Das Erwachen der Gletscherleiche

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Z serii: Lindemanns #313
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Vier Mountainbiker huschten auf ihren superleichten Carbonfaserrädern hintereinander die steile Wintererstraße entlang. Sie führte aus Freiburgs Innenstadt direkt durch die sonnige und maßlos überteuerte Berglage des Stadtteils Herdern hinauf Richtung Roßkopf, zum Ziel der Tour. Die vier Radfahrer knechteten die Pedale mit beachtlichem Elan, obwohl dem einen am Bäuchlein, dem anderen am gelichteten Haarschopf und dem nächsten am ausladenden Hintern durchaus das fortgeschrittene Alter anzusehen war. Sie fuhren alle das Teuerste, was der Mountainbike-Fachhandel zu bieten hatte: Sram-X0-Antrieb, Shimano-XT-Schaltung, Carbonrahmen, Spezialdämpfer, Intense-Hinterbau. Der jüngste und fitteste der ebenso verbissenen wie sich selbst maßlos überschätzenden Feierabendamateure war Armin Röller. Im papageienfarbenen, eng anliegenden Trikot, mit verspiegelter Rennbrille, einem Schweißtuch um die Stirn und die Finger in schwarz-weiß geriffelte Rennhandschuhe von Castell gepresst, das Paar zu 120 Euro, ging er die ersten hundert Meter des steilen Anstiegs im lockeren Sprint an. Mal sehen, was die Kumpels so drauf hatten. Direkt im Nacken spürte er den ersten Verfolger, Franz, den Ingenieur, die unzerstörbare Kampfsau, ein Kerl, der sich nie abhängen und nie unterkriegen ließ. Dann folgte Charly, der Journalist, zwar ein Leichtgewicht, aber mit bald 50 Jahren der Älteste der Truppe. Den Schluss bildete wie immer Egon, der zwar das teuerste Fahrrad fuhr, aber auch den größten Ranzen mit sich schleppte.

Die vier Freunde trafen sich mindestens einmal die Woche, um im Sommer mit dem Mountainbike oder auf dem Tennisplatz, im Winter beim Skifahren, ihre Kräfte zu messen. Sie gingen es stets als Ausgleichssport nach einem anstrengenden Bürotag an, aber es endete meist in einem verbissenen Wettkampf um den Tagessieg. So stand auch jetzt schon fest, dass sie nicht gemütlich hinauf auf den Roßkopfgipfel kurbeln würden, sondern dass es ein echtes Ausscheidungsrennen geben musste. Armin konnte nicht anders. Bei ihm musste es immer ein Wettbewerb sein. Und selbstverständlich musste er als Sieger vom Platz gehen. Er hatte den Vorteil der Jugend. Er war Mitte dreißig, Franz der Ingenieur und Egon der Werbegrafiker standen schon reif in den Vierzigern. Alle saßen sie in gutbezahlten Führungspositionen, wie Armin beim Landratsamt, Franz beim Energieversorger, oder sie waren erfolgreiche Selbstständige – Egon, der Werbegrafiker, Charly, der Journalist. Jedenfalls waren sie alle gut saturierte, anspruchsvolle, kultivierte und wählerische Kenner von Küche und Weinen. Und sie strotzten vor Fitness und Körperbräune. So eine abendliche Tour hinauf auf den Roßkopf war ganz nach ihrem Geschmack. Hernach ging es dann auf der Gundelfinger Seite wieder den Berg hinunter und am Ende irgendwo in Waltershofen, Merdingen oder Opfingen zur Einkehr in die Strauße. Jetzt ging Armin Röller aus dem Sattel, nahm die letzten Meter bis zur Eichhaldenstraße im lockeren Sprint. Franz blieb an seinem Hinterrad. Die Eichhalde zählte zu den besten Wohngegenden in Freiburg. Hier wohnte unter anderem Jens-Merten Föllstiegel, der Geschäftsführer von BioGen. Hier konnte man Edelstahldachrinnen zu 500 Euro den laufenden Meter besichtigen, Balkone, so groß wie andernorts ganze Einfamilienhäuser, die abenteuerlichsten Dachkonstruktionen, entworfen von inspirierten Luxusarchitekten, akkurat gezogene Serpentinen, mit roséfarbenen Kieseln bedeckt, tief in den Berg versenkte Doppel- und Dreifachgaragen, in denen mindestens Porsche, Audi und BMW auf ihren Einsatz warteten, parkähnliche Gartenanlagen, Schmiedeeisernes und Handgemauertes, Skulpturen, Windspiele, Türmchen und Erker, Swimmingpools, Tennisplätze und spiegelverglaste Wintergärten. Manchmal sah man auch einen Menschen. Das war aber die Ausnahme.

Armin fegte durch die Eichhalde, ohne jeden Blick für die romantische Schönheit der mit handbehauenen italienischen Pflastersteinen ausgelegten Garagenzufahrten. Er erreichte den bis an die Wohnbebauung herabreichenden Waldrand, an dem ein Wanderweg stetig bergan führte, hinüber zum Nachbarweiler Wildtal, von dem aus es dann ambitioniert hinauf auf den Roßkopf ging. Vierhundert Höhenmeter auf vier Kilometern Strecke.

Der Roßkopf ist rund 750 Meter hoch. Weder ist er Freiburgs höchster Berg, diese Ehre gebührt dem über 1200 Meter hohen Schauinsland, noch Freiburgs prominentester, das ist der Schlossberg, und auch nicht Freiburgs vielbesuchtester, das ist nämlich der von Schorletrinkern überlaufene Schönberg. Aber der Roßkopf ist der unverwechselbarste, denn auf seinem Rücken drehen sich vier mächtige Windräder, die man schon auf viele Kilometer Entfernung sieht, etwa wenn man auf der A5 von Karlsruhe oben herunter kommt, wenn man vom Hochschwarzwald ins Rheintal hinunter fährt, vom Elztal aus, vom Glottertal, vom Dreisamtal und von jedem anderen Tal im Umkreis von 30 Kilometern. Kein Wunder also, dass diese Windräder auch Ziel vieler Mountainbike-Touren sind, die Stelle, an der sich die Bergwertung entscheidet.

Als dieses Ziel nun nach knapp eineinhalbstündigem Aufstieg auch der von Armin Röller angeführten Radlergruppe vor Augen stand, kam es zu dem gefürchteten Schlussspurt. Armin warf sich in den Lenker, keuchte wie ein pneumatisches Pferd und trat in die Pedale, dass die Steine unter den groben Reifenstollen davon spritzten. Franz hielt mit, belegte aber oben am Windrad nur Platz zwei. Mit etwas Abstand folgte Charly, mit einem Kopf, so rot wie ein Truthahn in der Balz, nassgeschwitzt bis in die letzte Ritze, aber nicht wirklich abgehängt.

So war er, dieser „Charly“ Katz. Man wähnte ihn schon hinter sich, schon längst aus dem Rennen, abgeschlagen und ausgeschieden, da tauchte er wieder auf. Im Feierabendsport wie im Beruf. Er verdiente sein Brot als freier Journalist, wozu ihm das grüne Universitätsstädtchen Freiburg auskömmliche Schlagzeilen lieferte. Charly verkaufte seine Geschichten an Radiostationen, Fernsehsender, Illustrierten und Tageszeitungen in der ganzen Republik, er verschmähte aber auch die örtliche Badische Zeitung nicht als Abnehmer, ebenso wenig wie die vielen kleinen Lokal- und Anzeigenblättchen. Fürs Zeilenhonorar schnüffelte er ohne Ansehen der Person hinter jedem her. Er trieb sich beim Kleingartenfest des Hasenzüchtervereins ebenso herum wie im Separée des Stadttheaters. Er interviewte den Erzbischof und den SC-Trainer, den Unirektor und den Chef des Energieversorgers Badenova. Er war per Du mit fast allen Gemeinderäten und mit jedem Amtsleiter im Rathaus. Er kannte alle Wirte der Stadt und alle Kaufleute, alle Bankdirektoren – von denen es eine ganze Reihe gab – und jeden Geschäftsführer, jeden Künstler und jeden namhaften Sportler. Ein besonderes Netzwerk pflegte er bei Polizei, Feuerwehr, THW und allen verwandten Einrichtungen. Arglos vertrauten ihm Hochschulprofessoren, Brauereichefs und die Funktionäre des Landwirtschafts- und Weinbauverbandes ihre Geheimnisse an. Karlheinz Katz hatte die Ohren überall und er roch die guten Geschichten meilenweit gegen den Wind.

Charly war ein Schnüffeljournalist, wie er im Buche steht, gefürchtet für seine Frechheit, bewundert wegen seiner Unerschrockenheit, respektiert wegen seiner Hartnäckigkeit. Und immer unterschätzt. Man sah einen unscheinbaren, dünnen Kerl, mit federdünnen Blondhaarsträhnchen, die wie junger Hühnerflaum bis in seinen Kragen wucherten, meist in schäbiger Windjacke und Jeans, mit unschuldigen Augen von reinstem Himmelblau. Die Leute, die zum ersten Mal mit ihm zu tun bekamen, nahmen ihn selten richtig ernst. Das war sträflicher Leichtsinn. Charly Katz war ein Raubtier. Aber wenn man es merkte, war es meistens zu spät.

Nun fiel dieses Raubtier vom Sattel und kippte neben Armin Röller ausgepumpt ins Gras, das spärlich rund um die Fundamente des Windrades spross. Sie schnauften erschöpft in den blassblauen Himmel. Nachdem Armin wieder zu Atem gekommen war, stopfte er sich Cerealienriegel in den Mund und spülte mit einem ISO-Drink nach. Charly war völlig erledigt. Das gefiel Armin. Nicht nur, dass er der Schnellste war, Erster am Berg, sondern auch, dass er sofort wieder regenerierte, während die anderen noch japsend auf dem Boden lagen. Er zückte sein Handy und knipste frech Beweisaufnahmen vom röchelnden Charly und vom ausgepumpten Franz und zuletzt auch vom abgehängten Egon, der erst jetzt die letzten Meter den Berg heraufgewankt kam. Bei Egon dem Grafiker war es immer dasselbe: Er kam als Letzter an und brachte immer auch gleich die Ausreden dafür mit. „Die Schaltung hat geklemmt! Ich konnte nicht mehr in die niedrigen Gänge.“

Jeder wusste, dass das eine Vertuschungslüge war, aber man verzieh es ihm. Dafür war Egon ein hochveranlagter, wenngleich sich selbst leicht überschätzender Hobbykoch, der die anderen gerne zu ambitionierten Vier-Gänge Menüs einlud. In den Küchendisziplinen war nun wieder Armin ein vollkommener Versager, so dass sich die Talente ausglichen.

Armin setzte seine Fotodokumentation fort. Egon flehte „Lass dass!“, ehe er alle Viere von sich streckte.

„Löschen!“, knurrte Charly. Armin bleckte das polierte Gebiss und scrollte durch die Bilddateien. Plötzlich stockte er, hielt ein Bild an und vergrößerte es. Er hob sein Handy Charly vor die Nase: „Schau mal, was tippst du, was das ist?“

Charly setzte sich auf und blinzelte gegen die Sonne: „Kann nichts erkennen, es blendet. Gib mal her!“ Er zog Armin das Handy aus der Hand und studierte die Aufnahme. „Ziemlich verschwommen. Es regnet, würde ich sagen. Und was ist das da? Ein Ast ...?“

Armin schüttelte den Kopf: „Eine Leiche!“

Franz kam dazu, um auch einen Blick auf die Aufnahme zu werfen. Armin musste jetzt die ganze Geschichte erzählen. Er tat es mit Vergnügen. Und mit einigen Ausschmückungen. Er prahlte mit der Tour auf den Morteratsch-Gletscher: „Bei einem Sturm, wie ihn der Bergführer noch nie erlebt hatte.“ Und sprach die Finderrolle sich selbst zu, als er von der Entdeckung der gefrorenen Hand im Gletschereis berichtete.

 

Charly griff sich nochmals das Handy und studierte die Aufnahme. Die Geschichte war ganz nach seinem Geschmack, vor allem das Finale, als Armin aufdrehte: „Und dann erfahren wir von diesem Tölpel von Polizeigendarm, dass man ihm die Leiche bei Nacht und Nebel gestohlen hat. Einfach herausgesägt aus dem Eis. Von Unbekannten!“

Charly war gefesselt: „Das ist ja ein Hammer. Und es hat noch nichts davon in den Zeitungen gestanden? Das ist eine Riesenstory. Ich könnte dich doch als Zeugen ...“

Armin wehrte ab: „Nein, bitte nicht. Wenn das die Landrätin liest, das kommt nicht gut. Frag lieber Mona. Die war ja auch dabei und hat alles miterlebt. Und die erzählt es ja auch jedem. Ihren dämlichen Chef hat sie noch in der gleichen Nacht angerufen ...“ Jetzt erzählte er auch noch die Einzelheiten vom nächtlichen Telefonat aus dem Hotelzimmer, sowie weitere Details aus dem Verhör durch die Polizei. Für Charly war es unerklärlich, dass noch nichts in den Zeitungen gestanden hatte. Er nahm sich vor, zu Hause sofort alle einschlägigen Schweizer Medien zu durchforsten. So ein Leichendiebstahl konnte doch nicht unter der Decke gehalten werden. Vorsichtshalber ließ er sich die Telefonnummer von Mona im Institut geben, falls weitere Recherchen erforderlich sein sollten. Dann überredete er Armin, ihm das Handybild per Mail zu schicken. Die Story nahm in seinem Kopf Gestalt an. Erst einmal exklusiv der BILD anbieten? Die zahlten gute Honorare, wenn sie eine Geschichte alleine hatten. Plötzlich hatte Charly es sehr eilig, die Rückfahrt anzutreten. Aus der geplanten Einkehr im „Bahnhöfle“ in Gundelfingen würde nichts werden.

*

Bei Kriminalfeldweibel Urs Rüthli läutete der Fernsprecher. Korporal Hürzeler am Nachbartisch hob den Kopf. Rüthli war nicht da. Er geisterte noch immer in Pontresina und St. Moritz herum und vergeudete seine Zeit mit Zeugenbefragungen und unnützen Gletscherexkursionen. Hürzeler ließ es zweimal läuten. Eigentlich war er nicht verpflichtet, Rüthlis Telefon abzunehmen. Er kannte jedenfalls keine entsprechende Vorschrift. Und Rüthli hatte es ihm ja auch nie ausdrücklich aufgetragen. Es klingelte weiter, ein drittes und ein viertes Mal. Hürzeler legte die Akte mit dem langweiligen Vorgang zur Seite, den er gerade in Bearbeitung hatte. Das Telefon läutete unverdrossen weiter. Hürzeler sah sich um. Er könnte es ungestraft läuten lassen. Er könnte auch kurz abnehmen und wieder auflegen. Immerhin war es kurz vor 18 Uhr und damit kurz vor Feierabend.

Das Diensttelefon gab keine Ruhe. „Hörsch emol uff mit schällä!“, fauchte Hürzeler. Fluchend bequemte er sich aus seinem Stuhl, umrundete den Schreibtisch und trat auf Rüthlis Seite. Er griff nach dem Hörer, verharrte aber mit ausgestreckter Hand in der Luft. Dass es jemand so hartnäckig klingeln ließ?

„Ich rufe wegen der Gletscherleiche an“, erklärte Charly Katz, „die über Nacht verschwunden ist.“

Hürzeler war nicht wirklich ein Dummkopf. Er war nur kein guter Polizist. Er dachte nicht wie ein Polizist und er handelte nicht wie ein Polizist. Und so versäumte er es, den Anrufer an den Presseoffizier zu verweisen, was seine Pflicht gewesen wäre. Erst Recht versäumte er es, den Ahnungslosen zu spielen, was im Falle laufender Ermittlungen immer die oberste Devise war. Er versäumte es auch, dem anrufenden Charly Katz erst einmal auf den Zahn zu fühlen, wer er denn überhaupt sei und was er bereits wisse, was er nur vermute, was er beabsichtige. Stattdessen fühlte Hürzeler sich geschmeichelt, dass ihn ein Journalist befragte, und er wuchs zu bisher nicht gekannter Bedeutung. Und so kam es, dass Korporal Pirmin Hürzeler viel zu viel erzählte. Die ganze Geschichte, von Anfang an.

„Und wie war das noch mal mit dem Bergwachtschlitten?“, hakte Charly Katz nach. „Wissen Sie genau, dass der aus dem Schwarzwald stammte?“

Hürzeler wusste es ganz genau. Er konnte sogar detailliert die Ortsgruppe nennen: „Gschtüüber choo bi derre Bergwacht Feldberg. Un zwar in de Nacht vum ...“ Er musste im Protokoll nachschlagen. „... vum sechsäzwanzigscht uf de sibbenezwanzigscht. September!“

„Tschuldigung, gschtüüber cho ...? Ich verstehe nicht? “, setzte Katz nach.

„Gschtohle!“, präzisierte Hürzeler.

„Und die Kiste mit den Motorsägen? Auch gestohlen?“

Hürzeler zögerte mit der Antwort. Das war eine der Fragen, die sein Vorgesetzter noch nicht befriedigend hatte klären können. Das Problem war in diesem Falle der grenzüberschreitende Informationsaustausch. Die von Rüthli und der Kripo Graubünden beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg beantragte Amtshilfe musste auf deutscher Seite erst durch verschiedene Instanzen bis zur Kripo in Freiburg hinabgereicht werden, ehe von dort Antworten zu erwarten waren. Aber das sagte Hürzeler dem neugierigen Journalisten nicht. Er verlegte sich stattdessen aufs Spekulieren und bemühte sich um astreines Hochdeutsch: „Vermutlich gestohlen. Ja, das ist anzunehmen. Wir ermitteln noch.“

Hürzeler gab auch noch preis, dass in der Blechkiste Spuren von Hammel- und Lammfleisch festgestellt wurden und dass dies eine heiße Spur sei. Wohin sie führte, vermochte er nicht zu sagen.

Charly hatte genug erfahren, um seine Geschichte noch am gleichen Abend der BILD in Stuttgart und dem BLICK in Zürich anzubieten, die beide mit Handkuss zugriffen. So eine Schlagzeile hat der Boulevard schließlich nicht alle Tage: „Entführte Deutsche Bergwacht Schweizer Gletscherleiche?“

*

Am nächsten Tag versuchte Charly Katz in aller Frühe mit Mona Hohner zu telefonieren. Er kannte die Freundin von Armin nur vage. Es kam nicht allzu häufig vor, dass der bei reinen Männerveranstaltungen wie Tennis, Skifahren und Mountainbiken seine Freundin mitbrachte. Und bei den wenigen geselligen Anlässen, etwa einem gemeinsamen Grillen in Egons Garten, saß Mona meist stumm etwas abseits. Charly hatte nicht mehr als drei oder vier Sätze mit ihr gewechselt. Aber immerhin wusste er, dass sie in einem Forschungsinstitut namens BioGen im Freiburger Industriegebiet Nord arbeitete. Dort rief er an.

„MonaHohnerInstitutBioGendasBürovonProfessorAschendorfferWaskannichfürSietun?“, meldete sie sich. Das Ganze war ein Wort.

Charly nannte seinen Namen und wartete, ob bei Mona der Groschen fiel. „Ah, Charly! Der Charly von Armin. Ich habe die Stimme gar nicht gleich erkannt. Aber Armin ist, ... der arbeitet nicht bei uns. Der ist im Landratsamt. Wollen Sie ..., äh ..., willst du seine Nummer dort?“

„Nein! Ich rufe nicht wegen Armin an. Ich wollte mit dir reden.“ Charly hatte entschieden, mit der Tür ins Haus zu fallen. Manchmal erzielte man damit die besten Ergebnisse. Überraschungsmoment!

„Ich recherchiere gerade so einen komischen Fall. Armin hat mir diese Geschichte mit der Gletscherleiche bei Sankt Moritz erzählt. Und dass die Polizei jetzt eine Leiche sucht ...“ Charly ließ diese Sätze wirken. Er hoffte, dass Mona so früh am Morgen die BILD noch nicht gelesen hatte. „Ich dachte, du könntest mir ein bisschen mehr davon erzählen.“

„Ich ...“, Mona stockte.

„Ja?“, Charly wartete, ein leichtes Drängeln im Tonfall.

„Ich weiß nichts“, piepste Mona zaghaft.

Der Tonfall freute Charly Katz, versprach er doch genau das Gegenteil: „Nur ein paar Minuten, ein paar Fragen. Es geht nicht lange.“

„Ich weiß wirklich nichts.“ Jetzt klang Mona wieder entschlossener. Sie hatte sich gefasst.

„Wer außer dir, Armin und dem Bergführer hat denn überhaupt noch von dem Leichenfund gewusst?“, fragte Charly, Monas Widerstand ignorierend.

„Ich weiß nicht?“, wehrte sie sich.

„Hast du es denn noch jemandem erzählt?“

Kurzes Stocken. Dann schnell die Antwort: „Nein, sagte ich doch.“

„Das hast du nicht gesagt. Armin meinte, du hättest es deinem Chef erzählt, Professor ... wie heißt er doch gleich wieder?“

Wieder eine kurze Pause auf Monas Seite der Leitung.

Charly wartete. Er machte sich Notizen. „Bist du noch dran?“

„Ja, ja! Aber ich weiß wirklich nichts. Und ich möchte auch nicht darüber reden. Ich ..., bitte! Und außerdem muss ich jetzt Schluss machen!“

Sie legte ohne weitere Höflichkeitsfloskeln den Hörer auf.

Er wählte die Nummer unverzüglich noch einmal.

„Ich bin’s noch mal, Charly. Ich wollte nur ...“ Mona Hohner hatte wieder sofort aufgelegt. Nachdenklich blickte Katz auf den Hörer in seiner Hand.

*

Gegen Mittag hatte Mona dann doch die aktuelle Ausgabe der BILD-Zeitung gelesen. Sie kam gar nicht daran vorbei, denn Meslut Kaymal brachte einen ganzen Stapel mit ins Institut. Er trug die Zeitungen auf dem Arm wie ein Oberkellner die Servietten, marschierte nacheinander in die Büros von Dr. Biesthal, Dr. Amresh, Dr. Schröder, Dr. Westphal und schließlich zu Mona ins Vorzimmer von Professor Aschendorffer und legte das Blatt jedem der Genannten auf den Schreibtisch, und zwar aufgeschlagen auf der Seite mit der Schlagzeile: „Entführte die Deutsche Bergwacht eine Schweizer Gletscherleiche?“

Mona sah auf.

Kaymal rollte die Augen, grinste wie ein erfolgreicher Pferdehändler, deutete mit seinen dicken Fingern auf die Schlagzeile: „Da, lese du! Isse alles falsch!“

Institutsleiter Jens-Merten Föllstiegel war noch nicht eingeweiht, alle übrigen Angestellten des Instituts wussten selbstverständlich ebenfalls nichts davon, dass Professor Aschendorffer eine 5500 Jahre alte gestohlene Leiche unten in seinem Kühlraum aufbewahrte.

Mona zwang sich, nach der Schlagzeile weiterzulesen. Im Untertitel, die Buchstaben immer noch groß genug für eine Suppenreklame, hieß es: „Touristen finden Toten im Eis bei St. Moritz. Über Nacht gestohlen. Deutsche Bergwacht lässt Schlitten am Tatort.“

Ein unbehagliches Gefühl beschlich Mona, dass hier etwas Dimensionen annahm, die so nicht vorhersehbar waren. Sie las mit zitternden Händen weiter: „Bergführer Bernie Häglmooser (34) zu BILD: ‚Ich wusste gleich, dass das eine besondere Gletscherleiche ist. Sie hatte etwas Dämonisches.’ Und Kripo-Ermittler Hürzeler von der Kantonspolizei in Chur verriet: ‚Die Ermittlungen gehen nach Deutschland.’ Von dort stammte der Bergwachtschlitten, der in der Nähe des Tatorts gefunden wurde. – Hat die Deutsche Bergwacht heimlich einen verunglückten Kameraden geborgen?“ Mona las die Autorenzeile: „Von unserem Korrespondenten Charly Katz , Freiburg.“ Aha, daher wehte der Wind.

„Was du sage?“, wollte Kaymal wissen. „Zeitung spinnt echt, ey! Da stimmt nixe. Gar nixe!“

„Ich zeig’s dem Professor“, versprach Mona, obwohl ihr davor graute. Aschendorffer würde mit ihr schimpfen, obwohl sie doch gar nichts für diesen Artikel konnte. Da war Armin schuld. Der hatte diesem Charly Katz alles erzählt. Wie gut, dass sie selbst den Mund gehalten hatte.

Da täuschte sie sich. Sie hätte besser irgendeine lauwarme Halbwahrheit erzählt, dann hätte sie Charly Katz vielleicht getäuscht und abgewimmelt, jedenfalls fürs Erste von ihrer Spur abgebracht. Ihr beredtes Schweigen am Morgen aber hatte den alten Journalistenfuchs erst neugierig gemacht. Charly saß in diesem Moment auf einer Böschung hinter einer Hagebuttenhecke auf dem zum BioGen-Institut benachbarten brachliegenden Grundstück und richtete seinen Feldstecher auf das BioGen-Gebäude. Er saß da schon seit einer halben Stunde und sah aus wie ein harmloser Ornithologe, für den Fall, dass die Spaziergänger oder Radfahrer, die unten an der Böschung auf dem kleinen Weg verkehrten, zufällig zu ihm heraufsahen. Er wollte unentdeckt bleiben, aber dennoch sofort mitbekommen, wenn Mona das Gebäude verließ. Wenn sie nicht per Telefon mit ihm reden wollte, dann würde er sie eben auf dem Nachhauseweg abfangen.

Das Institut kannte nur wenig Publikumsverkehr. Charly zählte binnen einer Stunde lediglich vier Besucher. Zwischendurch wurde ihm so langweilig vom Betrachten der öden Fassade, dass er mit seinem Fernglas die Umgebung absuchte. Der graue Schleier eines diesigen Oktobernachmittags lag in der Luft. Jenseits der Böschung öffnete sich der Blick auf den monströsen Komplex der ehemaligen Rhombia-Fabrik, im Rücken konnte er mit dem Feldstecher bis auf das Gelände des Freiburger Kleinflughafens blicken, und Richtung Westen tauchten die Konturen des Solaren InfoCenters und der Freiburger Messe auf. Er saß mitten im Industriegebiet Nord, umzingelt von Büro- und Zweckbauten, und das Institut gehörte hier zu dem ehrgeizigen Projekt eines Freiburger „BioValley“, das einst vom Freiburger Wirtschaftsförderer ausgerufen worden war. Charly kehrte mit dem Feldstecher wieder zum Eingang des Gebäudes zurück. Gegen 15.30 Uhr verließen die ersten Mitarbeiter das fünfstöckige Gebäude.

 

Zuvor hatte Charly von BioGen lediglich den Namen gekannt. Was dieses Institut forschte oder entwickelte, wusste er noch nicht. Das hatte er am Abend zuvor im Internet recherchiert. Das Gebäude war von einem drei Meter hohen, massiven Eisengitterzaun umgeben, der sich oben nach außen wölbte und in gezackten Spitzen endete. Charly hielt Ausschau nach einer integrierten Starkstromleitung, konnte aber nichts entdecken. Über dem Eingangstor, das sich kameragesteuert öffnete und schloss, hielten zwei Videoaugen Wache. Das ganze Gelände schien gut gesichert zu sein, aber die Sicherheitsvorkehrungen waren für einen professionellen Eindringling sicher nicht unüberwindlich. Katz schoss aus seinem sicheren Versteck heraus mit dem Teleobjektiv ein paar Aufnahmen.

Plötzlich stutzte er. Es gab seitlich am Gebäude einen Nebenausgang, eine Stahltür, wie man sie von Trafohäuschen kennt, und die öffnete sich jetzt von innen. Katz nahm die Tür mit seinem Feldstecher ins Visier. Ein südländisch aussehender Mann schob einen Schubkarren aus der Tür ins Freie. Der Mann trug einen Arbeiterschurz, Bauarbeiterhandschuhe und eine Schildmütze. Ein borstiges Bärtchen zierte die Oberlippen, schwarze Krauthaare bildeten einen topfartigen Helm, im Mund des Mannes wippte eine Zigarette. Charly ließ den Blick durch das Fernglas an der Gestalt hinunter wandern. Es war ein kräftiger Mann, mit breiten Schultern und einem mächtigen Oberkörper. Die starken Arme hielten den Schubkarren gepackt wie einen mittelalterlichen Pflug, mit dem es einen Steinacker zu durchwühlen galt. Der Schubkarren war gefüllt mit großen, runden Steinen, nein keine Steine, das waren ... Charly Katz stutzte und setzte das Fernglas ab. Aber ohne Fernglas erkannte er gar nichts. Er hob es wieder vor die Augen, stellte schärfer. Der Schubkarren war bis an den Rand gefüllt mit tiefgefrorenen Brathähnchen. Wo gab es denn so etwas?

Wurde bei BioGen mit Geflügel experimentiert? Der Mann schob seinen Schubkarren an der Gebäudefront entlang zu einem auf der Gebäuderückseite befindlichen Parkplatz. Dort stand ein blauer Renault Kangoo mit geöffneter Schiebetür. Der Mann schaufelte die Brathähnchen mit seinen großen Arbeiterpranken achtlos vom Schubkarren ins Innere des Wagens. Dann kehrte er mit dem Schubkarren wieder ins Gebäude zurück. Nach einigen Minuten erschien er erneut. Wieder war der Schubkarren voll beladen mit tiefgefrorenen Brathähnchen, die der emsige Südländer ebenfalls in den kleinen Lieferwagen lud. Insgesamt brachte er vier Fuhren aus dem Gebäude heraus. Dann setzte er sich ans Steuer des Kangoo und fuhr davon. Charly verfolgte den Wagen von seinem erhöhten Aussichtsplatz aus, so weit es möglich war. Das Fahrzeug verschwand Richtung Innenstadt. Katz konnte sich keinen Reim darauf machen.

Ehe er lange nachgrübeln konnte, wurde seine Aufmerksamkeit von Mona Hohner in Anspruch genommen. Sie trat gerade aus dem Haupteingang, warf sich eine Handtasche von den Ausmaßen eines Autoreifens über die Schulter, und spazierte strammen Schrittes zur nicht weit entfernten Bushaltestelle. Charly Katz sprang auf, hüpfte mit großen Sprüngen die Böschung hinunter, überwand den breiten Graben, der Böschung und Straße trennte, und hastete zur Bushaltestelle.

Mona stand unter dem tauben Plexiglasdach des Wartehäuschens, überprüfte in einem kleinen Handspiegel den Sitz ihrer Frisur und trug Lippenstift auf. Der mächtige Linienbus fuhr ein und öffnete mit pneumatischem Zischen seine Türen.

Charly hielt sich hinter Mona und stieg in den hinteren Teil des gut gefüllten Busses. Mona fand einen freien Doppelsitz, und noch ehe sie sich richtig dort eingerichtet hatte, ließ sich Katz neben sie aufs Polster fallen. Der Journalist wurde nach vorne geworfen, als der Bus ruckelnd anfuhr. „Hallo Mona! Feierabend?“

Mona rückte von Katz ab und drückte sich gegen das Busfenster.

„Was willst du denn noch?“

„Warum bist du so biestig?“, fragte Katz zurück. „Habe ich dir etwas getan?“

„Ich bin nicht biestig. Ich habe nur die Zeitung gelesen.“

„Ach das! Glaub bloß nicht alles, was in der BILD steht. Die haben alles verdreht. Ich habe meinen eigenen Text nicht wiedererkannt.“

Mona glaubte ihm nicht. Misstrauisch verfolgte sie aus den Augenwinkeln, wie er einen knittrigen Notizblock aus seiner Jackentasche zog.

„Ich habe nichts zu erzählen“, versuchte sie abzublocken.

„Nun komm schon. Die Geschichte ist sowieso in der Welt. Du und Armin, ihr habt die Leiche gefunden. Das könnt ihr ja wohl nicht mehr abstreiten.“

„Das streite ich ja auch gar nicht ab. Das war’s dann auch schon. Mehr kann ich nicht beitragen.“

Im entspannten Plauderton setzte Charly nach: „Wieso hast du noch in der gleichen Nacht deinen Chef angerufen und ihm von dem Fund erzählt?“ Das war die infame Fragetechnik von Charly Katz. Er fragte, indem er Behauptungen aufstellte und sein Gegenüber zwang, diese Behauptungen entweder zu dementieren oder zu akzeptieren. Dabei kam er im Tonfall niemals tückisch daher.

Mona ging in die Falle: „Ich habe ihn nicht angerufen!“

„Aber doch! Armin hat mitgehört. Er ist davon aufgewacht. Er hat es mir erzählt.“

Mona geriet nur kurz ins Schleudern. Ihre Ausrede hielt sie für unwiderlegbar: „Es war andersrum. Der Professor hat angerufen. Er wollte wissen, wann mein Urlaub endet. Er hätte mich gebraucht, irgendwas Dringendes.“

„Nachts um eins?“

„Du kennst Professor Aschendorffer nicht. Der ruft an, wann es ihm passt. Der schläft nie!“

Katz machte sich eine Notiz.

Mona ärgerte sich unterdessen, dass sie überhaupt Antworten gab.

„Und da er nun schon mal am Telefon war, hast du ihm auch von der Gletscherleiche erzählt?“

„Ja. ... Äh, nein!“

„Was nun?“

„Nein! Ich habe ihm nichts erzählt.“

„Komisch!“ Charly Katz schüttelte mit ratloser Miene den Kopf. Seine gelben Schmuddelsträhnen wehten wie Staubfähnchen. „Der Schweizer Kantonspolizei hast du aber etwas anderes erzählt. Nach deren Protokoll hast du deinem Chef sogar noch in der Nacht ein Bild von der Gletscherleiche geschickt.“ Er tippte auf eine Stelle in seinem Notizblock, als sei dort die Wahrheit imprägniert. Mona fühlte sich unter Katz’ Fragen noch unwohler als im Gynäkologenstuhl.

„Was ist für deinen Professor so interessant an einer Gletscherleiche, dass er mitten in der Nacht dafür aus dem Bett geklingelt werden musste?“

„Nichts, nichts!“, wehrte Mona eine Spur zu scharf ab. „Ich sagte doch, er schläft nie.“ „Also hast doch du ihn angerufen und nicht umgekehrt?“

„Ja! Nein! Vielleicht! Ich weiß es nicht mehr. Es ist doch auch nicht wichtig. Mit Professor Aschendorffer hat das doch gar nichts zu tun.“

„Ich sollte ihn vielleicht selber fragen?“, schlug Katz vor.

„Nein, nein, nein!“, wehrte Mona ab, diesmal entschieden zu scharf. „Das wäre ..., das ist ..., das ist völlig überflüssig, äh unnötig, ... äh, das geht nicht.“

Wenn Charly jetzt aussah, als schliefe er bald gelangweilt in seinem Sitz ein, so widersprach dieses Bild vollkommen seiner inneren Höchstanspannung. Er lauerte. Gelassen warf er diesen Satz hin: „Du meinst also, es lohnt sich nicht, wenn ich mal um einen Termin bei dem Professor anfrage?“

„Nein, nein! Das lohnt sich überhaupt nicht. Reine Zeitverschwendung, das kannst du vergessen.“

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