen bin, folgten uns fast alle. Ohne jemals mit meinen Jungs darüber gesprochen zu haben, denke ich, dass Ralle unser „Anführer“ war.

Ralle hatte eine große Klappe, liebte Auseinandersetzungen und legte sich daher auch gerne mit den Ordnungskräften an. Natürlich gab es viele „gefährliche“ Situationen, in die wir reingeraten sind. Manchmal, weil wir „die anderen“ suchten, häufig aber auch, weil „die anderen“ sich auf die Suche nach uns machten. Es wurden hin und wieder auch Backpfeifen verteilt und nicht immer sahen wir bei diesen Begegnungen gut aus. Aber wir haben zusammengehalten, und zwar immer. Nicht nur wenn es brenzlig wurde, sondern auch, wenn einer von uns Hilfe benötigte.

Am 28. Juni ging es, drei Tage nach meinem 18. Geburtstag, mit dem Sonderzug nach München. Die Bayern hatten nur einen Punkt Vorsprung, sodass wir das Spiel gewinnen mussten. Haben wir aber nicht. Wir haben fürchterlich einen auf den Arsch bekommen und 5:1 verloren. Somit hat die Herbstmeisterschaft leider nicht gereicht, um am Ende der Saison Meister zu werden. Die Bayern schnappten sich den Titel mit drei Punkten Vorsprung. In großer Trauer sind wir als Vizemeister jedoch nicht verfallen. Denn kaum aus München zurück, mussten wir am Samstag (1. Juli) gleich weiter zum Pokalfinale nach Hannover, der 1. FC Kaiserslautern war unser Gegner.

An diesem Samstag fuhr ich morgens mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof, meine große Fahne war selbstverständlich dabei. Dort empfingen mich meine Freunde wie immer mit lauten Gesängen. Der Frust von München war spätestens jetzt bei allen vergessen. Wir wollten auf den Bahnsteig gehen, als ich merkte, dass mein Portemonnaie weg ist. Ausweis, Zugfahrkarte und Eintrittskarte sowie mein gesamtes Bargeld, alles war weg. Aber in diesem Moment zeigte sich wieder einmal, wie schön es ist, wenn man gute Freunde hat. Es wurde nicht lange diskutiert und meine Freunde griffen in die Tasche, legten das Geld zusammen und kauften mir eine Fahrkarte und später in Hannover sogar noch die Eintrittskarte. Bratwurst und Bier brauchte ich an diesem Tag auch nicht bezahlen. Ja, meine Freunde und ich haben immer zusammengehalten und alles gemeinsam durchgestanden. Es war eine schöne und wilde Zeit, die ich nicht missen möchte.

Das Finale haben die Schalker souverän mit 5:0 gewonnen, die Tore schossen Helmut Kremers (15., 82.), Klaus Scheer (20.), Herbert Lütkebohmert (57.) und Klaus Fischer (66.). Nach dem verpatzten Pokalfinale 1969, bei dem ich aufgrund von Windpocken das Spiel am Radio im Bett verfolgen musste, war dies nun mein erstes Pokalfinale „live im Stadion“. Und es sollte nicht das letzte bleiben.

Drei Tage nach dem Pokalsieg habe ich mich bei der Bundeswehr als Zeitsoldat beworben. Am 1. Oktober 1972 begann meine Dienstzeit und der Kontakt zu meinen Freunden wurde leider immer weniger. Natürlich haben wir uns in den folgenden Monaten noch regelmäßig in der Kurve getroffen. Aber wie es im Leben meistens ist, die gemeinsamen Zeiten werden im Alter weniger und irgendwann trennen sich die Wege oftmals sogar für immer.

Die kühle Susanne aus der Nordkurve ist die einzige, mit der ich heute noch ein wenig Kontakt über Facebook habe. Und das freut mich sehr. Immer wenn ich etwas von ihr höre, denke ich an die alten Zeiten zurück, als Rolli noch ein richtig verrückter Schalker war, der mit seinen Jungs loszog …

»Ich bin in einem Alter, in dem man Jugendsünden gestehen sollte, bevor man sie vergisst.«

(Ephraim Kishon)

1975 – Meine erste eigene Bude.

Welcher Mann träumt nicht davon, ein Zimmer in seinem Vereinslokal zu haben? Ja, genau dort war meine erste eigene Bude. Ich wohnte über dem Vereinslokal von Beckhausen 05, „Der Sportplatz “, ganze 400 Meter von meinem Elternhaus entfernt. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, mir eine eigene Wohnung zu nehmen. Aber da ich sowieso immer einer der letzten Gäste in unserem Vereinslokal war, glaubte eh jeder, dass ich in der Kneipe wohnte.

Meine Wirtin Gudrun war 24 Jahre jung und seit sechs Jahren mit Wolfgang verheiratet, die beiden hatten einen dreijährigen Sohn namens Thomas. Ich hatte von Anfang an sehr guten und engen Kontakt zu Gudrun. Nicht mehr, nicht weniger. Sie war meine Wirtin. Unabhängig davon stand ich eher auf Mädels mit langen blonden Haaren, ohne Brille und ohne Sommersprossen. Gudrun hatte zwar keine Brille, aber sie hatte kleine Sommersprossen und sie war nun einmal nicht blond. Auch wenn ich zugeben muss, dass die Sommersprossen niedlich aussahen, spielte das keine Rolle, denn Gudrun war meine Wirtin. Aber wir fanden uns sympathisch, verstanden uns ausgezeichnet und vertrauten uns immer und überall.

Neben der Gaststätte befand sich die Pächterwohnung im Erdgeschoss. Zu dieser Wohnung gehörte noch ein weiterer Raum, der jedoch nie benutzt wurde. Er befand sich nämlich in der dritten Etage unter dem Dach. Das Zimmer war vielleicht 15 qm groß und hatte nur ein Waschbecken, sonst nichts. Daneben war der Dachboden, in dem die sieben Mietparteien ihre Wäsche trockneten.

Als ich eines Morgens, nach einer durchzechten Nacht im Vereinslokal, gefragt wurde, wann ich nach Hause gegangen wäre, antwortete meine Wirtin Gudrun: »Wie immer. Rolli war der Letzte. Er kann hier wirklich bald einziehen.« Alle lachten und ich sagte: »Genau, und morgens komme ich dann immer zum Frühstücken zu euch nach unten« und wir alle hatten unseren Spaß. Es konnte ja auch niemand damit rechnen, dass aus dem Spaß schon am anderen Tag Ernst wird.

Und so kam der andere Tag. Wie immer haben wir uns vor den Heimspielen im Vereinslokal getroffen. Meine Wirtin Gudrun fragte mich plötzlich ernsthaft, ob ich das Zimmer haben möchte. Für 50 DM könnte ich die Bude haben, Nebenkosten wie Strom und Heizung sind inklusive, allerdings hat das Zimmer keine Toilette. Daraufhin habe ich mir die Bude einmal etwas genauer angeschaut und bekam doch irgendwie Zweifel. Seit Jahren hat hier keiner mehr gewohnt, das war nicht zu übersehen. Das Zimmer musste entrümpelt, die alten Tapeten entfernt und die Wände neu tapeziert werden. Die Tür und das Fenster brauchten einen Anstrich und der Teppich musste entsorgt werden. Solche Arbeiten habe ich nie machen müssen. Aber trotzdem sagte ich nach kurzem Zögern zu, schließlich musste ich die ersten zwei Monatsmieten nicht bezahlen. Das Geld diente als Renovierungszuschuss. Jetzt musste ich meinen Eltern nur noch beichten, dass ich mir „mal so nebenbei“ eine eigene Bude besorgt habe und ausziehen werde. Ich überlegte, was ich ihnen sagen könnte.

 

»Ich bin doch nur knapp 400 Meter von euch weg. Zum Essen und Kacken komme ich wahrscheinlich eh jeden Tag vorbei und die schmutzige Wäsche bringe ich dann auch gleich mit. So gesehen ist das ja eigentlich kein Auszug aus dem Elternhaus.« Genau so wollte ich meinen Eltern den Auszug erklären. Die Frage: »Ach Papa, du weißt ja, dass ich immer so wenig Zeit habe. Kannst du mir die Bude mal schnell renovieren?« wollte ich so ganz nebenbei stellen. Das wird er bestimmt machen, dachte ich. Dachte ich …

Meine Mutter sagte gar nichts zum Auszug und mein Vater zeigte mir den Vogel. »Mach deinen Mist doch allein, wenn du selbstständig sein willst«, meinte er. Aber mein Vater wäre nicht mein Vater, wenn er mir nicht die Bude renoviert hätte. Während ich mit meinen Freunden und mit meiner großen Fahne beim Schalker Auswärtsspiel alles gegeben habe, durfte mein Vater allein die Bude entrümpeln und renovieren. In der darauffolgenden Woche ist meine Mutter mit mir nach Buer gefahren und wir haben ein richtiges Jugendzimmer gekauft. Ja, meine Mutter war beim Kauf dabei. Immerhin hat sie die Hälfte des Geldes dazugegeben.

So hatte ich schnell meine erste eigene Bude. Aber es gab ja noch das Problem mit der fehlenden Toilette. Solange das Vereinslokal geöffnet hatte, konnte ich dort das stille Örtchen aufzusuchen. Aber die Kneipe hatte ja leider nicht immer geöffnet. An Ruhetagen habe ich also die Toilette bei meinen Eltern aufgesucht, der Weg dorthin war ja nicht weit. Als lustiger Junggeselle ging die Party bei mir aber häufig weiter, auch wenn die Wirtin Feierabend machte.

Ich gebe zu, wenn mit 21 Jahren die Sinne von mehreren Bierchen umnebelt sind und in deinem Zimmer ein paar betrunkene junge Leute feiern, machst du Sachen, über die du im Alter nur den Kopf schütteln kannst. Egal ob Jungs oder Mädels, alle haben das Waschbecken auf dem Dachboden als Ersatztoilette genutzt. Natürlich bekamen die Nachbarn schnell mit, was bei mir abging. Zwei bis dreimal in der Woche stieg die Party mit viel Lärm, Musik und Mädels, die Schritte auf dem Dachboden waren überall zu hören. Schon in der ersten Woche meiner eigenen Bude hat sich die Hälfte der Mieter beschwert, in der zweiten Woche die restlichen Mieter. Irgendwie verständlich, denn hätte ich damals von jedem Übernachtungsgast 10 DM genommen, hätte ich ohne Probleme die Miete für ein ganzes Jahr im Voraus bezahlen können. Wenn meine Freunde in der richtigen Bierlaune waren, haben sie teilweise mit vier oder fünf Leuten bei mir geschlafen. Meistens waren es zwar nur ein paar Stunden, aber das lag eher daran, dass wir bis zum Morgengrauen feierten.

Aber es waren nicht nur gute Freunde, die bei mir in der Bude gefeiert und geschlafen haben. Ich hatte viele Mädels zu Besuch. Warum und wieso kann ich heute eigentlich gar nicht beantworten, das müsste man eher Gudrun fragen, da sie alles besser beobachten konnte. Aber ich fühlte mich in keiner Weise als Aufreißer. Ich hatte keine feste Freundin, ich war Zeitsoldat, ich war Schalker und mein Lebensstil war bedenkenswert. Wann sollte ich da noch Zeit für eine Beziehung finden? Wenn die Jungs in unserem Vereinslokal knobelten, am Flipperautomat spielten oder am Billardtisch die Kugel einlochten, habe ich mich immer um die Mädels gekümmert. Ein Scherz hier, ein Kompliment da und manchmal habe ich mich auch selbst auf die Schippe genommen. So schnell wird man zum Hahn im Korb. Doch ich habe den Mädels auch häufig mit Tränen in den Augen erzählt, wie schwer mein Junggesellenleben war. Der Dienst bei der Bundeswehr ist hart und anstrengend, sodass ich in meiner schönen kleinen Bude nicht mehr zum Aufräumen oder Abwaschen komme.

»Willst du mal meine schöne Schalke Bude sehen?«, fragte ich dann meist und fast alle Mädels wollten meine Bude sehen. Sie kamen mit nach oben, haben das dreckige Geschirr abgewaschen und das Zimmer geputzt. Danach haben wir es uns gemütlich gemacht und zusammen etwas getrunken. Als wir später wieder ins Vereinslokal kamen, waren die Mädels meist stolz, einem armen Schalker geholfen zu haben. Und ich? Ich habe den Mädels nichts dafür bezahlt, oder besser: ich habe kein Geld geben müssen.

Meine Gudrun ist noch heute meine Zeugin der wilden Zeit als Junggeselle. Auch wenn sie die vielen Mädels nicht gezählt hat, hat sie alles mitbekommen. Das haben Wirtinnen (aber auch Wirte) wohl so an sich.

»Es muss nicht immer alles Sinn machen. Oft reicht es schon, wenn es Spaß macht.«

1976 – Erst meine Wirtin, dann meine Ehefrau: meine Gudrun.

Der Ruf, ein großer Schalke-Fan zu sein, verfolgte mich schon ziemlich früh. Und darauf war ich stolz, mächtig stolz. Das angeblich kein Mädel vor mir sicher war, ist mir ehrlich gesagt gar nicht so aufgefallen. Auch wenn mich viele Mädels in meiner ersten eigenen Bude besucht haben. Und es waren tatsächlich viele, vielleicht sogar sehr viele Mädels, die sich mein Zimmer angeschaut und den ein oder anderen Abwasch gemacht haben. Aber meist haben wir nur etwas getrunken, während ihre Freunde unten im Vereinslokal flipperten oder auf sie warteten.

Wolfgang, der Mann meiner Wirtin Gudrun, war verdammt eifersüchtig auf mich und hat mir immer eine Szene gemacht, wenn er getrunken hatte. Jedes Mal habe ich ihm geschworen, dass ich nichts mit seiner Frau, meiner Wirtin, hatte. Das sollte aber nicht heißen, dass sie nicht gut aussah. Gudrun war nicht mein Typ und zudem meine Wirtin. Und mit seiner Wirtin fängt man nichts an. Außer einem sehr guten, vertrauten und freundschaftlichen Verhältnis war nichts zwischen uns. Aber erzählt das mal einem eifersüchtigen Ehemann …

Aber wisst ihr, wenn man einem lange genug etwas einredet, dann glaubt man es später auch. Irgendwann, ich weiß nicht nach wie vielen weiteren Damenbesuchen auf meinem Zimmer, wurde Gudrun für mich immer interessanter. Es folgten zufällige Berührungen beim Bezahlen, ein intensiver Blickkontakt und wir hatten gemeinsame Lieblingslieder aus der Musikbox. Zu unseren Favoriten gehörten „Rocky“ von Frank Farian oder „Mississippi“ von Pussycat.

Ich konnte es kaum erwarten, jeden Tag nach Dienstschluss bei der Bundeswehr, mit meinem königsblauen FIAT 500 von Münster nach Gelsenkirchen zu rasen. Ja, ich hatte mich in meine Wirtin verliebt. Ich hatte mich in Gudrun verliebt.

Liebe ist schön? Nicht für mich und nicht in dieser Situation. Ich habe der Mutter von Wolfgang monatelang versichert, dass ich nichts von seiner Frau wolle. Tja, und nun war ich in sie verliebt. Wenn ich sie sah, fühlte ich etwas ganz anderes als bei all den anderen Mädels. Also hieß es für mich, allen Mut zusammennehmen. Denn was raus muss, muss raus.

Es war Freitag, der 12. März, als ich mit Freunden und Sportkameraden in unserem Vereinslokal in Beckhausen feierte, so wie eigentlich jedes Wochenende. Ich war mit meiner großen Klappe wieder einmal der Alleinunterhalter in der Gruppe, trotzdem suchten meine Augen immer wieder den Blickkontakt zu Gudrun. Bildete ich es mir nur ein, oder erwiderte sie die Blicke? Ich dachte an die Worte meines Vaters. »Wenn der Pimmel steht, ist der Verstand im Arsch«, sagte er einmal. Nein! Gudrun ist verheiratet und hat einen Sohn...

Ich versuchte die Gedanken mit Schalke Liedern zu verdrängen, schließlich stand am Samstag das Spiel gegen Hertha BSC Berlin an. Ich grölte mit meinen Freunden laut und falsch, aber die Nähe zu Gudrun zog mich magisch an. Ich konnte ihrem Lächeln nicht mehr widerstehen und fragte sie, ob wir zusammen Musik aus der Box auswählen sollen. Eine doofe Frage, immerhin kannten wir die Nummern „unserer Lieder“ auswendig. Trotzdem kam sie mit zur Musikbox.

»Du gehst doch morgen früh wieder einkaufen, kann ich dich dann mal was fragen?«, flüsterte ich ihr zu. Und das auch nur, weil ich schon etwas getrunken hatte, sonst wäre die Frage nie über meine Lippen gegangen. Gespannt wartete ich auf ihre Antwort und dachte, dass sie mir gleich den Vogel zeigt. »Ja, klar. Sagen wir um 9:30 Uhr auf dem Markt in Beckhausen?« sagte sie. Mein Herz hüpfte vor Freude und ich bekam einen roten Kopf. Am liebsten hätte ich mein Glück laut herausgeschrien, aber es kam nur ein leises »Ok.« Es sollte schließlich keiner etwas davon erfahren.

Der Abend in unserem Vereinslokal wurde lang, sehr lang. Ich wollte einfach nicht mehr weg von Gudrun. Aber irgendwann gegen 2:00 Uhr war Feierabend. Wie meistens konnte ich den Deckel nicht bezahlen, aber bei meiner Wirtin hatte ich unbegrenzten Kredit. Somit kam der Deckel zu den anderen. Ich glaube, alle Deckel im Vereinslokal zusammengerechnet würden ausreichen, um mindestens zwei Monatspachten zu bezahlen. In dieser Nacht konnte ich gut schlafen, das lag mit Sicherheit auch am großen Alkoholkonsum. Aber trotzdem wurde ich um 7:00 Uhr durch das Klingeln meines Weckers aus dem Schlaf gerissen. So gut es ging, bereitete ich mich auf mein Gespräch mit Gudrun vor.

Was sage ich ihr? Wie sage ich es ihr? Wie wird sie reagieren? Fragen über Fragen, aber nun gab es kein Zurück mehr. Männer müssen das tun, was sie tun müssen. Um 9:00 Uhr wartete ich in meinem FIAT 500 am Marktplatz in Beckhausen auf Gudrun. Zäh wie flüssiger Honig zogen die Minuten dahin. Ich überlegte ernsthaft zu flüchten, aber das habe ich bisher noch nie getan. Aber ich grübelte. Mein Gott wie dumm bin ich. Gudrun war zweieinhalb Jahre älter als ich, sie hatte einen Sohn und einen Mann, mit dem sie schon sieben Jahre verheiratet war. Sie war selbständig und führte wahrscheinlich ein zufriedenes Leben. Was soll ich ihr sagen? Ehrlich, ich hatte Köttel in der Hose. Ich überlegte, noch einmal zu verschwinden, aber es war zu spät. Gudrun kam mit wippenden Schritten über den Marktplatz auf meinen Wagen zu, öffnete die Tür und setzte sich. Nun gab es kein Zurück mehr.

Und jetzt? Was sage ich? Oh mein Gott, bin ich doof. Es gab kaum Zeit zum Nachdenken. »Na, wie kann ich dir helfen?« fragte sie. Indem du mich in den Arm nimmst und küsst, dachte ich und umklammerte mit meinen schwitzenden Händen krampfhaft das kleine Lenkrad. Und so machte ich das, was ich eigentlich immer mache. Ich sagte, was ich dachte und fühlte. »Gudrun, ich kann nicht mehr richtig arbeiten.« Sie fragte »Warum?«, und ich antwortete, »Weil ich immer nur an dich denken muss. Egal was ich mache, egal was passiert, ich denke immer nur an dich.«

Jetzt war es raus und ich stellte mich auf das Schlimmste ein. Jetzt wird sie mich anschreien und beschimpfen. Sie wird schreiend aus dem Auto stürzen, zu ihrem Wolfgang rennen und ihm alles erzählen. Oder sie wird mir eine scheuern. Aber nichts davon geschah. Es war mucksmäuschenstill im Auto. Schweigend saßen wir nebeneinander, die Blicke stur geradeaus. Nur unsere Atemzüge waren zu hören. Ich sagte nichts mehr. Gudrun sagte nichts mehr. In Liebesfilmen passiert so etwas nie und ich wollte am liebsten sagen, dass alles nur ein Scherz war. Aber nichts geschah. Wir blieben beide stumm und bewegungslos im Auto sitzen. Die Sekunden zogen sich wie Kaugummi und ich dachte daran, dass heute das Spiel gegen Berlin ist … Keine Ahnung, ob das der Grund war, weshalb ich die Stille mit den Worten »Darf ich dir ein Kuss geben?« unterbrach, aber genau das tat ich. Und ja, ich durfte sie küssen.

Zwei Stunden später saß ich in meinem Schalke-Outfit vor der Theke meiner Wirtin Gudrun, die große Fahne lehnte an der Wand und ich trank mein Alt mit Schuss. Schalke hatte an diesem Tag nicht für mich gespielt, denn es reichte nur für ein 2:2 vor knapp 20.000 Zuschauern im Parkstadion. Gede machte das 1:0 in der 44. und Klaus Fischer das 2:0 in der 52.Minute. Aber das war mir an diesem Tag sowas von egal. Ich hatte gewonnen, ich hatte Gudruns Herz gewonnen!

Das Vereinslokal war nach dem Spiel wie immer rappelvoll und Gudrun und ihre beiden Helfer hatten alle Hände voll zu tun, um die durstigen Kehlen der Gäste zu löschen. Doch immer wieder suchte ich heimlich den Körperkontakt zu ihr. Bei jedem Glas Alt mit Schuss, dass sie mir reichte, streiften sich unsere Hände. Immer wieder gab es heimliche Berührungen, wenn sich unsere Wege kreuzten. Irgendwann zu fortgeschrittener Stunde habe ich meinen ersten und einzigen Liebesbrief geschrieben. Auf einem Bierdeckel auf der Toilette schrieb ich die berühmten drei Worte Ich liebe dich! Romantisch, oder nicht? Es wurde noch romantischer: Bei der großen Hektik im Lokal konnte ich Gudrun den „Liebesdeckel“ unauffällig zustecken. Sie las die Zeilen, lächelte mir zu und versteckte den Deckel in dem großen Stapel unbezahlter Deckel. Dort wollte sie ihn später heimlich wieder herausholen und verschwinden lassen. Wollte sie, dabei ist es auch geblieben …

 

In den folgenden Tagen telefonierten wir viel und lange miteinander. Mich beschäftigte die ganze Zeit nur eine Frage: Wie geht es weiter? Und nach 14 wundervollen Tagen, wie sie nur Verliebte erleben können, stellte ich meiner Gudrun nun diese Frage. »Wie geht es weiter?«

Ich war dafür, offen und ehrlich zu sein und loszustürmen. »Sag es Wolfgang. Egal was passiert, ich bin bei dir.« Gudrun stimmte zu. Sie wollte es Wolfgang im richtigen Augenblick erklären. Aber wie es nun einmal mit dem richtigen Augenblick ist, er ist nie da! Es verging eine Woche, es verging die nächste Woche, und der richtige Augenblick war immer noch nicht gekommen. Mir war schon bewusst, wie schwierig die Situation für Gudrun war. Sie lebte in ihrer eigenen Wohnung, führte allein eine gutgehende Gaststätte und hatte ein Kind mit ihrem Mann Wolfgang. Und jetzt soll sie auf einmal alles aufgeben? Für was? Für den ersten Kuss im Auto oder für ein paar geheime Liebesstunden? Alles aufgeben für einen jungen, verrückten Schalker? ging es mir durch den Kopf.

Ja, es war schwer zu verstehen, wie es in Gudrun aussah. Aber auch für mich war es eine schwere Entscheidung. Bin ich schuld, dass eine Ehe zerbrochen ist? Wie muss sich der Sohn, der kleine Thomas fühlen? Kann ich überhaupt in einer Beziehung leben? Bisher hatte ich noch keine richtige Beziehung. Aber versucht einmal zwei Liebenden mit vernünftigen Argumenten zu kommen. Verliebte können und wissen alles. Dumm, aber verliebt, wollte ich so schnell wie möglich klare Verhältnisse schaffen.

Drei Wochen später, am 2. April 1976, spielte Schalke zu Hause gegen Karlsruhe. Bevor ich mich mit meinen Freunden auf den Weg zum Parkstadion machte, nahm ich Gudrun noch einmal das Versprechen ab, dass sie heute endlich mit Wolfgang sprechen wolle. Das Spiel endete 6:2 für Schalke und Klaus Fischer schaffte in der ersten Halbzeit einen lupenreinen Hattrick. Voller Glückshormone kam ich also nach dem Spiel in unserem Vereinslokal an. »Hast du was gesagt?« war meine erste Frage an Gudrun. Sie schüttelte nur den Kopf. Die Kneipe füllte sich und Gudrun kam langsam ins Schwitzen. Nach zwei Alt mit Schuss ging ich hinter die Theke, fragte Gudrun, ob Wolfgang hinten in der Wohnung ist. Sie nickte. Ich ging durch die Küche in die Pächterwohnung und sah Wolfgang auf der Couch sitzen, der sich die Sportschau anschaute. Er schaute nur einmal kurz hoch und sagte mit leiser Stimme zu mir, fast so als ob er schon etwas ahnte »Hallo Rolf, gibt’s was?« Und dann verlief das Gespräch in etwa so:

»Liebst du Gudrun noch?«, fragte ich.

»Ja«, antwortete Wolfgang.

»Sie liebt dich aber nicht mehr«, sagte ich darauf.

Er fragte »Warum?«

»Na weil sie mich liebt!«

Es folgte eine Pause.

»Dann musst du aber oben ausziehen«, waren seine Worte.

Und ein kurzes »Mach ich. Tschüss!« gab es als Antwort von mir.

Ich drehte mich um, ging durch die Küche, nahm meine Gudrun an die Hand und zog sie vom Zapfhahn weg. Wir gingen aus der Gaststätte und ließen die verdutzten Gäste zurück. Natürlich habe ich meinen Deckel bei Wolfgang nicht mehr bezahlt, das hat später Gudrun übernommen. Er hat später irgendwann übrigens auch meinen „Liebesdeckel“ an Gudrun gefunden.

Noch heute erzähle ich unsere „Liebesgeschichte“ so: Eines Tages kam Gudrun zu mir und sagte »Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder du bezahlst deinen Deckel oder du heiratest mich.« Nachdem ich die Summe auf meinem Deckel gesehen habe, war meine Antwort klar: »Ok, wann hast du Zeit?« Manchmal glaube ich, meinen Deckel von damals hat sie bestimmt noch immer irgendwo versteckt, für alle Fälle …

Bei uns ist danach alles ziemlich schnell gegangen. Am 13. März 1976 gab es die Liebeserklärung, am 2. April 1976 holte ich Gudrun aus der Wohnung und 146 Tage später, am 26. August 1976, haben wir uns in Münster das Ja-Wort gegeben. Und heute sind wir 43 Jahre glücklich verheiratet.

»Es muss vom Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.«

(Johann Wolfgang von Goethe)