Das Erwachen der Gletscherleiche

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Z serii: Lindemanns #313
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„Nein!“ Du bist wahrscheinlich zu zweit, denn du hast zwei Kettensägen dabei“, half ihm Rüthli auf die Sprünge.

„Mit dem Akia könnt’s klappen, odder?“

Rüthli stöhnte entnervt. „Ja, könnte es. Gibt’s noch eine Möglichkeit?“ Er deutete mit dem Zeigefinger von seinem Schreibtischstuhl aus auf Hürzelers Zeitung, erhob sich, ging mit ausgestrecktem Finger die drei Schritte zu Hürzeler hinüber, und tippte mit Wucht den Finger auf die Blick-Schlagzeile. Hürzeler glotzte drauf.

„Du ..., du meinst ...?“

„Ja!“

„Mit dem Ski-Doo also. Das ist ja ein Ding.“ Jetzt war bei Hürzeler der Groschen gefallen. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und studierte aufs Neue den Zeitungsartikel. Diesmal gründlich wie einen Gehaltsbescheid. Nicht dass ihm noch etwas entgangen war, was ihn der Vorgesetzte Feldweibel vielleicht fragen könnte.

Rüthli wollte zum Telefon stürmen, um sich mit dem Posten Samedan in Verbindung zu setzen. Da fiel sein Blick auf den Laborbericht, der immer noch aufgeblättert auf seinem Schreibtisch lag. Er hatte ihn noch gar nicht ganz zu Ende gelesen. Wo war er stehengeblieben? Beim Hammelfleisch in der Blechkiste.

Was gab es noch? Ah, ja, da war noch der Hinweis auf ein Papierfetzelchen. Was hatten die Laborratten herausgefunden? Rüthli las: „Es handelt sich um ein Stück Zigarettenpapier, 3,7 Zentimeter lang, 1,4 Zentimeter breit, das zur türkischen Zigarettenmarke Anadolu gehört. Minimale, nur mikroskopisch nachweisbare Tabakreste. Glimmspuren am linken äußeren Rand lassen darauf schließen, dass die Zigarette angeraucht, dann aber verloren oder weggeworfen wurde.“

Türkisches Zigarettenpapier am Tatort. Zufall? Oder ein Hinweis? Irgendwo in Rüthlis Hinterstübchen zuckte ein ferner Blitz. Da war doch was? Irgendein Gedanke, der mit einem türkischen Zigarettenpapierchen zu tun haben könnte. Das sollte ihn an irgendetwas erinnern, er ahnte, er spürte es. Doch es wollte ihm nicht einfallen. Unwillig schüttelte er den Kopf. Er griff zum Telefonhörer.

3

Aschendorffer schlug die Schwingtür zum Labor auf und marschierte mit vor Aufregung roten Flecken im Gesicht schnurstracks zum Platz von Dr. Frederike Biesthal. Das Laborröhrchen trug er mit ausgestreckter Hand wie eine brennende Kerze vor sich her. Sein offener weißer Kittel wehte ihm um die Kniekehlen. Die zwei Laboranten, die der Professor auf dem Weg zum Arbeitsplatz von Dr. Biesthal passierte, hoben erschrocken die Köpfe. Irgendwo huschte eine von Kaymals Töchtern durch die schmale Reihe zwischen den Labortischen und leerte Papierkörbe. Es war Aygül, die mit dem Leberfleck auf der linken Wange. Aschendorffer registrierte sie nicht. Unterhalb der Ebene seiner Laborleiter kannte er kein Personal. Laboranten waren austauschbare Nichtse. Sonstige Angestellte sowieso. Da gab es nur zwei Ausnahmen: Mona Hohner, von der seine gesamte Arbeits- und Büroorganisation abhängig war, und Hausmeister Meslut Kaymal. Letzterer war Aschendorffers Verbindung zur Realwelt, speziell zur Welt der Baumärkte und Schnellimbisse.

Dr. Frederike Biesthal hingegen gehörte zur ersten Welt, zur Welt der Wissenschaft und der Biogenetik. Das war die Welt, die Aschendorffer akzeptierte und mit der er kommunizierte. Wenn auch von oben herab. Biesthal war in dieser Welt die Stellvertreterin Aschendorffers am Instituts BioGen. In wissenschaftlichen Fragen war sie so ziemlich der einzige Mensch, den Aschendorffer überhaupt halbwegs akzeptierte, eine kühle Analytikerin, hochbegabt und hochsensibel. Seine übrigen Laborleiter, sowohl den Molekularbiologen Dr. Murji Amresh, als auch Dr. Harald Schröder (Onkologie und funktionelle Genetik) sowie Christopher Westphal (vaskuläre Biologie und Entwicklungsbiologie), hielt Aschendorffer für überbezahlte Amateure. Wenn sie mal wieder nach mehrmonatigen Versuchs- und Forschungsreihen über ihren Ergebnissen brüteten, ohne sie zu verstehen, griff er sich die Versuchsprotokolle, las binnen eines Nachmittags alles durch und verkündete dann in lässigem Triumph, welche Arzneimittel, Kosmetika oder Fleckenreiniger sie nunmehr mit den gefundenen Substanzen und Wirkungen marktreif machen konnten, oder wie man aus den herausgefilterten Genen glänzendere Tomaten, knackigere Gurken oder lausfreie Brokkoli züchten könne.

Nur Dr. Frederike Biesthal konnte mithalten. Manchmal jedenfalls. Als Wissenschaftlerin akzeptierte Aschendorffer die kühle und distanzierte Kollegin, als Frau vergötterte er sie geradezu. Allerdings wäre er niemals in der Lage gewesen, dies zu zeigen. Zu sehr fürchtete er sich vor ihrem schneidenden, schwertscharfen Frauenwesen. Wenn sie ihr klar konturiertes Kinn anhob, die Mundwinkel spöttisch herabzog und mit den Nasenflügeln zitterte, dann schlugen die Seismographen in der Erdbebenwarte von München aus. Wehe wenn sie lächelte. Ihre Opfer sahen sich einem scharfen Sägeblatt gegenüber. Und erst ihre kobaltblauen Augen. Ihre Blicke obduzierten ihre Gegenüber. Sie war äußerlich kalt wie Permafrost, unnahbar bis zur Arroganz und allergisch gegen auch nur die leiseste Anmache. Selbst der Inder Dr. Amresh, ein manchmal bis zur Naivität liebenswerter Frauenversteher, von Aschendorffer aufs Verächtlichste geringgeschätzt, durfte nicht einmal ungefragt einen Tee auftragen, wollte er nicht angezischt werden: „Was soll das Eingeschleime?“ Biesthals äußeren Attribute gaben keinerlei Hinweis darauf, wie sie so geworden sein könnte. Sie sah perfekt aus, wenn auch mit androgynem Einschlag, und sie besaß einen Hintern nach dem Geschmack von Meslut Kaymal. „Isse Bombe!“, pflegte er zu sagen. „Sexebombe!“ Aber auch Kaymal senkte den Blick, wenn Dr. Biesthal vorüberschritt, und ihren Planetenabwehrschutzschild um sich herum aufgebaut hatte.

Aschendorffer war platonisch in diese Frau verliebt, so wie man einst in Sophia Loren verliebt war. Bei Aschendorffer war diese Verliebtheit obendrein hoffnungslos, verklärt und feige. Feige, weil er es niemals gewagt hätte, seine Verehrung zu zeigen. Verklärt, weil alles heilig war, was außerhalb der Wissenschaft zwischen ihm und ihr geschah. Zum Beispiel, wenn sie ihn einmal am Arm berührte. Oder wenn er wegen eines nur schlampig geknöpften Laborkittels einen kurzen Blick auf Streifen ihres Oberschenkels erhaschte. Oder wenn sie die Arme hob, um ihr Haar zu knoten, und dabei ihre sauber rasierten Achselhöhlen präsentierte. Das waren heilige Momente, von denen Aschendorffer in all seinen Träumen zehrte. Was er hingegen niemals gewagt hätte, das war, sich Sex mit ihr vorzustellen. Insofern war seine Liebe platonisch. Für Sexfantasien hatte er Fräulein Mona; die war handfest, weltlich, real. Frederike Biesthal war überirdisch.

Wenn Aschendorffer ein privates Wort mit Frederike Biesthal wechseln sollte, was sich manchmal nicht verhindern ließ, so geriet er ins Stottern und schwitzte Bäche aus. Dann verknotete er die Hände unterhalb der Gürtelschnalle und fühlte sich bloßgelegt wie unter einem Kernspintomografen. Wenn das Gespräch hingegen dienstliche, wissenschaftliche Inhalte hatte, dann war er, wie bei ausnahmslos allen Gesprächspartnern, auch gegenüber Dr. Biesthal überheblich, schnoddrig, ungeduldig und um Längen überlegen.

Das Gespräch, das nun anstand, als er mit wehenden Kittelschößen und vorgestrecktem Laborröhrchen auf seine Stellvertreterin zustürmte, die hinter einem Specularmikroskop saß und sich Notizen über ihre Beobachtungen machte, war ein rein wissenschaftliches. Deshalb stotterte Aschendorffer auch kein bisschen.

„Frau Kollegin, Sie werden es nicht glauben ...“

Biesthal sah auf. Sie zog eine ihrer akkurat gezupften hellen Augenbrauen leicht nach oben. Die einzige sichtbare Gefühlsregung.

„Ich habe die Untersuchungsergebnisse für den Corpus aus dem Eis.“

„Den Sie gestohlen haben“, ergänzte Biesthal nüchtern.

„Den ich geborgen habe,“ korrigierte Aschendorffer. Er hielt Biesthal das Röhrchen unter die Nase. Sie ließ sich zu einer Regung auch der anderen Augenbraue herab: „Soll ich davon kosten?“

„Entschuldigen Sie.“ Er zog das Röhrchen wieder zurück. „Es war diese Gewebeprobe, die ich an der Hand des Leichnams genommen habe. Wollen Sie wissen, wie alt der Leichnam ist?“

„Sie werden es mir gleich sagen!“

„Erst habe ich vermutet, es handelt sich vielleicht um einen vermissten Bergsteiger, maximal um einen Soldaten aus dem letzten Weltkrieg. Aber es ist viel fantastischer.“

Aschendorffer sah sich verschwörerisch um. Als er sicher war, dass niemand mithören konnte, flüsterte er: „Fünfeinhalbtausend Jahre!“

Biesthal sah ihn verdutzt an. Jetzt zeigte ihr Gesicht doch ein gewisses Staunen. Ihr ungläubiger Blick richtete sich auf das Röhrchen, das der Professor immer noch umklammert hielt wie der Exorzist sein Kruzifix.

„Fünfeinhalb ...?“

Aschendorffer nickte eifrig. „Mehrfach überprüft! Ich habe Zellen und Knochengewebe.“

„Das ist unmöglich!“

„Wieso soll das unmöglich sein. Ötzi war genauso alt.“

„Mit dieser Probe haben Sie das herausgefunden?“ Sie deutete zweifelnd mit ihrem schlanken, feingliedrigen Zeigefinger auf das Röhrchen. Aschendorffer war wie immer fasziniert. Der Finger einer Göttin. Sie zog ihn, als sie den besoffenen Blick des Professors bemerkte, wieder zurück und verbarg die ganze Hand in der Seitentasche ihres Laborkittels. Sie besaß sehr wohl eine Ahnung davon, dass Aschendorffer sie vergötterte. Es war ihr lästig. Der Professor war schließlich kein richtiger Mann. Jedenfalls rein äußerlich nicht. Da gefiel ihr Dr. Amresh schon besser. Aber das hätte sie nie zugegeben.

„So ist es!“, bestätigte Aschendorffer.

Frederike Biesthal zweifelte keine Sekunde daran. Sie war es gewohnt, dass Professor Aschendorffer Recht hatte. Seine wissenschaftlichen Fähigkeiten waren atemberaubend, seine Methoden verblüffend, seine Ergebnisse revolutionär. Bei jedem anderen hätte sie Zweifel formuliert und darauf bestanden, dass er seine Untersuchungsmethode transparent machte. Bei Aschendorffer war das nicht nötig. Er war ein Genie und der Schulbuchwissenschaft um Lichtjahre voraus. Wenn er ansonsten auch ein vollkommener Idiot war, als Wissenschaftler musste man ihn bewundern.

 

„Ein zweiter Ötzi also?“

Aschendorffer nickte eifrig.

„Das macht den Fall nicht einfacher?“

„Wie? Wie meinen Sie?“

War er wirklich so weltfremd, sah er die Schwierigkeiten nicht voraus? „Sie haben diesen Leichnam gestohlen und illegal über die Grenze transportiert. Sie haben ihn heimlich in unser Institut gebracht und unten im Keller in die Tiefkühlkammer gelegt! Es ist Ihnen doch hoffentlich bewusst, dass man Sie dafür vor Gericht bringen kann. Wie wollen Sie auf dieser Basis wissenschaftliche Ergebnisse veröffentlichen?

„Wer sagt denn, dass ich irgendwelche Ergebnisse veröffentlichen will? Außerdem: Wem gehört eine Leiche, die 5500 Jahre im Eis gelegen hat? Die gehört niemandem. Höchstens dem, der sie findet.“

„Sie haben sie ja nicht einmal selbst gefunden.“

„Mona hat sie gefunden. Damit habe ich einen Anspruch!“

„Oh, je!“ Frederike Biesthal seufzte. Mit solch weltlichen Fragen durfte man Aschendorffer nicht kommen. Das ließ ihn unberührt. Sie sah es seinem entzückten Gesicht an. Es war das eines begeisterten Jungen, dem man endlich sein Wunschspielzeug geschenkt hatte.

„Was haben Sie nun vor?“

Aschendorffer lächelte selig. Biesthal wartete auf eine Antwort.

„Was wollen Sie nun tun?“, wiederholte sie. „Diesen Leichnam wieder zurückgeben?“

„Wo denken sie hin!“ Empört plusterte Aschendorffer seine Hühnerbrust auf. „Dieser Leichnam ist ein Geschenk an die Wissenschaft. Ich werde das einzig Wahre tun, was man mit solch einem Zeugen der Vergangenheit tun kann.“

Frederike Biesthal erwartete, dass Aschendorffer nun aufzählen würde, wie er Haut, Knochen, Mageninhalt, Haare, Kleidung und sonstiges Zubehör des Gletschermannes nach und nach aus dem Eis lösen und Stück für Stück untersuchen würde. „Sie tauen ihn auf“, schlug sie deshalb vor.

„Viel besser, viel besser!“, triumphierte Aschendorffer. Er hob das Laborröhrchen empor wie die olympische Fackel: „Auftauen? Das kann jeder.“ Er grinste diabolisch: „Ich werde ihn wieder zum Leben erwecken!“

*

Sie fuhren mit dem Aufzug nach unten ins zweite Kellergeschoss. Das geheime Herz von BioGen befand sich dort, eine dreifach gesicherte unterirdische Zone, zu der nur ausgesuchte Personen Zugang hatten. Neben Aschendorffer und Biesthal waren dies lediglich Amresh, Schröder und Westphal, Institutsleiter Föllstiegel, der aber ohne Not niemals diese Katakomben betreten würde, sowie Meslut Kaymal, der Generalschlüsselverwahrer, und seine sieben Töchter, die BioGen-Putzkolonne.

Im Aufzug sprachen sie nicht miteinander. Frederike Biesthal schaute streng, fast tadelnd. Sie verdaute noch Aschendorffers Ankündigung. Für ihn war die körperliche Nähe im Aufzug eine köstliche Qual, weshalb er weder denken, noch Biesthals Gesichtsausdruck interpretieren konnte. Er drückte sich in die hinterste Ecke. Biesthal kannte Aschendorffers Nöte. Sie hatte ihn durchschaut. Wieso sollte er anders sein, als andere Männer? Alle wollten sie den Frauen an den Rock. Nur in den Methoden unterschieden sie sich. Murji Amresh hielt sich für besonders schlau, weil er sich benahm, als sei er überhaupt kein Mann. Ihm immerhin erlaubte Frederike Biesthal eine gewisse Nähe, weil sie sich in seiner Gegenwart nie ernsthaft belästigt fühlte. Der steife Dr. Schröder spielte den Überkorrekten. Der selbstverliebte Dr. Westphal stolzierte wie ein Gockel und lebte in dem Irrglauben, wenn sich nur seine Hose beulte, würden die Frauen schon von alleine in Ohnmacht fallen. Und Aschendorffer gab den Trottel. Diese Masche war bei vielen Frauen zwar erfolgversprechend, bei Frederike Biesthal aber zog sie nicht. Sie wusste genau, was in seinem erigierten Männerhirn vor sich ging. Widerlich! Sie lächelte kalt, während der Aufzug sie nach unten trug. Der richtige Mann für sie war noch nicht geboren.

Es war nicht so, dass Frederike Biesthal keine Affären hatte. Durchaus gehörten Männerbekanntschaften zu ihren Freizeitbeschäftigungen. Mit Wissenschaftlern ließ sie sich allerdings aus Prinzip nicht ein. Dagegen liebte sie es, verheiratete Industriebosse, Manager, Banker oder Politiker anzukirren und geraume Zeit in ihr Bett zu lassen. Diese Kerle wurde man danach am schnellsten wieder los. Außerdem genoss sie es, vermeintlich starke und unbesiegbare Reiche und Mächtige zu besitzen und so lange mit emotionaler Kälte und körperlicher Raffinesse zu quälen, bis sie wahlweise in die Raserei oder Verzweiflung stürzten. In Wahrheit war sie eine verletztliche, empfindsame, von vielen Zweifeln und Ängsten verfolgte Frau, die gelernt hatte, ihre Empfindsamkeit hinter einer metallischen Schale aus Arroganz, Härte und Abweisung zu verbergen. Der perfekte Mann für sie musste sanft, verständnisvoll, schöngeistig und klug wie Dr. Murji Amresh sein, aber idealerweise auch männlich, stark und selbstbewusst, ohne sich aufzuspielen wie ein Pavian. Dieser Kombination war sie bisher noch nicht begegnet.

Aschendorffer war außerhalb jeglicher Erwägungen. Ein Hanswurst von Mann, völlig indiskutabel. Das erleichterte es gleichzeitig, ihn als Wissenschaftler hoch zu schätzen, um nicht zu sagen, zu verehren. Frederike Biesthal gestand es sich nicht gerne ein, aber mit seinem genialischen Wissen und Können stand Aschendorffer weltweit über allen Fachkollegen. Sie schenkte ihm einen sezierenden Blick. Wie er es wohl anstellen mochte, einer über fünftausend Jahre tiefgefrorenen Leiche wieder Leben einzuhauchen? „Haben Sie schon eine Idee, wie Sie das bewerkstelligen wollen?“, fragte sie, als der Aufzug mit sanftem Wippen den Kellergrund erreichte. Aschendorffer schrak zusammen. „Haben Sie schon eine Idee, wie Sie Ihre gestohlene Leiche wieder zum Leben erwecken wollen?“

„Sie ist gerettet, nicht gestohlen“, tadelte er. „Das ist ein Kinderspiel. Ich erkläre es Ihnen, wenn wir im Kühlraum sind.“

Hinter der Aufzugstür erwartete sie eine doppelwandige Stahltür. Ein Licht in der Mitte über der Tür leuchtete grün. Das verriet, dass sich Menschen im Inneren des Schutzbereichs aufhielten. Vermutlich eine oder mehrere der Kaymal-Töchter. Sie putzten regelmäßig die Räume und waren auch für die Fütterung der Labortiere zuständig. Aschendorffer schloss auf, Biesthal trat hinter ihm ein. Nun querten sie einen kleinen Vorraum, von dem eine Sicherheitsschleuse in die eigentlichen Forschungsräume führte. Aschendorffer presste seinen Zeigefinger auf eine fluoreszierende Leuchtfläche und bot gleichzeitig sein Auge einer kleinen Kamera dar, die geschäftig zu surren begann. Aus den Innereien der High-Tec-Tür erklang mit höflicher Computerstimme die Aufforderung: „Geben Sie eine Tonprobe.“

Aschendorffer sagte ungeduldig: „Aschendorffer“.

Die Schiebetüren der Schleuse glitten zur Seite und versanken links und rechts in den dicken Schallschutzwänden. Aschendorffer hatte das Sicherheitssystem selbst konstruiert. Eine kleine Bastelarbeit nebenbei. Nur bei der korrekten Kombination von Fingerabdruck, Auge und Stimme gewährte die Schleuse Einlass.

Die Lichter gingen an. Sie befanden sich nun in einer Art Wasch- und Umkleideraum. Beide Wissenschaftler schlüpften in Sicherheitsanzüge, die sie sich über ihre Arbeitsgarderobe streiften. Kameras an der Decke zeichneten jede ihrer Bewegungen auf. Zur Pflichtausrüstung gehörten Gesichtsmasken, Sauerstoffmasken, die seitlich an den Gürteln baumelten, Handschuhe und für jeden der beiden Biogenetiker eine Art Fernbedienung, ein Gerät, mit dem sie sämtliche technischen Apparaturen in der Forschungszentrale in Gang setzen, steuern und auch wieder abschalten konnten. Ebenfalls ein kleines Ingenieurspielzeug, das Aschendorffer konstruiert hatte.

Aschendorffer sortierte mit fiebrig glänzenden Augen auf einem kleinen Edelstahlwägelchen, das er vor sich herschob, eine Reihe von Instrumenten und chromglänzendes Operationsbesteck. Frederike Biesthal folgte ihm durch einen langen Gang, der nach einer Seite hin offen war und den Blick in verschiedene Zellen freigab. Alles stand unter grellem, künstlichem Licht. Zwei der Kaymal-Töchter eilten mit ihren Putzutensilien vorbei.

In jeder der Laborzellen, keine größer als eine Doppelgarage, befanden sich verschiedene Versuchsanordnungen, köchelnde Glaskolben, rauchende Phiolen, vor sich hin gärende Säuren, Laugen und Lösungen, stinkende Sude, wohlriechende Essenzen, unter ultraviolettem Licht wuchernde Kletterpflanzen, rätselhafte Keimlinge, Pilzkulturen in den schillerndsten Farben, Moose, Algenkolonien, Kakteenlandschaften und die Vereinten Nationen aller Bakterienvölker. Sie erreichten eine Abteilung mit verkabelten, operierten, in Foltermaschinen eingespannten, missgebildeten, fehlgezüchteten und exotisch mutierten Kleinsäugetieren, Mäuse, Ratten, Hamster, Katzen, Zwergaffen und solche Vierbeiner, bei denen es schwer war, zu bestimmen, was sie einst einmal gewesen sein mochten. Aschendorffers Reich.

Der Professor deutete auf einen Käfig, in dem ein mit Elektroden gespicktes Kätzchen an einem Gestell fixiert war, auf dem unablässig Leuchtdioden oszillierten. Nebenan spuckte ein Drucker Endlosschleifen von Papier aus. „Da sehen Sie, ich weiß jetzt, wie ich es anstellen muss, damit die Katze und die Ratte miteinander kommunizieren können.“ Er deutete auf einen Kabelstrang, der aus dem Katzenkäfig hinaus in einen Computer führte, und von dort wieder austrat und jenseits im Rattenkäfig an eine ähnlich fixierte Ratte angeschlossen war. Auf dem Computerbildschirm sprangen Binärzahlen aus dem Off und bildeten lange, stetig wachsende Zahlenreihen, die solide blinkten. „Der Computer ist der Simultanübersetzer für beide Arten!“

Frederike Biesthal blieb stehen und betrachtete die Versuchsanordnung. Sie wusste von Aschendorffers skurrilen Experimenten. Es gab nichts, wofür er sich nicht interessierte. Aber ganz besonders hatten es ihm Lebewesen angetan. Zellmanipulationen, Genveränderungen, Bewusstseinssteuerung, Hirnforschung, neurologische Manipulationen, Aschendorffer probierte alles aus und verblüffte immer wieder mit bahnbrechenden Ergebnissen. Leider musste aufgrund der „kurzsichtigen, restriktiven Gesetzeslage“, wie er sich depektierlich auszudrücken pflegte, vieles in den Tresoren bleiben, weil sonst BioGen binnen kürzester Zeit von der Kriminalpolizei auf den Kopf gestellt und dicht gemacht werden würde.

„Wollen Sie etwa sagen, sie haben Katze und Ratte beigebracht, miteinander zu sprechen?“, fragte Biesthal, und ihre Stimme klang unter dem Mundschutz noch rauchiger als sonst.

„Miteinander zu denken, das würde es besser treffen“, präzisierte Aschendorffer. Er sprach, als ginge es um das Selbstverständlichste der Welt.

„Aber woher wissen Sie ...?“

„Was sie denken?“

„Ja, und dass sie sich überhaupt verstehen?“

Jetzt war Aschendorffer in seinem Element. „Ich beteilige mich selbstverständlich am Gespräch. Sehen Sie dort.“ Er zeigte auf eine gläserne Kabine, offenbar eine ehemalige Telefonzelle, umgebaut für Aschendorffers zweifelhafte Zwecke, in der ein Schalensitz montiert war, zu dem zahlreiche Drähte, Elektroden, Klemmen, Kopfhörer und sonstige Installationen führten. „Ich setze mich dort hinein, schließe mich an und höre mit. Besser gesagt, ich denke mit. Sie verstehen mich und ich verstehe sie. Ich nenne das Verfahren interspeziale bilinguale Transmission.“

Biesthal verzog ungläubig den Mund zu einem säuerlichen Lächeln. „Ist nicht Ihr Ernst?“ Aber sie wusste schon, als sie die Frage stellte, dass es selbstverständlich Ernst war. Aschendorffer machte niemals Scherze.

„Was reden ... äh, denken die ... die beiden Tiere so?“, fragte sie gezwungen.

„Sie denken Angst. Für mich finden sie keine Erklärung, ich mache ihnen Angst, wenn ich mit ihnen denke. Für sich selbst denken sie ans Fressen. Vorzugsweise. Die Katze denkt an ihre Mutter. Seltsam, nicht? Das hätte man nicht vermutet.“

Biesthal schüttelte sich. Sie war hart gesotten. In der Umgebung Aschendorffers sowieso. Aber hier wollte sie fürs Erste nicht mehr erfahren.

„Und wo ist denn nun Ihr Ötzi?“, lenkte sie ab.

Aschendorffer zog sie zur streng verriegelten Tür, die in die Kühlkammer führte. Während der Professor mit verschlüsselten Geheimcodes die Verriegelung löste, erklärte er: „Ich habe ihn noch nicht angerührt, er ist noch den vollkommen identischen Verhältnissen ausgesetzt, wie in den letzten 5500 Jahren im Eis.“

 

„Ah, verstehe!“

Sie betraten den Kühlraum. Der Gletschermann lag aufgebahrt auf einem in die Wand eingelassenen Podest, eingebacken in seinen kantigen Eiskäfig. Das war es aber nicht, was Aschendorffer und Biesthal nahezu synchron erschrocken zurückweichen ließ. Es war vielmehr der bis unter die Decke reichende Stapel gefrorener Brathähnchen, der eine ganze Seitenfront des Kühlraumes einnahm. Ein Brathähnchenklotz kullerte mit vernehmlichem Poltern vor ihre Füße.

„Was ist das?“ Frederike Biesthal konnte sich einen spöttischen Unterton nicht verkneifen. „Gehören die auch zum Fund?“

Aschendorffer stürzte zum Haustelefon, das draußen im Gang in die Wand eingelassen war.

„Kaymal, Sie Hornochse! Kommen Sie sofort runter in den Kühlraum“, hörte Biesthal ihren Chef brüllen. Wenig später stürmte Meslut Kaymal herein. Er hatte keine Minute gebraucht, wo auch immer im Gebäude er zuvor gewesen war. Als er die geöffnete Tür des Kühlraumes sah und die beiden Wissenschaftler zwischen den gefrorenen Hähnchen, legte sich sofort eine Maske der Zerknirschung auf sein Gesicht. „Oh jeh, oh jeh“, jammerte er.

„Was ist das?“, fragte Aschendorffer streng.

Kaymal schob die Unterlippe vor: „Isse Bratenhähnche.“

„Das sehe ich selber. Wo kommen sie her? Wem gehören sie? Wer hat sie hierher gebracht?“

Kaymal murmelte undeutlich ein Geständnis: „Habe ich gemacht. Wo solle hin die viele Bratehähnche aus Lieferwage? Müsse kalt bleibe.“ Er hob schuldbewusst die Schultern: „Isse Vorratslager. Kann jeden Tag eine Bratehähnche auftauen und Futter machen für die Ratten.“

Biesthal schaute irritiert, weil sie die Zusammenhänge nicht kannte.

„Und das übrige Zeugs? Die Gemüseschachteln? Die Fischstäbchen?“, fragte Aschendorffer.

„Musse nix Sorge mache“, beschwichtigte Kaymal. „Habe ich Bruder wo mache Kauflade in Stühlinger. Echt türkisch Spezialitäte.“

„Ich kenne einen türkischen Lebensmittelladen im Stadtteil Stühlinger“, entfuhr es Frederike Biesthal. „Ist das nicht an der Ecke zur Eschholzstraße?“

Kaymal grinste: „Isse meine Bruder.“

Aschendorffer schenkte ihm einen zweifelnden Blick. Das mit Kaymals Brüdern war so eine Sache. Er hatte für jeden Bedarf einen Bruder, man musste aufpassen.

„Was ist an Fischstäbchen eine türkische Spezialität?“, fragte Aschendorffer spitz.

„Musse du auftaue Fischestabe un ganz kleine Stücke mache. Isse dann Spezialitäte aus dem Mittelmeer. Verstehsch du?“

„Das Zeug muss trotzdem hier raus. Haben Sie keinen Bruder, der einen Brathähnchengrill betreibt?“

Kaymal überlegte kurz, dann wanderte ein Strahlen über sein Gesicht. „Doch! Da fallt mir einer ein. Morge vielleicht. Oder nächste Woche.“

„Hauptsache Sie schaffen das Zeug weg. Ich brauche den Platz. Und jetzt verschwinden Sie! Gehen Sie die Katzen füttern!“

Aschendorffer kickte einen Brathähncheneisklotz zur Seite und näherte sich auf Armlänge dem Gletschermann. Er schaute auffordernd zu Frederike Biesthal, die immer noch nicht verdaut hatte, dass ihr türkisches Spezialitätengeschäft im Stühlinger umdeklarierte Tiefkühlkost als anatolische Spezialität verkaufte. „Schauen Sie ihn sich an: ein Prachtexemplar, vollkommen erhalten.“

„Ich kann nicht viel erkennen“, mäkelte Biesthal, die jetzt ganz nahe an den Eisklotz herangetreten war. „Ja, die Hand kann man sehen, und dahinter einen Schatten im Eis. Ist das ein Fell? Vielleicht ist es ein Tier?“

„Unsinn!“, berichtigte Aschendorffer. „Das ist ein Mann in einem Fellumhang. Sehen sie hier, die Schultern. Hier, diese Form, das ist der Kopf. Ebenfalls mit einem Fellüberhang.“ Aschendorffer deutete mit einem Metallstab auf die Stelle im Eis, wo er den Kopf vermutete. „Und hier“, er ließ den Zeigestab bis ans andere Ende des Eisklotzes wandern, „das sind die Füße. Sie stecken in Fellschuhen.“

Frederike Biesthal bestaunte stumm das Exponat. Aschendorffers Kühlkammer barg eine wissenschaftliche Sensation. Daran bestand kein Zweifel.

„Und wie wollen Sie ihn ... äh ... zum Leben erwecken?“

Aschendorffer hob eine geöffnete Hand vor sich hoch wie ein Wanderprediger, der zum Segen ausholt: „Was glauben Sie, Frau Kollegin?“

Frau Kollegin! Das sagte er nur in Ausnahmefällen. Eigentlich immer nur dann, wenn er sich sicher war, dass er gleich einen unglaublichen wissenschaftlichen Triumph kundtun würde. Frederike Biesthal kannte diese Momente. Sie waren beängstigend. Und gleichzeitig magisch.

„Ich nehme an, Sie wollen ihn klonen? Oder rechnen Sie damit, dass sie zeugungsfähiges Sperma finden, wenn Sie ihn auftauen?“

Er ruckte überrascht mit dem Kopf: „Oh, an diese Möglichkeit habe ich gar nicht gedacht.“ Er zögerte kurz, als überlegte er. „Aber nein, das würde dauern bis wir einen Fötus hätten und dann einen Menschen, der erst noch erwachsen werden müsste.“ Er rieb sich über die Nase, als dächte er weiter darüber nach: „Und die Leihmutter?“ Sein Blick wanderte abschätzend an Frederike Biesthal hinunter bis zu ihren Zehenspitzen und wieder hinauf bis ans Kinn. Zog er sie etwa in Erwägung? Er streichelte zärtlich über den Eisblock: „Wäre nur eine halbe Sache. Wir hätten dann nicht diesen Steinzeitmenschen zum Leben erweckt, sondern lediglich eine genetische Kopie oder einen Nachfahren von ihm geschaffen. Völlig unbefriedigend. Das kann jeder.“

Frederike Biesthal, die sehr wohl den taxierenden Blick Aschendorffers bemerkt hatte und sich überlegte, ob sie dafür die Ohrfeige noch nachreichen sollte, sagte spitz: „Eine Leihmutter würden Sie ja wohl auch schwerlich finden, so wie Sie mit Frauen umspringen.“

Aschendorffer überhörte es. Später, wenn er alleine war, in seinen Träumen, würde er sich schmerzlich an diese spitze Bemerkung erinnern. Er verkündete in beiläufigem Ton: „Ich werde ihn auftauen und reanimieren.“ Zur Bekräftigung klopfte er mit der flachen Hand auf den Eisklotz.

Frederike Biesthal räusperte sich vorsichtig: „Wie?“

„Ich habe eine Nährlösung vorbereitet. Der Eisklotz kommt in eine Wanne und wird langsam aufgetaut, indem wir die Temperatur in der Wanne um etwa ein Grad pro Tag steigen lassen. In dem Maße, in dem das Eis zu Wasser wird, wird diesem Wasser die genau vorberechnete Dosis dieser Nährlösung zugeführt. Ich erläutere ihnen gleich, aus was sie besteht. Es ist bestechend einfach. Am Ende wird nach einigen Tagen der Leichnam komplett in seinem eigenen Schmelzwasser liegen. Das ist wichtig, weil wir wegen der möglichen Krankheitskeime und sonstigen Unwägbarkeiten kein Wasser aus der Gegenwart für die Herstellung der Nährlösung verwenden dürfen. Diese Nährlösung wird unseren Eismann nach spätestens 72 Stunden reanimieren. In der letzten Phase brauchen wir Elektroschocks. Zuerst werden die Organe wieder arbeiten, das Blut wird wieder zirkulieren, das Gehirn schaltet sich ein. Sobald die Lunge 20 Prozent ihrer früheren Funktionsfähigkeit erreicht, müssen wir zunächst künstliche Beatmung einsetzen. Das wird nur vorübergehend sein, denn das weitere Setup geschieht ziemlich schnell und der Mensch wird bald in der Lage sein, selbstständig zu atmen.“

Aschendorffer erzählte in fiebrigen, hastigen Sätzen. Der Professor erläuterte die chemische Zusammensetzung seiner Nährlösung. „Unlängst habe ich Labormäuse lebendig in eiskaltes Wasser getaucht und binnen weniger Minuten tiefgefroren. Sie hatten keinerlei Körperfunktionen mehr. Am nächsten Tag habe ich sie aus dem gefrorenen Eis wieder ins Leben zurück geholt. Mit meiner Nährlösung.“