Das Erwachen der Gletscherleiche

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Z serii: Lindemanns #313
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Gendarmerie-Feldweibel Urs Rüthli vom Dezernat Kriminalpolizei bei der Graubündener Kantonspolizei in Chur wippte auf seinem ausgesessenen Schreibtischstuhl, während er den ersten Bürokaffee des Morgens trank und dabei die Protokolle aus den einzelnen Polizeiposten las. Da war übers Wochenende wieder einiges los gewesen: Ein amoklaufender Ehemann in Arosa, Fahrerflucht in Chur, randalierende holländische Hotelgäste in Flims, ein Fall von illegaler Prostitution in Lenzerheide, die Kollegen in Silvaplana hatten einen völlig unterkühlten türkischen Obdachlosen in einer Garage aufgegriffen und vor dem Erfrieren gerettet, der Polizeiposten Samedan meldete den Fund eines herrenlosen deutschen Bergwacht-Ski-Doos in der Flaz. Sachen gibt’s! Rüthli griff sich an die Stirn und fuhr mit der flachen Hand durch das bereits leicht angegraute Bürstenhaar. Kollege Korporal Hürzeler vom Schreibtisch gegenüber registrierte die Bewegung aus den Augenwinkeln und kommentierte sie seinerseits mit einem leichten Anheben der Augenbrauen. Der Rüthli wieder, er regte sich immer auf, wenn irgendwo etwas nicht nach Recht und Ordnung lief. Wie uncool. Hürzeler grinste in sich hinein und widmete sich Wichtigerem.

In Splügen stand ein Hotel in Flammen, in St. Moritz haben Unbekannte im Coop-Markt eingebrochen und die Kühlregale leergeräumt ... Rüthli seufzte. Der Posten Pontresina berichtete von einem Leichenfund im Morteratsch-Gletscher. Rüthli las das Protokoll aufmerksam durch. Die Leiche war noch nicht geborgen. Wegen des schlechten Wetters. Die Unterstützung der Kriminalpolizei wurde angefordert. Seitlich auf den Protokollausdruck hatte der Oberleutnant, Rüthlis Vorgesetzer, ein rotes Ausrufezeichen markiert und „Rüthli“ daneben geschrieben. Das bedeutete, dass er sich noch heute Morgen auf den Weg nach Pontresina machen sollte. Immer noch besser, als der Papierkram auf dem Schreibtisch. Er warf einen Blick zur trüben Fensterscheibe hinaus. Leichter Nieselregen ging über Chur nieder.

Feldweibel Rüthli spähte zum Nachbarschreibtisch hinüber, wo Korporal Pirmin Hürzeler soeben zur dienstlichen Lektüre die „Blick“ aufblätterte. Hürzeler war ein junger Kerl, ein frischer Kollege, der für Rüthlis Geschmack den Beruf nicht ernst genug nahm. Aber er war willig, und Rüthli hatte sich seiner angenommen. „Wir fahren nach Pontresina!“, rief er über die Schreibtische hinweg. „Leichenfund!“.

Widerwillig legte Hürzeler die Zeitung zur Seite und griff nach seiner Uniformjacke. Hürzeler war ein langer Lulatsch, dem die Gendarmerieuniform an den Ärmeln zu kurz, am Kragen zu weit und im Kreuz zu breit geraten war, so dass er darin wirkte wie die Parodie eines Zirkusdompteurs. Aber er stellte keine langen Fragen. Er verließ sich ganz auf Rüthli. Der würde schon wissen, was zu tun war. Er wusste immer Bescheid – ein Vorbild an Diensteifer, Pflichtbewusstsein, Genauigkeit und polizeilicher Aufopferung. In mehr als zwanzig Dienstjahren hatte Rüthli sich vom kleinen Verkehrspolizisten mit mangelhafter Schulbildung langsam und beharrlich nach oben gearbeitet. Dass er es einmal zum Feldweibel mit besonderen Aufgaben bei der kantonalen Kriminalpolizei bringen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Er war kein Überflieger, kein grandioser Ermittler, keine geniale Spürnase. Jeden Schritt, den er tat, überlegte er dreimal und sicherte ihn nach allen Seiten ab. Lieber bewegte er sich gar nicht als falsch. Seine Devise lautete: „Eins nach dem Anderen“. Er verfolgte einen harmlosen Autodiebstahl mit der gleichen Akribie wie einen bewaffneten Banküberfall. Er gehörte zu jener seltenen Sorte von Menschen, die beim kleinsten Online- Kauf die allgemeinen Geschäftsbedingungen ausdruckten und komplett durchlasen. So hielt er es mit jedem Schriftstück, das ihm dienstlich auf den Schreibtisch kam. Er las es zwei- oder dreimal genauestens durch, markierte wichtige Stellen mit gelbem oder grünem Stift, unterstrich einzelne Wörter, bis er sicher war, dass er alles verstanden hatte.

Rüthli war Junggeselle. Frauen hatten es nie lange mit ihm ausgehalten. Oder er nicht mit ihnen. Seine Ansprüche an die äußere Erscheinung einer Frau waren nicht sehr hoch, sie wären an sich kein Hindernis gewesen. Doch seine Erwartungen hinsichtlich der Haushaltsführung und der Rollenverteilung zwischen Mann und Frau hatten bisher noch jede sich anbahnende Zweisamkeit schnell wieder im Keim erstickt. Rüthli erwartete, dass die Frau seiner Wahl mehr oder weniger das eigene Leben aufzugeben und sich ganz in den Dienst ihres Mannes zu stellen hätte. Eine solche Frau hatte er bislang noch nicht gefunden. Das bereitete ihm aber kein Kopfzerbrechen. Er war sich selbst genug, kochte gerne, bügelte akkurat, besorgte seinen Haushalt mit der gleichen Perfektion, mit der er seine Polizeiaufgaben anging und wusste jedes Mal, wenn er auf eine Kontaktanzeige im Bündner Tagblatt reagierte, wie es enden würde. Nämlich mit einem Reinfall. Dass er sich dennoch mit schöner Regelmäßigkeit darauf einließ, hatte etwas mit seinem Pflichtbewusstsein zu tun. Ein Mann hatte die Pflicht, nach einer Frau Ausschau zu halten, nach einer Lebensgefährtin. Das war eine noch unerledigte Aufgabe in Rüthlis Leben.

Aber für den Moment stand eine ganz andere Aufgabe auf dem Dienstplan: die Leichenbergung im Morteratsch-Gletscher. Das konnte ein Fall für die Kriminalpolizei werden, musste aber nicht. Vielleicht war es ein verschollener Bergwanderer. Ein Verunglückter. Höchstwahrscheinlich war es das, die meisten Gletscherleichen waren von dieser Sorte. Aber ein Toter ist ein Toter. Also fuhr Gendarmeriefeldweibel Urs Rüthli zusammen mit seinem Kollegen Korporal Pirmin Hürzeler unverzüglich hinaus nach Pontresina.

Wie er erwartet hatte, trafen sie die ARS-Bergungsmannschaft der Alpine Rettung Schweiz, Rettungsstation 3.01 Pontresina, nicht mehr an. Der aus fünf Bergrettern bestehende Trupp war bereits zusammen mit einem Polizisten der Polizeistation Pontresina aufgestiegen zum Morteratsch-Gletscher, um dort unter Mithilfe des Bergführers Bernie den Leichnam aus dem Eis zu bergen.

„Wann sind sie losgegangen?“

Der Diensthabende in der Polizeistation von Pontresina warf einen Blick auf die Wanduhr und antwortete: „Z’ Nüni!“ Jetzt war es bereits nach 13 Uhr.

Rüthli kommentierte: „Vor vier Stunden. Dann müssten sie doch schon oben sein, oder?“

Der Kollege schüttelte den Kopf.

Korporal Hürzeler studierte unterdessen die Aushänge am Schwarzen Brett in der Polizeistube, was Rüthli missbilligend aus den Augenwinkeln zur Kenntnis nahm. Der Kollege interessierte sich wohl nicht besonders für den heutigen Auftrag.

„Schon Funk gehabt?“

Der Diensthabende verneinte. Rüthli hielt den Blick dackeltreu auf ihn gerichtet, sagte aber nichts, als wartete er auf weitere Auskünfte. Schließlich verstand der Andere. „Sölled mr äss emol ufä probiere?”

„Ja bitte, funken Sie die ARS mal an.“

Sie begaben sich an die Sendestation in der Einsatzzentrale. Rüthli achtete darauf, dass er dem Kollegen aus Pontresina auf dem Fuß folgte. Der sollte bloß nicht das Gefühl haben, die Angelegenheit wäre nicht dringend.

Nach wenigen Versuchen bekamen sie Funkkontakt. Es knarzte und rauschte zwar, als befänden sich die Gesprächspartner auf einer Mondlandemission, doch es funktionierte leidlich.

„Wa isch? No nüünt gfunde? So öbis abber au!” Ein paar Gesprächsfetzen flogen hin und her. Im Wesentlichen transportierten sie folgende Informationen: Der Suchtrupp irrte in den Gletscherspalten umher und der Bergführer wurde gerade irre, weil er die Stelle nicht mehr wiederfinden konnte, wo die Leiche sein sollte. Es regnete. Die Sicht war schlecht. Nein, die Kriminalpolizei werde nicht gebraucht. Auf keinen Fall sollten sie nachkommen. Das bringe gar nichts. Man würde den vermeintlichen Leichnam schon alleine nicht finden, falls es ihn nicht gebe, da brauche man keine Kripo dazu. Ja, klar, wenn es ihn aber doch gebe, dann werde man ihn selbstverständlich finden. Da sei noch weniger Hilfe der Kriminalpolizei vonnöten. Ja, bitte, die Selbige solle doch einfach unten in Pontresina warten und im Puntschella einen Kaffee trinken. Man melde sich wieder.

*

Der ARS-Rettungstrupp irrte tatsächlich im Nebel umher wie Robert Falcon Scotts letztes Aufgebot auf der Suche nach dem Nordpol. Vorneweg ein zunehmend ratloser Bergführer Bernie, dann fünf mit Rucksäcken, Funkgeräten, Tragegestellen, Schlitten, Akia und Eispickeln ausgerüstete Mitglieder der Alpinen Rettung Schweiz sowie, ganz am Ende der Schlange und nass wie ein Putzlappen, der Polizist aus Pontresina, Wachtmeister Luchsinger. Bergführer Bernie schaute betröpfelt aus der Wäsche. Mutlos hing ihm der Bart unter der Nase. Beide tropften. Jetzt wusste er bald nicht mehr weiter. Sie waren die Gletscherspalte erst aufwärts, dann abwärts abgegangen. Es gab keinen anderen Weg. Nur diese eine Spalte war begehbar. Und Bernie wusste genau, dass er hier mit den Amerikanern und dem Paar aus Deutschland durchgekommen war. Aber wo war die Gletscherleiche geblieben?

Thommy, der ARS-Truppführer in seinem schwarzgelben Antarktis-Overall, trat zu Bernie und legte ihm die behandschuhte Hand auf die Schulter. „Lömmers si, Bernie. Was meinsch? Bi dem Pflotsch finde mr nüüt meh, odder?“

Bernie schüttelte den Kopf.

„Nai! I hannen doch sälber gsähne. Un i han kein Aff cha!”

Es nützte Bernie nichts, zu beteuern, er sei nicht betrunken gewesen. Die Blicke der anderen Bergretter, die ihn umstanden wie das Ärztekollegium in der Psychiatrie den Patienten, sprachen Bände. Denn genau das dachten sie, dass er besoffen gewesen sei. Bernie holte noch einmal sein Handy mit den Aufnahmen heraus, die er von der Gletscherhand gemacht hatte. Der Regen lies die Bedienoberfläche sofort schmierig werden, doch es gelang ihm, nachdem er den Handschuh ausgezogen hatte, das Foto aufzurufen. Er zeigte es herum. Zum wiederholten Male. Leider hatte er versäumt, die GPS-Daten mit abzuspeichern. Er schalt sich einen Trottel dafür. Aber jetzt war es zu spät. Nach seinem Empfinden standen sie genau an der Stelle, wo die Hand hätte sein müssen. Doch nichts als tropfendes Eis und Schnee umgab sie. Aber Moment mal? Schnee? Wieso Schnee? Es hatte doch nicht wirklich geschneit. Und hier unten in der zwanzig Meter tiefen Gletscherspalte bestand doch keine Wand aus Schnee? Er boxte gegen die eisige Schneewand, die sogleich in Abertausende von Eisraspeln zersplitterte, in sich zusammenfiel und zu ihren Füßen in das gluckernde Schmelzwasser hineinkalbte. Der Blick war frei auf eine künstliche Höhlung in der Eiswand. Bernie sprang erschrocken zurück, die ARS-Bergretter ebenso. Die Höhlung maß etwa drei auf zwei Meter und ging fast zwei Meter tief ins Eis hinein. Gegenstände lagen darin: zwei Kettensägen, bereits festgefroren. Zwei Benzinkanister. Ein Fülltrichter. Eine große Blechkiste. Verblüffte Kommentare gingen hin und her. Bernie kniete sich auf die Kante und griff in die Höhle hinein, um einen der Kanister herauszuziehen, als ihn der scharfe Ruf von Wachtmeister Luchsinger stoppte: „Nüünt alängä!“

 

Bernie lies vor Schreck den leeren Kanister fallen, dieser rutschte auf der abschüssigen Eisfläche aus der Höhle heraus, überschlug sich zweimal, schusselte zwischen den Stiefeln der Suchmannschaft hindurch und wurde vom abfließenden Gletscherwasser holpernd davongetragen. Einer der ARS-Männer schnappte den Flüchtling und hielt ihn triumphierend hoch. Dann stellte er ihn wieder zurück in die Eishöhle.

„De Maa isch gmuggät worre“, stellte Thommy nüchtern fest. Bernie nickte. Fast wirkte er erleichtert. Immerhin war jetzt klar, dass er keinen Blödsinn erzählt hatte. Wachtmeister Luchsinger stellte sich so vor die Höhle, dass niemand mehr hineinfassen konnte. Er drückte höchste polizeiliche Entschlossenheit aus. War das hier tatsächlich ein Leichendiebstahl? Die Männer sahen sich ratlos an. Dann besann sich Thommy der beiden Kriminalpolizisten aus Chur, die vor einer halben Stunde über Funk so genervt hatten. „Hol de Funk ussi, mr sotte jetzt doch ämol aariefe“, kommandierte der Truppführer.

*

Im Café Puntschella in Pontresina war es gemütlich warm gewesen und der Blick durch die große Fensterscheibe hinaus aufs Dorfzentrum bot kurzweilige Unterhaltung. Hier hätten es Urs Rüthli und sein Kollege Pirmin Hürzeler auch den ganzen Nachmittag aushalten können. Aber Rüthli zögerte keine Sekunde, als er von der Entdeckung oben im Gletscher erfuhr: „Wir gehen sofort hin!“ Zwanzig Minuten später saßen sie dick vermummt in Dienstanoraks im geländegängigen Spezialfahrzeug des Polizeipostens Pontresina und ließen sich erst die drei Kilometer bis nach Morteratsch und dann von dort auf dem Gletscherpfad auf den nebelumhangenen Berg hinauf chauffieren. Hürzeler, der vollkommen in seinem Anorak verschwand, plädierte unter Berufung auf die fortgeschrittene Uhrzeit und den schwarzen Himmel unablässig für die sofortige Umkehr. „Wir kommen in die Nacht“, jammerte er. Der Geländewagen machte einen Satz. Rüthli hielt sich am Überrollbügel fest. Hürzeler, der Lulatsch, stieß sich den Kopf an und jammerte weiter.

Unterwegs trafen sie Bergführer Bernie mit vier Mann vom ARS-Rettungsteam. Sie hatten sich bereits auf den Rückweg gemacht. Rüthli ermahnte sie, sich anderntags zur Aufnahme eines Protokolls zur Verfügung zu halten und sammelte alle Adressen ein.

Nach zuletzt noch einem 40-minütigen strammen Fußmarsch erreichten sie endlich die Gletscherspalte und die Stelle, an der Anführer Thommy mitsamt einem inzwischen festgefrorenen Wachtmeister Luchsinger wartete. Urs Rüthli lobte den Tapferen als vorbildlichen Beamten, was in diesem die Bereitschaft weckte, noch die ganze Nacht in der Gletscherspalte Wache zu stehen. Rüthli ließ die Stelle zuerst auf sich wirken, während Bergretter Thommy ihm von der Seite die ganze Fundgeschichte noch einmal haarklein erzählte. Nicht ohne mehrfach zu betonen, dass ihm so etwas noch nie vorgekommen sei. Hürzeler fotografierte aus allen Lagen. Rüthli dirigierte ihn: „Klettern Sie mal hier herauf! Jetzt von oben! Jetzt von unten! Sie müssen den Blitz einschalten, odder! So wird das nichts.“

Inzwischen brach die Dämmerung über sie herein. Es wurde Zeit, die Beweissicherung abzubrechen. Rüthli wäre bereit gewesen, Scheinwerfer anzufordern und auch noch während der Nacht in der stark nässenden Gletscherspalte herumzukriechen. Alles Wichtige hatte er gesehen. Glaubte er.

Fachmännisch bargen sie die Beweisstücke, packten sie einzeln in Plastikmüllsäcke, verstauten alles in der großen Blechkiste und verluden diese auf den Rettungsakia von Thommy. Die beiden Kettensägen waren monströse Maschinen, mit Schwertern, so groß wie ein Bügelbrett, geeignet, den halben Amazonas-Regenwald abzuholzen. Rüthli wog eine in den Armen: „Mordsgerät, odder!“

Als Thommy die Blechwanne ein Stück in der Regenrinne weiter schob, die sich unter ihr gebildet hatte, schwemmte das Wasser auch einen kleinen weißen Papierfetzen weg. Rüthli wäre er fast entgangen. Er zog einen Handschuh aus und klaubte das winzige Papierchen aus dem kalten Eiswasser. Hürzeler, der seinen Kollegen kannte, zauberte aus den Tiefen seines Anoraks eine kleine Plastiktüte und hielt sie Rüthli hin. Der streifte das Papierchen in die Öffnung der Plastiktüte hinein und knotete sie dann sorgfältig zu. „S‘ könnt öbbis si“, so verfiel er vor Begeisterung in den heimischen Dialekt. Normalerweise achtete er auf seine kerzengerade, hochdeutsche Aussprache.

Dann schritt Rüthli abermals die Fundstelle ab, inzwischen wegen der Dunkelheit hinter dem buttergelben Strahl einer dicken Polizeitaschenlampe. Es trieb ihn die Sorge um, etwas übersehen zu haben. Am nächsten Tag konnten alle Spuren verweht, verwässert oder verschneit sein. Selbst Wachtmeister Luchsinger, der immer noch in Hab-Acht-Stellung ausharrte, könnte über Nacht verschwinden, wenn sie ihn nicht mitnähmen. Ein Gletscher verschluckte gerne mal auch größere Gegenstände und ohne Probleme auch einen Polizeiwachtmeister. „Bewegen Sie sich!“, befahl Rüthli. „Sie frieren uns sonst hier noch fest.“

Der Grund der Gletscherspalte war glatt wie eine eingeseifte Rutschbahn. Als sie sich auf den Rückweg machten, schlug es erst Korporal Hürzeler auf den Hintern, dann Wachtmeister Luchsinger. Rüthli und Thommy steuerten hinten und vorne an den Haltegriffen den Akia. So schlitterten sie talwärts. Rüthli sah schon die Schlagzeile vor sich: „Kettensäge aus Morteratsch-Gletscher geborgen!“ Zu peinlich! Noch konnte er sich keinen Reim auf den Fund machen. Aber er würde schon herausfinden, was hier geschehen war. Es gab zwar keine Leiche, aber es gab Beweisstücke, es gab Zeugen, es gab Fotos. Er drehte sich zu Hürzeler und raunte ihm zu: „Morgen früh müssen wir Vernehmungen machen und alle Beteiligten befragen, odder! Wenn wir im Polizeiposten sind, machen Sie eine To-Do-Liste!“

Hürzeler stöhnte. Rüthlis Lieblingsbegriff war gefallen: To-Do-Liste! Das bedeutete nichts Gutes. Diese Listen genossen einen legendären Ruf bei der Kriminalpolizei. Und Rüthli wollte sie gleich machen, nicht erst am nächsten Morgen. Nach Hürzelers Zeitempfinden war es bereits Mitternacht. Er war todmüde, nass wie eine Bisamratte und hungrig wie ein Wolf. Wie konnte der Chef jetzt noch eine To-Do-Liste verlangen?

*

Rüthli suchte das deutsche Urlauberpaar Mona Hohner und Armin Röller in ihrem Hotel in St. Moritz auf. Er hatte sie noch am Vorabend zu später Stunde angerufen und sich vergewissert, dass ihr Urlaub noch andauerte und sie für ein Gespräch zur Verfügung standen. Das genervte Mosern von Armin Röller, der etwas von einer geplanten Mountainbike-Tour ins Telefon nuschelte, hatte der Feldweibel ignoriert. Die Frau wirkte am Telefon freundlich.

Rüthli wartete in der kalten Hotelhalle, über deren Steinfliesen frühe Mountainbiker mit klackernden Spezialschuhen stürmten, bereit, die Berge zu erobern, obwohl es draußen fertige Pfützen regnete. Rüthli sah sich um. Ein typisches Sporthotel. Funktional, nüchtern, wenig Romantik. An den langweiligen weißen Wänden hingen übergroße Panoramafotos der Engadiner Bergwelt. Wie originell. Die Rezeption bestand aus einem integrierten, geschwungenen Furniermöbel, welches eine komplette Längsseite der Hotelhalle abschirmte wie eine Staumauer, sowie aus drei lieblosen Sitzgruppen aus schwarzen Lackledersesseln, garniert mit exotischen immergrünen Ziergewächsen. Rüthli war damit befasst, herauszufinden, ob es sich um echte oder um Plastikpflanzen handelte, als er das junge Paar dem Aufzug entsteigen sah. Der Mann war schlank, ein fein getrimmter Freizeitsportler mit auffallender Sonnenbräune. Die Frau war mittelgroß, ebenfalls schlank, mit weiblichen Formen an den richtigen Stellen, und ausnehmend hübsch. Ihr hellblondes Haar hatte sie unkompliziert am Hinterkopf zusammengeknotet. Sie lächelte und strahlte den Typ „Kumpel“ aus. Rüthli fand sie schon sympathisch, als sie mit beschwingtem Gang auf ihn zukam. Armin Röller fand er in gleichem Maße unsympathisch. Der Kerl stolzierte wie ein Gockel daher. Er trug einen Trainingsanzug, aus einem Material, das wahrscheinlich im Weltraum erfunden worden war. Das nach hinten gegelte Haar glänzte wie der Schopf eines Tangotänzers.

Rüthli unterdrückte seine erwachende Abneigung. Stattdessen grinste er gutmütig wie ein Berner Sennerhund und lud die beiden zu sich in die Ledersesselecke ein. Er klappte seinen Laptop auf. „Ich schreibe mir immer die wichtigsten Aussagen auf, wenn ich mit Zeugen rede“, erklärte er ungefragt.

„Zeugen von was ...?“ unterbrach ihn Armin Röller barsch. Im Gegensatz zu Mona Hohner war er stehen geblieben. Herausfordernd hielt er die Arme vor der Brust verschränkt. Rüthli schenkte ihm keinen Blick. Stattdessen wandte er sich an Mona: „Sie haben also diese Hand im Gletscher zuerst entdeckt?“

Mona nickte. Wieso sollte sie patzig sein wie ihr Freund? Sie hatte schließlich nichts zu verbergen. Und dieser knuffige Polizist mit der Kurzhaarfrisur sah doch ganz friedlich aus. Er schaute sie mit treuherzigem Blick an und blinzelte vertrauenerweckend mit den farblosen Wimpern. „Ja“, sagte sie. „Die Hand schaute heraus aus dem Eis. Und sie war haarig.“

„Und sonst?“

Sie sah ihn fragend an. „Wie, sonst?“

„Ist Ihnen sonst noch etwas an der Hand aufgefallen, außer dass sie haarig war?“

Sie zögerte und schob die Unterlippe vor, um zu überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf: „Eigentlich nicht.“

„Eigentlich?“

„Was soll denn das?“, mischte Armin sich ein. Er fuchtelte mit den Armen. „Sie fragen ja gerade so, als würden wir etwas verbergen.“

Rüthli griff das Stichwort ungerührt auf; er lächelte immer noch wie eine Kinderschwester: „Und? Haben Sie ...?“

„Jetzt hört‘s aber auf!“

„Es ist Ihnen also beiden nichts aufgefallen?“

„Ich wüsste wirklich nicht, was einem da auffallen soll. Eine Hand ist eine Hand. Und das war’s!“

Nachsichtig nickte Rüthli. „War es eine Frauenhand?“

„Nein. Das haben wir doch schon den Polizisten von Pontresina gesagt“, übernahm Mona jetzt wieder das Antworten.

„Woraus schließen Sie, dass es keine Frauenhand war?“ Rüthli hackte mit zwei Fingern auf die Tastatur seines Laptops ein.

„Hab’ ich doch schon gesagt: Die Hand war ganz haarig. Und groß. Mit starken Fingern.“

„Aha, dann ist Ihnen ja doch etwas aufgefallen. Nämlich dass die Hand starke Finger hatte.“

„Ja, schon. Aber ist das etwas Besonderes?“

„Sie, Herr Röller, – setzen Sie sich doch! Haben Sie die Hand auch gesehen?“

„Natürlich! Das habe ich schon bei Ihren Kollegen zu Protokoll gegeben. Das war glasklar eine Männerhand. Ich habe sie genau angeschaut. Und fotografiert.“

„War es eine linke oder eine rechte Hand?“

„Äh ...?“

Rüthli wartete ein paar Sekunden. „Eine linke oder eine rechte Hand?“

Mona und Armin sahen sich gegenseitig an. Ratlos.

„Ich glaube, links“, sagte Mona schließlich zögernd.

„Rechts“, widersprach Armin. Sie warf ihm einen kurzen Giftblick zu. Urs Rüthli registrierte es aus seinem Polizeiaugenwinkel, obwohl es aussah, als sei er ganz und gar in den Laptopbildschirm versunken.

„Ich habe hier Ihr Bild hochgeladen“, erklärte er jetzt und drehte den Laptop auf den Knien um, so dass die beiden einen Blick darauf werfen konnten.

„Na also, links“, triumphierte Mona.

„Hat irgend jemand von Ihrer Gruppe die Hand angefasst, irgendwie berührt?“

 

Mona schüttelte sich. „Was denken Sie. Das ist doch gruslig. Nie und nimmer!“

„Der Bergführer hat mit seinem Messer daran herumgekratzt“, erinnerte sich jetzt Armin, deutlich konstruktiver als zuvor. Inzwischen hatte er sich auch in einen der schwarzen Ledersessel bequemt. Er hatte kapiert, dass dieser schweizerische Polizeibeamte nicht mit ein paar schnellen, mürrischen Antworten abzufertigen war. Der machte den Eindruck, als würde er stoisch sein Programm durchziehen.

In der Tat war Rüthli keiner von der schnellen Sorte. Schon gar nicht bei einer Befragung. Wer wusste denn, wann und ob überhaupt jemals wieder er diese beiden Deutschen zu diesem Fall befragen konnte. Noch hatte er ihnen nicht eröffnet, dass die Leiche verschwunden war. Da würde er sich schon noch hinarbeiten. Zunächst einmal wollte er alles über die Bergtour und die Teilnehmergruppe wissen, über Bernie und die Amerikaner. Was haben sie gesprochen? Was haben sie an Kleidung und Ausrüstung getragen? Wann und wie haben sie sich kennengelernt? Wer ging vorne, wer in der Mitte, wer hinten in der Gruppe? Was genau hatte Bergführer Bernie nach dem Leichenfund getan? Mit wem hatte er telefoniert oder gefunkt? Wer hatte alles die Hand fotografiert? Wem hatten sie von dem Fund erzählt oder die Fotos gemailt?

Mona zögerte kurz bei dieser Frage, und selbstverständlich fiel dem unbestechlichen Rüthli dieses kurze Zögern auf.

„Na?“

„Ich überlege gerade“, redete Mona sich heraus, um Zeit zu gewinnen. Sollte sie wirklich verraten, dass sie die Fotos ans Institut geschickt hatte? An Professor Aschendorffer? Was, wenn ihr Handy beschlagnahmt wurde und die Kriminalpolizei all ihre Adressen und Mailkontakte rekonstruierte? Sie biss sich auf die Lippen. „Ich habe, ich glaube..., ich denke, das ist, ... das war ..., ich habe das schon herumgeschickt“, stammelte sie schließlich.

Rüthli wartete unerbittlich: „An wen alles?“

„Meine Mama“, gestand sie schließlich. „Vielleicht“, setzte sie dann sogleich einschränkend hinzu. „Ich glaube es.“ Sie setzte ein Gesicht auf, das hoffentlich als nachdenklich durchging. „Eine Kollegin, eine Freundin im Institut ...“, bot sie an.

„Name bitte!“, forderte Rüthli.

„Ach nein, doch nicht. Vielleicht war es auch ein Kollege. Einer von den Professoren.“ Sie warf einen hilfesuchenden Blick zu Armin.

„Hast du nicht noch in der Nacht mit deinem spinnigen Professor telefoniert?“, fragte er.

Ausgerechnet die Frage, die er auf keinen Fall hätte stellen dürfen.

Sie nickte zähneknirschend. „Der Professor, ah ja, ... äh, ja, das könnte sein. Dem habe ich das Bild geschickt.“

Rüthli ließ von seiner Tastatur ab und lehnte sich zurück. Er richtete einen prüfenden Blick auf Mona, der ihr Gewissen versengte. Wenn sie schon bei der kleinsten Notlüge zur Tomate mutierte, wie mochte man ihr dann ihre Mitwisserschaft an einem Leichendiebstahl ansehen? Verlegen richtete sie den Blick auf ihre Schuhspitzen.

„Wie heißt er doch gleich, dieser Professor?“ Rüthli fragte so freundlich wie ein Pfarrseelsorger.

Mona gab ihm die Personalien ihres Chefs. Rüthli lächelte aufmunternd. Gleich würde er aufstehen, Mona die Hand reichen, und alles wäre gut.

„Und dieser Professor, odder, der hat nicht zufällig eine Verwendung für tiefgefrorene Leichen?“ Rüthli fragte, als mache er einen Scherz. Aber er lauerte. Mona schlug die Hand vor den Mund. Sie schüttelte den Kopf. Eine Spur zu hektisch. „Nein! Nein!“

„Also nicht?“, versicherte sich Rüthli.

Jetzt brachte Mona immerhin ein säuerliches Lächeln zustande. „Nein, wirklich nicht.“

Rüthli tippte etwas in sein Laptop. Was schrieb er sich jetzt auf? Hatte sie sich etwa verraten?

Rüthli ließ eine kunstvolle Pause verstreichen. Er setzte sich auf der Sesselkante zurecht, strich sich mit den Händen über die Oberschenkel. Er lächelte. Er zupfte an seiner Uniformjacke und rückte sie am Kragen in Form. Er wandte seinen ganzen Oberkörper jetzt Mona zu und machte dabei ein Gesicht wie ein zufriedener Möbelverkäufer. Immer noch lächelte er. „Das interessiert Sie gar nicht, warum ich gefragt habe, ob der Professor sich für Leichen interessiert?“ Er legte nochmals eine quälende Pause ein. „Es ist nämlich so, dass jemand unsere Leiche gestohlen hat! Sie ist verschwunden!“

*

Die beiden Kettensägen stammten vom Hersteller Stihl und waren fast neuwertig. Es waren die größten im Handel erhältlichen Modelle, jeweils etwa 2000 Euro teuer. Beim Benzinkanister aus milchweißem Plastik handelte es sich um einen Allerweltsartikel, wie ihn jeder Baumarkt und jede Tankstelle feilbot. Der Trichter, der zum Umschütten des Benzins verwendet worden war, hatte eine Küchen- oder Gastronomievergangenheit, denn die Spurensicherung hatte neben den Benzin- auch deutliche Frittierölspuren daran festgestellt. Die große Blechkiste wimmelte wie alle anderen Beweisstücke ebenfalls von Fingerabdrücken, von denen aber kein einziger gerichtsbekannt war. Es handelte sich bei der Blechkiste um eine Alu-Transportkiste von beachtlichen Ausmaßen, 1,40 Meter lang, 80 Zentimeter breit und ebenso hoch. Urs Rüthli wuchs eine Grübelfalte auf der Stirnmitte, während er den Bericht der Spurensicherung über das Behältnis las. Inzwischen saß er wieder auf seinem baufälligen Drehstuhl am Schreibtisch in Chur und erledigte die Papierarbeit zu seinem Fall. Wie zu erwarten, fanden sich Kettensägenöl, Benzinspuren, Wasser und profaner Dreck an und in der Kiste. Auf ihrer Unterseite sammelten die Spürnasen noch einige Fasern einer groben Wolldecke ein. Es gab laut Untersuchungsbericht an und in dieser Kiste zusätzlich noch den Nachweis von Hammel-, Lamm-, und Kalbfleisch sowie von Mayonnaise und Joghurt. Feldweibel Rüthli hatte keine Fantasie, was das bedeuten konnte. Vielleicht ein Metzger? Aber was wollte der mit einer Leiche?

Hürzeler kam hereingestürmt. Die neueste Ausgabe der „Blick“ vor sich her wedelnd, als wolle er Fliegen vertreiben. „Tolle Story“, kündigte er an. „Hier schau!“ Er hatte die Seite schon aufgeschlagen und deutete auf den Aufmacher. Buchstaben so groß wie im Zentralorgan des Blindenvereins verkündeten: „Rätsel für Bergretter: Deutscher Ski-Doo schwimmt in der Flaz.“ Der Untertitel lautete: „Wollte die Deutsche Bergwacht etwas vertuschen? Fahrzeug stammt aus dem Schwarzwald. Behörden schweigen.“

Der Ski-Doo. Rüthli hatte ihn ganz vergessen. War das nicht ganz in der Nähe von ihrem Morteratsch-Fall gewesen? Hinter Samedan? Das war nicht mal zehn Kilometer von Pontresina entfernt. Der Polizeiposten Samedan bearbeitete den Fall, nicht die Kollegen von Pontresina. Das erklärte, warum Rüthli ihn aus den Augen verloren hatte. Und warum er nicht gleich auf die Idee gekommen war, das eine könnte mit dem anderen vielleicht etwas zu tun haben.

„Hürzeler“, bat er seinen Adjudanten laut um Aufmerksamkeit. Der kannte diesen Ton schon an Rüthli. Jetzt kam eine Prüffrage. Der Korporal stand unmerklich stramm. „Hürzeler, sag mir mal, wie du einen Leichnam vom Gletscher herab ins Tal transportieren würdest?“

„Mit dem Heli, odder?“

„Du hast aber gerade keinen Heli. Hubschrauber ist anderweitig im Einsatz. Was dann?“

Der Korporal grübelte. Die Schlagzeile „Rätsel für Bergretter: Deutscher Ski-Doo schwimmt in der Flaz“ lag vor ihm und heischte nach Aufmerksamkeit. Höchstwahrscheinlich hätte man einen kleinen, ferngesteuerten Modell-Ski-Doo vor seiner Nase herumfahren lassen müssen, um ihn auf die richtige Spur zu bringen. Jetzt war er noch nicht so weit. „Bin ich alleine?“, wollte er wissen.