Unterrichtssituationen meistern 2 (E-Book)

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3 Brückentag 2018: Fallstudien aus den Brückenangeboten
3.1 Ausschreibung Brückentag

Zurück zum Brückentag: Mitte August 2018 erschien die Ausschreibung:

Am 11. Brückentag stehen herausfordernde Situationen aus dem Schulalltag mit Lernenden an Brückenangeboten im Zentrum, und zwar als Fallbeispiele. Es geht beispielsweise um

– den Umgang mit Teilleistungsschwächen wie der Autismus-Spektrums-Störung,

– traumatisierte Lernende und

– Jugendliche mit fehlender Motivation.

Die Tagungsteilnehmenden erhalten Gelegenheit, sich mit zwei Fällen auseinanderzusetzen und Lösungsmöglichkeiten für Lehrpersonen und Berufsbildende zu erarbeiten. Dabei lernen sie eine erprobte Schritt-für-Schritt-Vorgehensweise[9] kennen, die es ermöglicht, in das Geschehen einzutauchen.

Mit dem standardisierten Vorgehen wollen wir die Teilnehmenden anregen, eigene Überlegungen zu den Fallbeispielen anzustellen, sich mit anderen auszutauschen und schliesslich Situationen aus dem eigenen Schulalltag in ähnlicher Vorgehensweise[10] zu bearbeiten. Selbstverständlich hat man während des Unterrichtsgeschehens niemals Zeit, sich analytisch derart intensiv mit der Situation zu befassen. Aber je mehr man sich ausserhalb der Schulsituation mit konkreten Fällen in genauen Analysen auseinandersetzt, desto flexibler und angemessener kann man in konkreten Situationen auch handeln.

Auf der siebenseitigen Ausschreibung haben wir die Schritt-für-Schritt-Vorgehensweise erläutert und die Kurzfassungen der vierzehn Fallbeschreibungen publiziert. Mit diesen Informationen konnten sich die Interessierten bis Ende Oktober anmelden und zwei Fälle auswählen, die sie an der Tagung bearbeiten wollten. Die Langfassung der Ausschreibung mit allen Fallbeschreibungen erhielten die Teilnehmenden zusammen mit der Einladung Mitte November. Hier haben wir sie auch gebeten, mindestens diejenigen Fallbeschreibungen zu lesen, die sie mit der Anmeldung ausgewählt hatten.


Abbildung 1: Brückentag 2018: 170 Teilnehmerinnen und Teilnehmer und 50 Mitwirkende


Abbildung 2: Brückentag 2018: Für das leibliche Wohl sorgten Thomas Loderer mit Lernenden des IDM Spiez


Abbildung 3: Brückentag 2018: Lernende des IDM Spiez mit ihrem Buffet


Abbildung 4: Die beiden Tagungsleiter Rolf Gschwend und Dominik Bachmann

3.2 Fallbearbeitung: Vorgehensweise
Fallstudienarbeit – von der Problemanalyse bis zu Lösungsansätzen

Die genaue Analyse von konkreten Problemsituationen erweist sich als ein hilfreiches Instrument für die Unterrichts- und Ausbildungspraxis. Entscheidend ist dabei, dass eine Ausbildungs- oder Unterrichtssituation zunächst sorgfältig Schritt für Schritt untersucht wird, bevor Lösungen für ein anstehendes Problem entwickelt werden. Die Fallanalyse erfolgt in vier[11] Schritten: (1) das Beschreiben und Verstehen einer komplexen Situation, (2) das Herausschälen des eigentlichen Problems, (3) die Suche nach Erklärungen auf der Basis pädagogischen und psychologischen Wissens, (4) das Entwickeln von Lösungsansätzen. Dabei geht es stets darum, die konkrete Situation nicht aus dem Blick zu verlieren und Lösungsvorschläge daraufhin zu prüfen, ob sie für die Beteiligten plausibel und konkret umsetzbar sind. Am Brückentag hat ein Mitglied der Vorbereitungsgruppe die Fallstudienarbeit moderiert und eine Fachperson vermittelte im dritten Schritt notwendiges Fachwissen.


Abbildung 5: Vorgehensweise bei der Fallstudienarbeit. Unter der Frage «Was fällt auf?» wird der Fall zunächst beschreibend erfasst. Darauf aufbauend wird das zentrale Problem identifiziert, worauf sich die genaue Fallanalyse mit Erklärungsansätzen und Hintergründen anschliesst. Daraus werden Lösungsansätze abgeleitet und anhand der Fallbeschreibung überprüft

Vorgehensweise

Anfangs November 2018 trafen sich Moderierende und Dokumentierende zusammen mit einer Fachperson zu einem Vorbereitungstreffen. Ziel war es, die Vorgehensweise anhand eines Falls zu konkretisieren und offene Fragen der Moderation zu klären.

Grundsätze

Grundsätzlich haben wir festgehalten, dass bei einer Fallbearbeitung die gemeinsame Analyse im Zentrum steht, dass es nicht darum gehen kann, schon zu Beginn eine Lösung präsentieren zu wollen. Lösungsmöglichkeiten erarbeiten wir erst im vierten Schritt nach unserem Bemühen um die Analyse des Falls.

Zudem gilt die Abmachung, dass die Autorin oder der Autor des Falls anonym bleibt. In der Workshop-Gruppe, die den Fall bearbeitet, verhalten wir uns trotzdem so, als sei die Autorin oder der Autor anwesend. Das hat zur Folge, dass wir quasi laut nachdenken und uns bemühen, nicht zu urteilen. Falls eine Autorin oder ein Autor sich zu erkennen geben will, ist das selbstverständlich möglich. Allerdings gilt der Grundsatz, dass nur der Text Grundlage unserer Arbeit sein kann. Ansonsten besteht die Gefahr einer Verzettelung, die wir vermeiden wollen.

1. Was fällt auf? (ca. 30 Minuten)

Bevor das Gespräch beginnt, machen sich die Teilnehmenden Notizen.

Das Fallbeispiel wird im ersten Schritt beschreibend erfasst, nahe am Originaltext, jedoch paraphrasierend, mit Zitaten aus dem Text in Anführungszeichen, auffallende Formulierungen hervorhebend, möglichst nicht interpretierend. Dennoch finden sich in diesem ersten deskriptiven Schritt ab und zu Andeutungen von Interpretationen, die später in der vertiefenden Analyse wieder aufgegriffen werden. Ziel der Paraphrase des Falls ist das Sammeln der verschiedenen Sichtweisen, an denen später weitergearbeitet werden kann.

Leitfragen zum ersten Schritt:

– Was fällt Ihnen auf, wenn Sie den ganzen Text überblicken?

– Welche Details, Formulierungen, Redewendungen springen Ihnen ins Auge?

– Welche Stimmung vermittelt der Text?

2. Was ist das Problem? (ca. 20 Minuten)

Im zweiten Schritt unternehmen wir den Versuch, auf der Basis der vorausgehenden Deskription das zentrale Problem zu identifizieren. Es geht hier darum, das Problem zu verstehen. Die Problemformulierung sollte für die Workshop-Teilnehmenden nachvollziehbar sein. Selbstredend gäbe es aufgrund der Fallbeschreibung mehrere Probleme zu formulieren, zum Beispiel auch aus der Perspektive von Lernenden oder weiteren in den Fall involvierten Personen. Wir identifizieren jeweils das als Problem, was aus der Sicht der Lehrperson am dringlichsten erscheint, oftmals auch unter Einbezug der Befindlichkeit, die aus ihren Sätzen spricht.

Leitfrage zum zweiten Schritt:

– Was ist das dringlichste Problem aus der Sicht der Lehrperson resp. der Autorin, des Autors?

Ziel des zweiten Schritts:

– Wenn möglich «eine» Problemfrage formulieren.

3. Erklärungsansätze und Hintergründe (ca. 20 Minuten)

Im dritten Schritt beleuchtet eine Fachexpertin oder ein Fachexperte verschiedene Aspekte der Problemsituation aus theoretischer Sicht, jedoch immer unter Bezug auf den konkreten Fall. Es geht hier im Gegensatz zum ersten und zweiten Schritt darum, das geschilderte Geschehen zu erklären. Dieser dritte Schritt liesse sich beliebig ausbauen. Wir müssen allerdings berücksichtigen, dass wir mit dem Fallbeispiel einzig die Perspektive der betreffenden Lehrperson kennen. Einiges muss spekulativ bleiben. Wir beschränken uns in der Analyse auf das, was die Workshop-Teilnehmenden wichtig und besonders interessant fanden. Erst durch die genaueren Erklärungsversuche traten manchmal unerwartete Aspekte auf, mit denen die Fallanalyse theoretisch angereichert werden konnte.

4. Lösungsansätze (ca. 20 Minuten)

Zu Beginn des vierten Schritts überlegen sich die Teilnehmenden anhand der Leitfragen ihre Lösungsansätze. Danach stellen wir Lösungsansätze dar, die sich sozusagen als Früchte aus den bisherigen Schritten, vor allem aber aus dem dritten Schritt, ergeben. Bewusst sprechen wir hier von Lösungsansätzen, erstens weil es nicht die Lösung, sondern immer mehrere Möglichkeiten gibt und zweitens weil es sich nicht um fertige Lösungen handelt, die sich in der Praxis überprüfen lassen, sondern um Ansätze, die im konkreten Kontext weiterzuentwickeln oder anzupassen sind. Aufgrund der ersten drei Schritte sollten die Lösungsansätze nachvollziehbar und plausibel sein, zugleich auch so konkret, dass nicht involvierte Lehrpersonen daraus Vorgehensweisen für den eigenen Unterricht ableiten können.

Leitfragen zum vierten Schritt:

 

– Welche Lösungsansätze scheinen mir resp. uns zielführend?

– Was wäre möglich und sinnvoll?


Abbildung 6: Brückentag 2018: Die Moderatoren Hans-Kaspar Egli und Simon Stettler im Pausengespräch

4 Problem: Motivation

Dieses Kapitel handelt von Motivationsproblemen und deren möglichen Ursachen. Es geht um demonstrative Inaktivität während des Unterrichts, um das Nichteinhalten von Abmachungen, um Respektlosigkeit und um die Überzeugung eines Lernenden, der meint, das «schaffe ich nie».

Im Fallbeispiel «Eigentlich möchte ich gar nichts machen» geht es um einen Schüler, der präsent ist und in der Regel pünktlich zum Unterricht erscheint. Er fällt aber durch demonstrative Inaktivität und durch Missachten einfacher Bestandteile der Hausordnung auf. Zu Beginn der Lektionen muss er daran erinnert werden, dass er Smartphone und Kopfhörer im Gepäck verstauen möge. Täglich muss man ihn darauf hinweisen, seine Kopfbedeckung abzulegen. Häufig erscheint er nicht vollständig ausgerüstet zum Unterricht. Aufträge bearbeitet er nur sehr lückenhaft oder gar nicht. Er sucht oft die Toilette auf. Selten zeigt er eine Leistung und die minimalen Anforderungen erfüllt er kaum. Er hat bis heute keine Lehrstelle.

Im Fallbeispiel «Nullbock-Stimmung» sitzt ein Lernender die Zeit im Unterricht mehrheitlich nur ab. Im Unterricht hat er jeweils das Material nicht dabei und ist nicht bereit. Zudem nimmt er die Unterlagen erst nach mehrmaliger persönlicher Aufforderung hervor. Der Lernende macht sich von Inputs und Erklärungen an der Wandtafel keine Notizen. Aufgabenstellungen, die während des Unterrichts bearbeitet werden sollen, lässt er liegen und löst sie nicht. Manchmal schreibt er in der Mathematik irgendwelche unzusammenhängende Zahlen hin. Zudem kritzelt er das Pult immer wieder mit Skizzen und Zeichnungen voll. Hinzu kommen öfters wochenendverlängernde Absenzen. Die Mutter zeigt in Gesprächen immer wieder Verständnis für das Verhalten ihres Sohnes.

Im Fallbeispiel «Morgen komme ich bestimmt und bin voll dabei» fehlt ein Lernender öfters im Unterricht. Im Einzelgespräch mit der Lehrperson und im Coaching beteuert er immer wieder, dass er im SEMO Plus sehr gerne in den Unterricht komme und sich künftig anstrengen werde, um schulisch weiterzukommen. Nach solchen Aussagen ändert man für diesen Lernenden das individuelle Programm abermals und organisiert beispielsweise einen zusätzlichen Deutschkurs. Wie eine Nachfrage ergab, besucht er den Deutschkurs nach wenigen Tagen nicht mehr. Trotz Vereinbarung besucht der Lernende den Unterricht weiterhin nur sporadisch und hält sich nicht an die vereinbarten Abmachungen.

Im Fallbeispiel «Mir geht es schlecht und ich werde ungerecht behandelt» geht es um einen türkischstämmigen, erwachsenen Schüler, der seit zwei Jahren in der Schweiz bei seinem Vater lebt. Der Vater ist schon zwölf Jahre hier. Bisher kann der Lernende nicht belegen, dass er im Heimatland persönlich verfolgt wird, infolgedessen ist er labil, da eine Ausweisung droht. Er besucht den Unterricht nur teilweise, verhält sich passiv, leistet Widerstand und ist teilweise respektlos und fordernd gegenüber den Lehrerinnen.

Im Fallbeispiel «Ich kann gar nichts» steht ein Lernender im Zentrum, bei dem schon kurze Zeit nach dem Eintritt deutlich wird, dass er sich mit körperlicher Arbeit oder beim Sport wohler fühlt als beim Stillsitzen im Unterricht. Auffallend ist sein sehr negativ geprägtes Selbstbild. Er verhindert Erfolgserlebnisse, indem er sich gar nicht erst mit einem Auftrag befassen will. Denn er ist überzeugt, dass er es sowieso nie schaffen wird. Wenn er ausnahmsweise einen Auftrag erfolgreich gemeistert hat, kann er Lob kaum annehmen. Seine Resultate redet er jeweils klein und verweist auf die empfangene Hilfe sowie auf Glücksfälle.

4.1 «Eigentlich möchte ich gar nichts machen»

Rahmen

SEMO Standard[12]; Lernort Schule; alle Fächer; 19 Lernende, ca. 12 junge Männer, 6 junge Frauen; zwei Lehrerinnen, zwei Lehrer

Es ist Mitte Mai, einige sind schon seit August, also rund neun Monate im Programm, andere sind erst gerade eingetreten. Bei einigen verläuft die Lehrstellensuche schon (zu) lange erfolglos und die Luft ist langsam raus. Andere brauchen sehr viel Unterstützung, um bis im Juni eine Lehrstelle zu finden, denn diese werden rar.

Fallbeschreibung

Ich unterrichte eine Gruppe im Motivationssemester in den Fächern ABU, Deutsch, Mathematik und Persönlichkeitsbildung. Unser Ziel ist es, die Teilnehmenden mit den Anforderungen der Berufswelt und des Erwachsenenlebens vertraut zu machen (ABU) sowie schulische Lücken zu schliessen und den Anschluss an die Berufsfachschule zu gewährleisten (Mathematik, Deutsch). Der Schüler, von dem die Rede sein wird, trat im Februar 2018 in eine heterogene, aber angenehme Klasse ein. Mehrheitlich unterstützen sich hier die Lernenden gegenseitig.

Schon zu Beginn fiel sein Verhalten auf, er demonstrierte, dass er seinen Status nicht ändern und seine schulischen Lücken nicht schliessen wollte. Sozusagen bei jeder Begegnung mussten wir ihn daran erinnern, die Kopfhörer aus den Ohren zu nehmen, während der Arbeitszeit die Kopfbedeckung abzulegen und zu Beginn der Lektion sein Schulmaterial bereitzuhalten. Sämtlichen Aufforderungen kam er in der Regel kommentarlos nach, jedoch handelte er nie unaufgefordert.

Sowohl bei Übungen im Plenum als auch bei individuellen Aufträgen zur selbstständigen Bearbeitung musste ich ihn extra auffordern, endlich mit der Arbeit anzufangen. Dabei habe ich für Aufgaben gesorgt, die seinem Niveau angepasst und lösbar waren. Seltene Ergebnisse seiner Arbeiten haben das gezeigt; allein die Bereitschaft, selbstständig etwas anzupacken und aus eigener Kraft ein gutes Resultat zu schaffen, gab es nie. Und so wurden wir immer wieder enttäuscht.

Nach fast vier Monaten intensiver Betreuung konnten wir Lehrpersonen feststellen:

– Er blieb ein Stellensuchender.

– Er ging nur einmal schnuppern und erhielt wegen Passivität eine vernichtende Rückmeldung.

– Er konnte seine schulischen Lücken nicht schliessen, was für den Übertritt in eine Berufsfachschule zwingend notwendig gewesen wäre.

– Er erhielt wegen seiner nicht erkennbaren Leistung keine positiven Rückmeldungen und die Noten in seinem Schulzeugnis blieben tief.

Alle unsere Angebote und Versuche, den Schüler für die Mitarbeit zugunsten einer Leistungssteigerung zu bewegen, waren erfolglos. Wahrscheinlich war der Leidensdruck zu gering. Anstelle der Mitarbeit zog er das zermürbende Zeitabsitzen vor und gab sich mit seiner schwachen Leistung zufrieden.

Eine Bereitschaft, an sich und seinen Möglichkeiten zu arbeiten, gab es nicht.

Wir haben uns intensiv bemüht, die Ursache dieser Passivität zu ergründen, doch sie blieb uns verborgen. Das wiederholte Nichteinhalten von Abmachungen und zahlreiche unbegründete Absenzen führten nach vier Monaten zu einer letzten Verwarnung.

Was fällt auf?

Die Lehrperson bemüht sich intensiv um den Schüler: Sie hat sich Gedanken gemacht, Ideen entwickelt und viel Arbeit investiert. Dieser Einsatz hat aber keine sichtbaren Veränderungen gebracht. Die Formulierung «so wurden wir immer wieder enttäuscht» lässt vermuten, dass die Lehrperson das Ganze sehr persönlich nimmt. Aber worin besteht die Enttäuschung? Sind es die schlechten Leistungen? Geht es um das renitente Verhalten und um die Passivität? Oder geht es um die Tatsache, dass die Lehrstellensuche nicht erfolgreich war? Daraus ergibt sich auch die Frage nach der Befindlichkeit der Lehrperson: Ist sie auch über sich selbst enttäuscht, weil ihre Bemühungen keine Veränderungen bewirken konnten?

Die Lehrperson nimmt den negativen Verlauf des Falls persönlich. Zu Beginn schreibt sie in der Ich-Form später in der ersten Person Plural. Die Unterrichtenden haben sich offenbar ausgetauscht und gemeinsame Anstrengungen unternommen. Weil sich der Schüler nicht veränderte, ergab sich daraus eine von Enttäuschungen geprägte Grundstimmung bei den Unterrichtenden. Von der schreibenden Lehrperson wird dies zumindest so empfunden. Die Lehrpersonen scheinen hilflos und leicht aggressiv.

Der Schüler ist während des gesamten Schulalltags passiv. Arbeiten erledigt er nur, wenn er aufgefordert wird. Aber er leistet nicht aktiven Widerstand; so kommt er den Aufforderungen der Lehrpersonen nach, macht aber nie etwas darüber hinaus. Es scheint, als «flottiere er im Wasser»: Er ist anwesend, bewegt sich nie, ausser wenn es sein muss. Diese Passivität wirkt, als sei er trotz seiner körperlichen Präsenz nicht anwesend. Das Verhalten des Schülers erzeugt ein Bild ähnlich einem Puzzle, das mit fehlenden Teilen in der Schule erscheint.

Die Lehrpersonen haben den Eindruck, dass der Schüler seinen Status, seine Inaktivität, nicht ändern will, dass kein Bestreben nach einem beruflichen Fortkommen vorhanden ist. Und ihr Eindruck wird bestätigt durch die Rückmeldungen aus dem Betrieb, in dem der Schüler die einzige Schnupperlehre absolviert hat. Zudem hat der Schüler seine schulischen Lücken nicht schliessen können.

Die Regelverstösse begeht der Schüler demonstrativ, sie sind ihm also bewusst. Das ist ein Unterschied zu einem unbewussten Handeln, denn die Regelverletzungen «passieren ihm nicht einfach so».

Die Formulierung «der Leidensdruck war zu wenig gross» führt zur Frage: Wo muss man denn drücken? Gäbe es vielleicht eine Hoffnung auf Veränderung, wenn man an der richtigen Stelle drücken würde?

Die passive Anwesenheit des Schülers hat auch positive Seiten. Er ist anwesend und kommt pünktlich zum Unterricht. Er ist passiv, geht aber nicht in den Widerstand, wenn etwas von ihm erwartet wird. Er führt den Auftrag aus, wenn er dazu aufgefordert wird, aber er muss jedes Mal aufgefordert werden. Steckt dahinter eine Art Kontaktsuche?

Die Inaktivität des Schülers wirkt kraftlos. Andererseits ist Kraft vorhanden. Das zeigt sich in der Sturheit, denn er trägt dauernd Kopfhörer und eine Kopfbedeckung, obwohl beides nicht gestattet ist. Vermutlich stört er damit auch die Klasse. Davon ist im Text keine Rede, aber man könnte das aus Erfahrung annehmen.

Zum Schluss Hinweise zur Wortwahl: Die Worte «nie» und «immer» werden im Text häufig gebraucht. Auffallend ist auch die Formulierung, dass die Rückmeldung des Schnupper-Lehrbetriebs «vernichtend» war.

Was ist das Problem?

Augenscheinlich ist die Inaktivität des Schülers.

Folgende Fragen ergeben sich aus der Auseinandersetzung mit dem Fall:

– Was ist eigentlich der Zweck seines Verhaltens?

– Interessieren sich die Lehrpersonen für diesen Zweck?

– Wie kann der Teufelskreis «Negative Rückmeldungen erzeugen Passivität und Desinteresse, also das Festhalten am gewohnten Status» durchbrochen werden?

– Bei all dem gezeigten Desinteresse des Schülers stellt sich die Frage, was interessiert ihn eigentlich? Gibt es ein Thema, für das er sich begeistern kann?

– Das Verhalten des Schülers erscheint wie die Spitze eines Eisbergs, der grösste Teil des Problems ist möglicherweise verborgen. Wie kann die Lehrperson mehr über die Hintergründe des Verhaltens erfahren?

– Kann man den Schüler dazu bringen, für sein Leben Verantwortung zu übernehmen? Kann man initiieren, dass der Lernende seine Rolle überdenkt?