Das Erwachen der Gletscherleiche

Tekst
Z serii: Lindemanns #313
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Biesthal kniff skeptisch die Augen zusammen. Sie hatte dem wunderlichen Experiment beigewohnt und konnte sich bis heute nicht erklären, wie Aschendorffer es angestellt hatte. „Aber das waren Mäuse. Und es handelte sich nur um einen Tag, an dem sie ... nicht ... geläh... also irgendwie scheintot waren.“

„Sie waren tot!“, behauptete Aschendorffer spitz. Und das wissen Sie genau.“ Seine Stimme bekam einen herrischen, harschen Tonfall: „Sie haben das intellektuell nur noch nicht verarbeitet.“

„Ihre Arroganz ist unerträglich! Sie setzen die Gesetze der Natur nicht außer Kraft.“

Aschendorffer lachte theatralisch. „Die Gesetze der Natur sind dazu da, dass man sie nutzt. Es tut mir leid, wenn Sie bisweilen nicht folgen können.“

„Halten Sie sich zurück“, zischte Biesthal. Ihr Gesicht war rot geworden, eine Mischung aus Wut und Demütigung. Sie wusste, dass Aschendorffer Recht hatte. Das war das Hauptproblem, nicht Aschendorffers überheblicher Ton. Dieser Wahnsinnige hatte einfach mehr von den Zusammenhängen von Physik, Chemie, Biologie und Neurologie verinnerlicht, als jeder andere Mensch dieser Welt. Und er besaß keinerlei Skrupel, all sein Wissen und all seine Erkenntnis anzuwenden. Frederike Biesthal fand das ebenso abstoßend wie anziehend. Als Wissenschaftlerin faszinierten sie Aschendorffers Experimente. Als Mensch verabscheute sie sie.

„Sie wollen ein Mäuseexperiment an einem Menschen wiederholen“, versuchte sie eine zaghafte Intervention.

„Nur, dass dieser Mensch bereits tot ist. Wenn ich nichts unternehme, dann bleibt er tot. Er kann also nur gewinnen!“ Aschendorffers Logik war bestechend.

Er überlegte kurz und wälzte dabei die Zunge, so dass sich seine Lippen mahlend bewegten. Er musste abwägen, ob er Frederike Biesthal in sein Geheimnis einweihen sollte. Jetzt war er ohnehin schon so weit gegangen, da konnte er auch diesen letzten Schritt noch tun. Schließlich würde er Biesthals Hilfe brauchen, wenn er den Gletschermann in die Gegenwart holte. Biesthal würde still halten. Und mitmachen. Dazu reizte sie das ungeheuerliche wissenschaftliche Neuland viel zu sehr, welches sie mit seiner Hilfe betreten würde.

„Es gibt nicht nur das Mäuseexperiment!“, sagte Aschendorffer leise.

Frederikes Gesichtsfarbe wechselte von rot zu bleich.

„Ich habe es schon mit einem Menschen ausprobiert!“

„Das glaube ich nicht!“

„Fragen Sie Kaymal.“

Biesthal zuckte zusammen.

„Kaymal? ... Sie wollen doch nicht etwa behaupten...? Sie haben Kaymal ...?“

„Nein, nein!“, wehrte Aschendorffer ab. „Nicht Kaymal. Einen seiner Brüder.“

Aschendorffer hatte schon vor einigen Monaten einen Freiwilligen gesucht, um ihn unter Versuchsbedingungen tiefzufrieren und nach 48 Stunden wieder ins Leben zurückzuholen. Bei einem Angebot von 10.000 Euro hatte sich dieser Freiwillige schließlich unter Kaymals nie versiegender Auswahl von Brüdern gefunden.

Aschendorffer führte Biesthal in einen kleinen Technikraum, den er vollgestopft hatte mit Rechnern, Monitoren, Apparaturen aller Art, und führte ihr dort den Film vor, der das Experiment dokumentierte. Frederike Biesthal sah am Ende des Filmes einen nackten Türken dem leicht anrüchig aussehenden Sud entsteigen, der sich in der verkabelten und mit Drainageschläuchen aller Art verbundenen Edelstahlwanne angesammelt und als Nährlösung für die Versuchsperson gedient hatte. Der frisch Wiederauferstandene wurde im Video von einem strahlenden Aschendorffer gewogen, vermessen, abgehört und mit dem institutseigenen Computertomografen durchleuchtet. Er war quicklebendig und bester Dinge. Aschendorffer und das menschliche Versuchskaninchen gaben sich am Ende des Filmes die Hand und grinsten beide in die Kamera, die Kaymal geführt hatte.

„Was sagen sie jetzt?“

„Ich bin sprachlos.“

4

Bowolf wachte vom schrillen Gekreische der Weiber auf. In der gleichen Sekunde war er auch schon hellwach, warf das Fell von sich und sprang von seinem Lager auf. Binnen eines Lidschlags fand er die Orientierung. Das Dorf war in heller Aufregung. Die Hunde kläfften. „Rätiser, Rätiser!“, schrieen die Frauen, und ihre Stimmen waren voller Angst. Die Rätiser also, die Feinde. Ein Überfall. Bowolfs Bewegungen waren sicher und gingen fließend ineinander über. Er griff Bogen und Köcher, die am Mittelpfahl seiner Hütte hingen, schnappte sich die Steinaxt, warf sich den Fellmantel über und stürmte dann mit großen Sätzen wie eine Raubkatze aus der Hütte hinaus in den bitterkalten Winter.

Eine Hütte brannte bereits. Krieger liefen kopflos hin und her. Zwei Männer lagen mit eingeschlagenem Schädel auf dem Dorfplatz. Ihr Blut glänzte rot im frisch gefallenen Schnee. Überall weinende Kinder, heulende Frauen, jemand brüllte Befehle. Die Rätiser verschleppten Frauen aus Bowolfs Dorf. Bowolf überlegte nicht lange. Er war der Häuptling. Er jagte mit gezückter Streitaxt über den Dorfplatz und den leicht abschüssigen Pfad zum Seeufer hinunter. Dort wurde gekämpft. Dort waren die Feinde. Andere Männer liefen neben ihm. Wütend schrieen sie ihre Kampfrufe in die Nacht. Die Feinde antworteten mit Spott und Beschimpfungen.

Bowolf kam zu spät. Er sah es schon von Weitem. Die Feinde saßen bereits auf ihren Pferden, auf die sie ihre weiblichen Gefangenen gezerrt hatten, und galoppierten auf den zugefrorenen See hinaus.

„Hirjeka, hirjeka“, brüllte Bowolf den Kampfruf seines Stammes. Feine Atemwölkchen stiegen auf. Die Luft klirrte vor Kälte. Auf dem Weg zum See lag ein sterbendes Mädchen. Fialla, Stirnmanns zehnjährige Tochter. Die Rätiser hatten ihr die Kehle durchgeschnitten. Fialla gurgelte und spuckte Blut. Ihre Augäpfel quollen hervor, die Pupillen waren vollkommen verschwunden. Mit einem Arm schlug sie zweimal in den Schnee, dann war sie tot.

Panisch blickte Bowolf sich um. Wenn Fialla tot war, wo war dann Seta,Bowolfs jüngste Frau, die in der Hütte von Fialla übernachtet hatte?

Vom Ufer her klang das wütende Gebrüll der Krieger, die hinter den flüchtenden Feinden herliefen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Zwischen den Kriegsrufen wehten die Klagelaute der Frauen durch die Nacht. Manche hatten sich befreit. Manche hatten ihren Widerstand mit dem Leben gebüßt, so wie Fialla. Das rasende Kläffen von Hunden mischte sich unter die Stimmen. Bowolf hastete zurück zum Dorf, hinüber zu den Pferchen, wo die wenigen Pferde des Stammes zusammengetrieben waren. Dem großen Ahnherrn sei Dank, die Tiere standen noch da und schnaubten kalte Nebel in den Nachthimmel.

Bowolf führte Mor, sein treues Pony, aus dem Gatter und schwang sich auf seinen Rücken. „Hirjeka“, rief er dem Mond zu, dann trieb er sein zähes Reittier zum See hinunter. Dem Feind hinterher. Am Ufer riefen ihm die Zurückgebliebenen zu: „Bowolf reite! Es sind zweimal zwei Hände. Stinkende Rätiser. Feige Rätiser.“

„Wieviel Gefangene?“, schrie Bowolf im Vorbeiritt und nahm die Antwort mit: „Eine Hand und zwei. Seta ist auch dabei!“

Der zugefrorene See trug Menschen und Tiere. Bowolf galoppierte. Bald überholte er die kleine Gruppe seiner Stammesgenossen, die zu Fuß hinter dem flüchtenden Feind her waren. Einer rief ihm zu: „Gangam ist ihr Anführer!“

Gangam also. Sein alter Feind. Er trieb das Pferd. Das Eis knirschte unter den Hufen. Immer wieder Gangam. Wie oft schon hatten sich ihrer beider Wege gekreuzt. Der Häuptling der Rätiser, die auf der anderen Seite des gelben Berges lebten, und er, Bowolf, der Häuptling der Mooka, die auf dieser Seite des Berges ihr Dorf und Jagdrevier hatten, sie waren Feinde auf Lebenszeit. Einmal überfielen die Mooka die Rätiser, dann wieder die Rätiser die Mooka. Sie stahlen sich wechselweise Vieh und Frauen und zündeten sich gegenseitig die Hütten an. Diese uralte Feindschaft hatte längst vergessene Ursachen und längst vergessene Täter und Opfer. Das alles lag in ferner Vergangenheit. Aber Krieg herrschte immer. Bis heute.

Normalerweise fanden die Überfälle nur im Sommer und frühen Herbst statt, wenn die Pässe schnee- und eisfrei und die schnelle Rückkehr ins eigene Jagdgebiet gewährleistet war. Waren die Rätiser im Herbst gar nicht auf ihre Seite des Berges zurückgekehrt? Hatten sie die ganze Zeit am See gelauert? Der See war groß. Er bot entlang seiner Ufer viele Verstecke. Es lebten nicht viele Menschen hier. Bowolfs Dorf war die größte Ansiedlung. Daneben gab es noch ein paar Familiensippen, die alleine lebten und zu keinem Stamm gehörten. Sie wohnten alle weit verstreut. Man brauchte mehr als einen Tag, um im Sommer zu Pferde den See einmal zu umrunden. Er war länglich wie ein Schlauch, oft versumpft und verlandet, als handele es sich um drei oder vier verschiedene, hintereinander liegende Seen, die nur durch den Fluss verbunden sind. In dem engen Tal, eingeklemmt zwischen der imposanten Gipfelkette des gelben Berges auf der südlichen und dem spitzen Massiv des Nairgadin auf der nördlichen Seite, füllte der See die größten Teile des Talgrundes aus.

Während Bowolf den treuen Mor weiter zum Galopp zwang, sah er vor sich im Sternenlicht die hüpfenden Konturen der Rätiser. Ihre Pferde waren schnell. Sie hatten den Raubzug gut geplant. Sie wussten, dass die Mooka ihr Dorf nicht ernsthaft bewachten, und dass die Pferde der Mooka auf der dem See abgewandten Seite des Dorfes standen. Sie hatten die Hütten der Weiber ausspioniert und dann schnell und geräuschlos getötet.

„Gangam, Gangam!“ Bowolf schnaubte in ohnmächtiger Wut immer wieder diesen Namen in die Nacht.

Töten, töten, töten. Unbedingte Mordlust kochte in Bowolf. Er wollte Gangams Blut trinken, sein Herz herausreißen, seine Eingeweide über einem Misthaufen ausstreuen, sein Gehirn ausschlürfen. Er wollte das Messer in Gangams Brust stoßen und dort herumdrehen und herumdrehen. Er wollte ihm mit bloßen Händen die Augen aus den Höhlen und die Zunge aus dem Schlund reißen. Er wollte ihm das Gemächt mit der Steinaxt vom Unterleib schlagen, ihn lebendig über glühenden Holzscheiten rösten. Er wollte ihn ertränken, erwürgen, erdolchen, zerquetschen, in viele Einzelteile zerhacken. Er wollte ihm Seta wieder entreißen. Niemand durfte es wagen, die Häuptlingsfrau zu rauben. Kein anderer Krieger durfte sie besitzen. Da wurde Bowolf zum Raubtier. Das endete mit dem Tod.

 

Er erreichte das andere Seeufer. Im klaren Licht der Sterne erkannte Bowolf die Spuren der Flüchtigen. Die Rätiser ritten in einer Reihe hintereinander. So konnte Bowolf ihre Zahl nur schwer schätzen. Zwei mal zwei Hände, so hatten ihm die eigenen Leute zugerufen. So viel? Und sie hatten die Frauen als Beute, eine Hand und zwei. Die Frauen der Mooka wüssten sich zu wehren. Sie würden jede Gelegenheit nutzen, die Flucht ihrer Entführer zu behindern. Sie würden versuchen, Zeit zu gewinnen. Wenn es möglich war, so würden sie vom Pferd fallen. Die Rätiser mussten also aufpassen und antreiben.

Keine Frage, Bowolf würde nachziehen und bald würde er die Flüchtigen einholen; vielleicht sogar noch in dieser Nacht, spätestens morgen. Wie sollte er dann vorgehen? Bisher hatten ihn seine Raserei und der mächtige Wunsch nach Rache angetrieben. Nun, da er am jenseitigen Seeufer stand und die Fährten im Schnee betrachtete, besann er sich. Dem Pferd schäumte das Maul. Bowolf war zu schnell galoppiert.

Er war kopflos losgeritten. Nun erst besah er sich seine Ausrüstung. Den Bogen trug er bei sich. Im Köcher besaß er einen Satz Pfeile, zwei Hände und zwei. Dann trug er sein Steinmesser im Ledergürtel, die steinerne Streitaxt baumelte an seiner Seite. Am Gürtel hing der Beutel mit den Feuersachen, sein persönlicher Talismann, ein paar Tauschmuscheln. Er trug die Fellschuhe und die ledernen Beinkleider, in denen er sich am Abend zum Schlafen hingelegt hatte, das Oberhemd aus Kaninchenfell und den groben Fellumhang. Zwar schwitzte er vom schnellen Ritt, aber die eisige Kälte dieser Winternacht in den hohen Bergen zupfte bereits an ihm. Das erinnerte ihn unerbittlich daran, dass der Winter im Bunde mit dem Tod stand. Bowolf hatte keine Vorräte bei sich. Auch nichts für Mor. Mit dieser Ausstattung musste er nach spätestens zwei Tagen die Verfolgung abbrechen und zum Dorf zurückkehren.

Bowolf besah sich seine Hände, bewegte die Finger gegen die Kälte. Gangams Leute: Zweimal zwei Hände! Eine solche Verfolgung war hoffnungslos. Was konnte er ausrichten?

Er blickte zu den Sternen hinauf. Großer Ahnherr, was soll ich tun? In seiner Hilflosigkeit schrie Bowolf in die Nacht hinaus. Das half, die Ohnmacht einzudämmen. Schließlich nahm er Mor am Zügel und stapfte mit ausgreifenden Schritten in der Spur der Rätiser weiter durch den Schnee. Auch sie waren abgestiegen. Ihre Fußspuren führten neben den Hufspuren der Pferde her. Tief waren sie in den Schnee eingesunken. Es war nicht die Jahreszeit zum Reiten. Auch nicht die Jahreszeit, um zu kämpfen. Es war die Jahreszeit, in der man bei den Mooka in den Hütten ums Feuer sitzt.

In der frühen Morgendämmerung erreichte Bowolf eine Stelle, wo die Rätiser sich vom Seeufer weg bewegt hatten. Ihre Spuren führten nun stetig bergwärts. Der Schnee lag weich und tief. Über den Kämmen des Nairgadin blinzelten die ersten Sonnenstrahlen. Der Tag würde klar und kalt werden wie seine Vorgänger. Bowolf schlug sich die Arme um die Schultern. Der stramme Marsch hatte seinen Körper auf Temperatur gehalten, dennoch kroch die Eiseskälte durch alle Fellschichten. Bowolf sog die Luft durch die schmal geöffneten Lippen ein. Kleine Eiszapfen hingen an seiner Nase, Bart und Haare bildeten eisige Klumpen. Auch der Winterpelz von Mor war über und über mit eisigen Klümpchen behangen.

Bowolf verfolgte die Spur im Schnee. Sie zog sich die Bergflanke entlang und verschwand hinter einer gewölbten Kuppe. Jetzt, da das Tageslicht die Szenerie beleuchtete, sah er auch die vereinzelten roten Flecken daneben.

Er erklomm die Kuppe. Mor keuchte hinter ihm und arbeitete schwer. Das Pferd war hinderlich. Es hielt ihn nur auf. Der ganze Gewaltmarsch war eine einzige Dummheit. Wie wollte er zweimal zwei Hände Rätiser überlisten? Wie die gefangenen Frauen befreien? Dennoch konnte Bowolf sich nicht zur Umkehr entschließen. Irgendetwas am Vorgehen und der raschen Flucht der Rätiser ließ ihn zögern. Ein solcher Überfall mitten im Winter war einfach zu ungewöhnlich. Da stimmte etwas nicht.

Jetzt hatte Bowolf die Spitze der Kuppe erklommen. Er kauerte im Tiefschnee nieder und spähte vorsichtig darüber hinweg. Auf der anderen Seite breitete sich eine kleine Senke aus, durch welche die Spur der Rätiser kerzengerade hindurchführte. Dahinter wuchs als unwirtliche Felswand der erste Ausläufer des gelben Berges in die Höhe. Bowolf stach eine dünne, fast unsichtbare Rauchfahne ins Auge, die sich aus einer dunklen Öffnung im unteren Teil der steilen Wand an den vereisten Felsen emporfädelte. Eine Höhle im Berg. Dort glimmte ein Feuer, sonst gäbe es die Rauchfetzen nicht. Wer immer es angeschürt hatte, er verstand die Kunst, es so zu tun, dass nur dünner, weißer Rauch daraus aufstieg, den man auf größere Entfernungen kaum mehr vom Schnee und vom weißen Himmel unterscheiden konnte.

Aber Bowolf konnten sie nicht täuschen. Er spähte angestrengt hinüber zu dieser schwarzen Öffnung in der Felswand. Wo waren die Pferde der Rätiser? Sie konnten ihre Tiere unmöglich dort hinauf gebracht haben. Mit den Augen verfolgte er die Spuren, die sich wie eine zackige Naht im Schnee durch die Senke zogen. Sie führten zu einem großen Fels- und Geröllblock, der vorgelagert vor der steilen Wand lag.

Bowolf grübelte und beobachtete und fror. Immer wieder musste er sich aus der Kuhle, die er sich im Schnee gegraben hatte, erheben und mit Mor ein Stück weit die Kuppe hinab und wieder hinaufsteigen. Ohne diese regelmäßige Bewegung wären Mann und Pferd binnen weniger Stunden festgefroren. Nur schemenhaft nahm er in größeren Abständen Bewegungen im Höhleneingang wahr. Wenn die Rätiser sich tatsächlich mit ihren Gefangenen dort oben eingenistet hatten, dann waren sie äußerst vorsichtig.

Bowolf brauchte ein Feuer. Er entschied sich, den Beobachtungsposten aufzugeben. Er würde in der Nacht oder am frühen Morgen dorthin zurückkehren. Stattdessen suchte er sich in sicherer Entfernung ein kleines Gehölz mit schützenden Felsen, wo er gefahrlos ein Feuer entfachen konnte.

Er befand sich weit unterhalb der Baumgrenze. Die krüppeligen Zirbel- und Latschenkiefern, Strauchbuchen , Lärchen und Krummholzgewächse, die hier noch gediehen, boten gut entflammbares Holz. Mit steifen Fingern nestelte er den Zunderschwamm aus seiner Gürteltasche und verteilte kleine Späne, die er davon abschabte, auf einem Stein, den er vom Schnee befreit hatte. Er häufte die Zunderflocken zu einem kleinen, nestartigen Aufbau an. Darüber legte er kleinere Holzsplitter und Fetzen von trockenem Moos. Kleine Äste und Rindenstücke bildeten eine Schutzhülle um den Aufbau. Er nahm den Pyrit, der zu seiner Ausrüstung gehörte, und einen Feuerstein, den er stets bei sich trug, und schlug die beiden Brocken gegeneinander. Sofort schlugen Funken daraus hervor und entzündeten die Zunderflöckchen. Es glimmte, knisterte und qualmte, dann fraß sich ein erstes Flämmchen durch Späne und Moosfetzen. Im ersten Versuch fanden die Flammen Nahrung. Bowolf schob kleinere Ästchen nach. Schon züngelte das Feuer weiter. Jetzt konnte er große Aststücke dazuschieben. Sobald ein rechtes Lagerfeuer prasselte, schob sich auch Mor ganz dicht an die Wärmequelle heran. Bowolfs Lagerplatz war gut gewählt. Das Gehölz bedeckte eine kleine Erhebung, von der herab Bowolf sowohl die Spur beobachten konnte, auf der er den Berg heraufgekommen war, als auch deren Fortsetzung hinauf auf jene Kuppe, von der aus er die Rätiser beobachtet hatte.

Während langsam die Hitze des Feuers bis auf seine Knochen wirkte, kreisten Bowolfs Überlegungen um den seltsamen Überfall. Was hatte die Rätiser getrieben? Sie hatten zwei oder drei Hütten niedergebrannt. Bowolf rief sich das Bild in Erinnerung. Welche Hütten waren es gewesen? Das Vorratslager. Die Rätiser hatten es auf das Vorratslager abgesehen. Sie hatten die Wintervorräte der Mooka geplündert. Und weil neben dem Lager auch die Hütten der Weiber standen, waren ihnen die Weiber der Mooka ebenfalls in die Hände gefallen. Eine Hand und zwei. So muss es gewesen sein? Ein schneller und gezielter Überfall.

Dafür gab es nur eine Erklärung. Die Rätiser litten Hunger. Sie brauchten die Vorräte, sonst würden sie den Winter nicht überstehen. Und jetzt dämmerte Bowolf auch, was der Grund war. Die Rätiser mussten im Herbst den richtigen Zeitpunkt versäumt haben, über den Pass beim Glatschjer auf die andere Seite des gelben Berges zurückzukehren. Auf ihre Seite. Sie wurden vom Wintereinbruch überrascht, und saßen nun auf dieser Seite des Berges fest.

Ein grimmiges, triumphierendes Lächeln legte sich auf Bowolfs aufgesprungene Lippen. Das ließ die ganze Jagd in einem völlig neuen Licht erscheinen. Die Rätiser hatten keinen Fluchtweg. Sie besaßen kein sicheres Versteck. Sie hatten sich jetzt zwar mit Lebensmitteln und mit Frauen versorgt, aber sie waren ungeschützt und verwundbar. Bowolfs Hunger verschwand zwar nicht, aber diese neue Ausgangssituation ließ ihn das Knurren seines Magens leichter ignorieren. Er schmolz sich Schneewasser über dem Feuer, tränkte damit Mor und stillte den eigenen Durst, und wartete mit der unerschöpflichen Geduld des Naturgeschöpfs die Nacht ab.

In der Dunkelheit machte Bowolf sich wieder durch den Schnee auf den Weg zu seinem Beobachtungsposten oben in der Schneekuhle. Mor ließ er im schützenden Gehölz beim verglimmenden Feuer zurück. Er nahm beim Aufsteigen einen Stecken zu Hilfe, den er sich aus einem Strauch herausgeschnitten hatte. Diese Nacht war so kalt und so sternenklar wie die vorige. Irgendwo dort oben im Himmel herrschten die großen Mächte, dort lebten die Ahnen. Die andere Welt. Bowolf blickte hinauf, mit einem Blick, der Kraft und Zuversicht aus dem Bild der Sterne sog. Ihr Mächtigen, Hirjeka! Bowolf wird seine Feinde zerschmettern. Er wird sie zu euch hinauf schicken in die Anderswelt. Nicht mehr lange, dann ist es soweit. Freut euch auf sie.

Von der Kuppe herab stierte er lange in die Senke und auf die Felsformation, hinter der er die Pferde der Rätiser vermutete. Einmal vermeinte er, ein leichtes Schnauben zu hören. Die Felswand dahinter lag dunkel wie ein gefrorener Schatten. Die Rätiser würden sich hüten, in ihrer Höhle in der Nacht ein weithin sichtbares Feuer zu entfachen.

Der Mond stand nicht besonders günstig. Er warf modriges Licht auf die Senke. Wenn Bowolf in der Spur der Rätiser dort hinunterstieg, würde man ihn in seinem dunklen Fellmantel als schwarzen Punkt sofort erkennen. Knurrend schaufelte er sich Schnee über Haupt und Rücken, bis er eine weiße Haube trug. In gebückter Haltung stieg er ab. Der Schnee knirschte unbehaglich und zäh. Entschlossen bewegte Bowolf seinen Stecken vor sich her. Immer wieder hielt er an, kauerte, erneuerte seine weiße Haube und schielte zur Felshöhle hinauf, wo er seine Feinde vermutete. Gesehen hatte er noch keinen einzigen.

Endlich erreichte er die mehrere Mann hohe Felsformation am Fuße der Senke. Jetzt hörte er ganz deutlich die Pferde, wie sie schnaubten und sich schüttelten. Der Dampf der Tiere stieg hinter dem Felsen auf. Ihr Geruch hing in der Luft. Bowolf schlich um eine Felskante herum. Auf seiner Rückseite bildete der große Fels einen Überhang, der genug Schutz vor den Naturgewalten bot, so dass dort nur wenig Schnee lag. Hier hatten die Rätiser ihre Pferde untergestellt. Mit ein paar grob behauenen Stämmen und Ästen hatten sie ein loses Gatter errichtet und damit die Tiere eingepfercht. Es roch nach frisch geschältem Holz und nach Fichtennadeln. Das Gatter wäre kaum nötig gewesen, den ringsum türmten sich die Schneemassen. Kein Pferd wäre freiwillig aus dem schützenden Unterstand entlaufen, zumal dort auch ein großer Haufen Stroh und trockenes Laub aufgeschichtet lagen, das Fressen für die Tiere. Gab es eine Wache?

Fast hätte Bowolf den Mann übersehen. Er stand an den Fels gelehnt, zur Hälfte hinter einem Gestell aus aufgerichteten und gegeneinander gestellten kleinen Stämmen versteckt, die dazu dienten, eine weitere Ladung Stroh und Heu hoch und für die Pferde unerreichbar zu lagern. Der Rätiser machte seine Sache gut. Er stand regungslos, als sei er selbst einer der Stämme. Er hatte Bowolf den Rücken zugekehrt und spähte in die andere Richtung zum weit entfernten See hinunter, den er in der Nacht aber bestenfalls ahnen konnte.

 

Bowolf wog seine Streitaxt in der Hand. Er löste die Schlaufe vom Gürtel. Diese Waffe machte ihn sicher. Die Axt eines Häuptlings. Der lange hölzerne Griff war glatt und lag geschmeidig in seiner Hand. Die kupferne Klinge blitzte nur kurz im Mondschein. Ein Pferd wich aus und trippelte unwillig einige Schritte seitwärts, als Bowolf sich unter seinem Bauch hindurch in den Rücken des Wachtpostens brachte. Dann holte er aus, sprang den Gegner an und spaltete ihm den Kopf mit einem einzigen knirschenden Hieb. Der Wachtposten sank lautlos in die Knie, die Axt blieb im gespaltenen Schädel stecken und verursachte ein schmatzendes Geräusch, als Bowolf nicht gleich losließ. Er wartete, bis der Getötete im Schnee lag, dann riss Bowolf seine Waffe mit einem energischen Ruck wieder aus dem zerschmetterten Hinterkopf. Blut spritze und Hirn quoll hervor. Die Pferde protestierten mit leichtem Schnauben und drängten ihre frierenden Leiber aneinander. Bowolf verharrte in konzentrierter Anspannung. Er schnupperte und lauschte in die Nacht. Niemand rührte sich. Oben bei der Höhle blieb alles ruhig. Er versuchte abzuschätzen, wie weit der Eingang über ihm lag. In der Dunkelheit mochte er sich täuschen, aber er schätzte, dass man fünf oder sechs ausgewachsene Männer übereinander türmen müsste, um dort hinauf zu kommen. Vermutlich hatten die Rätiser Baumstämme zu Hilfe genommen, die sie dann hinaufgezogen hatten.

Gut! Das bedeutete, dass es auch eine Weile dauern würde, bis die Feinde wieder unten waren.

Bowolf verfolgte einen Plan, den er sich während des vergangenen Tages zurechtgelegt hatte. Er prüfte die Pferde. Manche trugen Zügel, einigen hatten die Rätiser Felldecken über den Rücken geschnallt. Es waren kleine, knochige Ponys, wie auch die Mooka sie züchteten, mit Schweifen bis auf den Boden und Mähnen so struppig wie Stroh. Diese Tiere waren zäh und winterfest. Allerdings würden sie nicht beliebig viele solcher Eisnächte in diesem luftigen Felsunterstand überstehen. Bowolf kam immer mehr zu der Überzeugung, dass diese Höhle nur ein vorübergehender Unterschlupf für die Rätiser war. Das konnte nicht ihr Winterquartier sein. Dagegen sprach auch die geringe Menge an Futter. Also planten sie, weiterzuziehen. Bowolf fletschte die Zähne wie ein Raubtier. Das würde er diesen unwürdigen, stinkenden Ziegenfressern gründlich verderben. Wieder stand das Bild von Gangam vor seinem inneren Auge. Dieser feige Dieb. Ein Mann mit gelben Haaren und ebensolchen Augen. Ein Krieger, den man fürchten musste. Bowolf hatte schon einmal mit Gangam gekämpft. Und mehrfach hatten sie sich gegenseitig die Pferde gestohlen und die Hütten angezündet. Aber diesmal gab es keinen Fluchtweg über den gelben Berg. Diesmal war Gangam gefangen auf Bowolfs Seite. Diesmal musste es zur Entscheidung kommen. Einer von ihnen beiden würde sterben. Bowolf würde Gangams Herz roh verspeisen. Und Seta befreien.

Die Pferde der Rätiser zeigten keine Scheu vor Bowolf. Wahrscheinlich verbreitete er den gleichen Gestank wie seine Feinde, so dass die Tiere Vertrauen fassten. Ein besonders auffälliger Hengst, offensichtlich das Leittier der kleinen Herde, ließ sich bereitwillig von Bowolf aus dem provisorischen Gatter hinausführen. Die anderen Pferde folgten nach kurzem Zögern. Die Schneezotteln in ihren vereisten Mähnen glitzerten wie kleine Edelsteine im Sternenlicht. Eines hinter dem anderen, die Ohren gespitzt und aufgereiht wie an einer Perlenschnur, stocherten die Tiere durch den Schnee. Drei mal zwei Hände. Kein einziges blieb zurück.

Wenn nur jetzt nicht einer der Männer oben in der Höhle wach wurde und herunterschaute. Die Pferde, obwohl sie ihren scheinbar farblosen Winterpelz trugen, hoben sich scharf gegen den hellen Schnee ab. Und sie machten Lärm, sie schnaubten, schlugen mit den Schweifen und rempelten einander an. Ihre kantigen Brustkörbe schoben durch den Tiefschnee. Brav folgten sie dem Leithengst, den Bowolf mit energischer Kraft hinter sich her zog. Er kehrte auf der Spur zurück an den Rand der Senke. Anstatt die Tiere hinauf auf die Kuppe zu zwingen, wo er seinen Beobachtungsposten im Schnee gehabt hatte, spurte er mit Hilfe des Leithengstes einen neuen Pfad Richtung Tal. Vorher suchte er sich eines der Tiere aus und schnitt ihm dann mit einem einzigen geübten Streich seiner Steinmesserklinge den Hals auf. Das Tier röchelte, knickte mit den Vorderläufen ein und verendete binnen weniger Augenblicke. Blut schoss in schwappenden Wellen aus der Wunde. Bowolf ließ den zuckenden Kadaver im Schnee zurück. Er trieb die übrigen Pferde jenseits der Senke und außer Sichtweite der Höhle bis zu einem leichten Abhang. Mit gekonntem Griff an dessen empfindlichste Stelle versetzte er den Leithengst in höchste Panik und prügelte dann mit seinem Stecken auf seine Hinterbacken. Der Hengst schoss mit wieherndem Gebrüll davon. Die übrige Herde ließ sich anstecken und bahnte sich durch den Tiefschnee einen Weg ins Tal hinunter.

Bowolf blickte zufrieden dem glitzernden Wirbel hinterher. Sicher würden die Rätiser mit einigem Glück ihre Pferde wieder einfangen können. Aber es würde sie Tage kosten. Und in dieser Zeit waren sie angreifbar. Und sie konnten ihre Gefangenen nicht ständig im Auge behalten.

Nun kehrte Bowolf mit weit ausladenden Schritten zu dem Pferdekadaver zurück, den er im Schnee zurückgelassen hatte. Der aufgeschlitzte Leib blutete nicht mehr, aber er war noch warm. Das Blut hatte tiefe Kanäle in den Schnee gebahnt und war zu bizarren Formen erstarrt. Bowolf zückte sein scharfes Steinmesser, trennte mit geübten Schnitten das von Schnee- und Eisbrocken verklebte Fell auf, zog es an den Hinterbacken und an den Seiten vom Fleisch, trennte die Sehnen und schnitt sich große Fleischstücke aus dem Kadaver heraus. Einige Streifen stopfte er sich an Ort und Stelle gierig in den Mund. Ausgehungert wie ein Raubtier schlang er das Fleisch hinunter. Er umwickelte die Fleischpakete mit den Felllappen, die er dem toten Pferd abgezogen hatte, um zu vermeiden, dass verräterische Blutspuren in den Schnee tropften. Das Übrige packte er sich auf die Schulter und machte sich dann mit dieser Last auf den Rückweg zu seinem Lager. Die Rätiser würden einige Zeit brauchen, bis sie alle Spuren gelesen und richtig gedeutet hatten. Bowolf wischte sich über die blutigen Bartstoppeln. Ha, ihr Ahnen, ihr Mächtigen! Habt ihr gesehen? Bowolf, euer stärkster Krieger, er fürchtet keinen Feind. Hirjeka!