Das Erwachen der Gletscherleiche

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Z serii: Lindemanns #313
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Johannes Aschendorffer schüttelte ungläubig den Kopf, nicht ohne innerlich seinem Helfer zu gratulieren. Blendende Idee. Natürlich würden sie ein Transportfahrzeug brauchen, um die gefrorene Leiche vom Gletscher zu holen. Kaymal hatte an alles gedacht.

Sie schlugen die Luke des Lieferwagens zu.

„Und dein Bruder ist bei der Bergwacht Feldberg?“, fragte Aschendorffer skeptisch.

Kaymal nickte: „Cheffe dort!“, bekräftigte er.

Also zwängte der Professor sich auf den Beifahrersitz neben Kaymals Bergwacht-Bruder, der aber keinesfalls wie ein Bergwacht-Chef aussah. Hätte er sonst Sandalen und kurze Hosen getragen? Die Fettspritzer auf dem kurzärmeligen Hemd des Bruders sprachen auch eine andere Sprache. Überhaupt roch es streng nach Dönerbude. Kaymal startete den Wagen. Aschendorffer seufzte. Er hatte einen Kühlwagen, einen Motorschlitten, zwei zu allem bereite türkische Helfer, er kannte die exakten Koordinaten vom Fundplatz der Gletscherleiche. Was wollte er mehr?

Die Fahrt ging durch Nieselregen auf der A5 Richtung Basel und Schweizer Grenze. Der Professor vertiefte sich in einen Wälzer mit dem Titel „Zur Flora der Sedimentgebiete im Umkreis der Südrätischen Alpen“. Er sprintete in gewohnter Manier durch die Seiten. Die beiden Türken qualmten stinkende Balkanzigaretten. Die Lüftung des Lieferwagens surrte auf Hochtouren, um den Qualm ins Freie zu befördern. Aschendorffer fühlte sich nicht belästigt. Der Professor war zwar hundertprozentiger Nichtraucher und Antialkoholiker, aber keineswegs ein Gesundheitsfanatiker. Es machte ihm nichts aus, wenn er von Zigarettenqualm eingenebelt wurde. Im Autoradio lief SWR3: Das Wetter würde nicht besser werden, regnerisch und kalt, so, wie es Ende September in der Schweiz zu erwarten war.

Ohne Schwierigkeiten kamen sie über die Grenze in Basel. Kaymal hatte kurz zuvor eine bereits mehrfach gebrauchte, geschickt präparierte Schweizer Autobahnvignette aus seiner Brieftasche gezaubert und auf eine Art und Weise auf der Windschutzscheibe befestigt, dass er sie jederzeit wieder abnehmen konnte. Die Schweizer Grenzposten belästigten sie nicht. So fuhr das Trio ohne Pause in gesetzeskonformem Tempo auf der Autobahn über Zürich nach Chur, von dort in immer heftiger niederprasselndem Regen auf der Schnellstraße nach Lenzerheide, Silvaplana, St. Moritz, wo der Regen in leichten Schneefall überging. Dann bogen sie auf die Via da Bernina Richtung Pontresina und Morteratsch ab.

Alles ging gut. Ihnen begegneten kaum andere Autos. In Morteratsch lag die Hauptstraße verlassen im Schneeregen. Das Dorf befand sich im Postkartenmodus. Still und leer. Einheimische und Touristen saßen noch beim Frühstück. Die Tachouhr im Lieferwagen zeigte kurz nach neun Uhr. Kaymal fand sofort die Stelle, wo der Gletscherlehrpfad zum Gletscher ins Gelände führte. Ein großes Verbotsschild zeigte an, dass dieser Wanderweg für Fahrzeuge gesperrt war. Kaymal wendete und steuerte den Lieferwagen im Rückwärtsgang in den schmalen Schotterweg hinein. „Fahre so weit wie komme.“ Aschendorffer kontrollierte die GPS-Koordinaten. Der „andere Bruder“ schwieg und qualmte.

*

Eine knappe Stunde später standen sie in der Gletscherspalte, die den Leichnam barg. Inzwischen segelten kirschgroße, fette, weiße Schneeflocken vom Himmel. Die Sicht betrug null Meter. Dennoch fand Kaymal mithilfe von Kompass und GPS die Stelle, wo die Leiche im Eis steckte. Kaymals Begleiter steuerte den Motorschlitten, der auf Raupen fuhr, so dass er nicht nur auf Schnee und Eis vom Fleck kam, sondern auch auf Bergwiesen, Schotterhängen und Trampelpfaden, die sie bis zum Erreichen der Gletscherzunge hatten queren müssen. Das war ein abenteuerlicher Ritt gewesen. Die beiden Türken hatten den Schlitten kurzgeschlossen, um ihn zu starten. Professor Aschendorffer wusste, dass dies nichts Gutes bedeutete, sowohl im Hinblick auf die Eigentumsverhältnisse, als auch hinsichtlich der Fahrerqualitäten. Mehr als einmal drohte das Gefährt umzukippen oder steckenzubleiben. Irgendwie schaffte es „anderer Bruder“ aber immer wieder, den Kurs zu halten. Kaymal, der mit Aschendorffer hinten auf der Blechkiste saß, die die beiden Türken auf die Schlittenpritsche geladen hatten, dirigierte seinen Bruder auf Türkisch. Kein Problem für Aschendorffer. Selbstverständlich verstand er Türkisch. Er hatte die Sprache zwar nie gezielt erlernt, aber er kannte sie, wie so viele andere Sprachen auch. Er experimentierte nämlich seit geraumer Zeit mit dem Broca-Areal und dem Wernicke-Zentrum, den beiden Sprachzentren im menschlichen Gehirn. Aschendorffers neurolinguistische Experimente zählten zu seinen vielen Nebenbeschäftigungen. Bei den Kollegen im BioGen lösten sie bisweilen Kopfschütteln aus. Nur wenn der Professor aus heiterem Himmel plötzlich eine kleine Ansprache auf Indisch hielt, schauten alle verblüfft aus der Wäsche und Dr. Murji Amresh lief rot an, weil Aschendorffer ihn als blöden Wichser bezeichnet hatte, der gefälligst Frau Dr. Bliesthal nicht ständig in den Ausschnitt schielen solle. Volltreffer! Was sein Trick dabei war, das verriet Aschendorffer nicht. Aber es sah so aus, als könne er binnen weniger Tage eine völlig neue Sprache in sein Gehirn hämmern und dann auch anwenden. Aschendorffer sprach und verstand auf diese Weise leidlich unter anderem auch Russisch, Chinesisch, Portugiesisch, Finnisch und so etwas Exotisches wie Rätoromanisch. Letzteres könnte ihm vielleicht in dieser Region eine Hilfe sein, sollten sie je auf einen Ureinwohner treffen.

Der Professor inspizierte die Stelle, wo die Leiche im Eis steckte. Die Hand drohte einzuschneien. Aschendorffer blies sorgfältig die dicken Schneeflocken beiseite. Er nahm eine Lupe zu Hilfe, um die Hand Millimeter für Millimeter abzusuchen. Dabei kniete er im Schnee und wackelte mit dem Kopf. Ungerührt von Schneefall und Kälte und als hätte er alle Zeit der Welt, kramte Aschendorffer ein kleines Etui hervor, in dem er medizinisches Besteck verwahrte. Die beiden Türken schlotterten wie frisch geschorene Hunde. Meslut Kaymal schlug sich die Arme um den Oberkörper, um sich warm zu halten. Trotzdem klapperte er mit seinen gelben Riesenzähnen wie ein aus dem Eismeer geborgener Schiffbrüchiger. Sein schweigsamer „Bruder“ hüpfte von einem Bein auf das andere. Seine pelzig behaarten Füße steckten in speckigen Sandalen. Die türkischen Krummsäbelbeine zitterten in den kurzen Hosen und die üppige Behaarung stand in der Kälte ab wie kleine, spitze Stacheln.

Seltsamerweise schien der Professor überhaupt nicht zu frieren. Er widmete sich in aller Seelenruhe seinen Untersuchungen. Jetzt setzte er eine feine Kanüle an und nahm eine Biopsie vor. „Kleine Gewebeprobe“, erläuterte er, mehr zu sich selbst als zu den Türken. Dann trat er einen Schritt zurück und nahm die gesamte Situation in Augenschein. Bis auf die Hand steckte die komplette Leiche im Gletschereis. „Wie kriegen wir den Kerl da nur heraus?“ Der Professor kratzte sich am Kopf. Das Schneekäppchen rutschte ihm in den Kragen. Er reagierte nicht darauf.

„Habbe schon überlegt“, meldete sich Kaymal. Er wies seinen Landsmann an, die mitgeführte Blechkiste zu öffnen. Dort kamen zwei Kettensägen zum Vorschein. Aschendorffer begriff. Die beiden Türken wollten einen kompletten Eisklotz heraussägen. Sie wollten den Leichnam als mobile Tiefkühltruhe bergen. Hervorragend!

Der Professor nickte anerkennend. „Wo hast du die Sägen her?“

„Hab ich Onkel. Isse Holzefaller! In St. Märge!“

Aschendorffer markierte die Umrisse des Leichnams, so wie er ihn hinter der Eiswand vermutete. „Wir müssen sicher gehen, dass wir die Leiche nicht beschädigen. Also machen wir den Eisklotz lieber großzügig. Hier, und hier, und hier!“, eifrig zeigte er die Stellen, wo die Türken sägen sollten.

Nach mehreren Fehlversuchen warfen Kaymal und sein Gehilfe mit vor Kälte klammen Fingern die mächtigen Motorsägen an. Sie knatterten gierig und stießen gewaltige Abgaswolken aus.

Die beiden Türken frästen sich von zwei Seiten ins Eis. Es ließ sich schneiden wie Butter, dennoch war es Schwerstarbeit. Kaymal schwitzte trotz der Kälte nach wenigen Minuten. Zwischendurch hielten die beiden inne, damit Aschendorffer den Fortschritt der Arbeiten überprüfen konnte. Aschendorffers Helfer ackerten wie echte Holzfäller. Beide Männer waren, anders als Aschendorffer, keine halben Portionen. Kaymal besaß den Brustkasten eines olympischen Ringers. Sein angeblicher Bruder sah aus wie Ben Hur mit dem Gesicht von Omar Sharif. Beide schufteten schweigend. Nur gelegentlich stießen sie pfeifend den Atem aus. Sie mussten den Eisklotz von allen Seiten in mehreren Etappen schräg ansägen, so lösten sie das Eismaterial rund um den frostigen Sarg. Schließlich mussten sie auf dessen Rückseite gelangen, um den Fund gänzlich frei zu sägen. Sie bohrten ihn mehr oder weniger aus dem Gletscher heraus.

Aschendorffer erkundete unterdessen das Gelände. Wegen des Schneefalls sah er keine zwei Meter weit. Über dem Morteratsch-Gletscher hing milchiger Bühnennebel. Fette Schneeflocken verdeckten alle Spuren.

Die Blechkiste musste runter von der Pritsche des Motorschlittens. Meslut und sein Partner bohrten zwei Klettereisen in ihren herausgesägten Eisklotz, und zerrten ihn an mächtigen Abschleppseilen aus dem Gletscher heraus. Er glitt fließend in die bereitgestellte Schlittenpritsche, als hätte ein Dutzend Hochleistungsingenieure diesen Vorgang berechnet. Der Schlitten ging in die Knie.

Kaymal grinste: „Steckt drinne wie Schneefittschel!“, kommentierte er.

Der Professor zog tadelnd eine Augenbraue nach oben: „Schneewittchen“, korrigierte er.

Kaymal grinste weiter: „Sagge ich doch: Schneefittschel.“

Die Türken nestelten mit ihren blaugefrorenen Fingern durchnässte Zigaretten aus den Brusttaschen ihrer Hemden und beratschlagten beim Qualmen ihr weiteres Vorgehen. Dies hier war ihr Projekt. Sie zurrten den Eisklotz auf dem Schlitten fest. Der Professor stand zwar daneben, hatte aber nichts zu sagen. Er erfuhr das Ergebnis der Beratungen: „Zwei Mann musse laufe nebbe die Schlitte un abstütze! Ein Mann isse Fahrer! Geht Berge abwärts, isse einfach!“

 

Das war ein großes Wort. Es war klar, dass Aschendorffer nicht der Fahrer sein konnte. „Ich tue mein Bestes“, versprach er. „Wenn nur der Schlitten nicht umkippt.“

Bevor sie den Platz ihres Grabraubes verließen, deponierten die beiden Türken noch die Blechkiste mit den beiden Motorsägen in dem großen Eisloch, das sie ins Gletschereis gesägt hatten. „Schneit zu und isse weg!“, behauptete Kaymal.

*

Wie sie es schafften, Schlitten, Eis, Leichnam und Professor unversehrt bis zum Lieferwagen zu bringen, bleibt das Geheimnis der beiden anatolischen Hochgebirgsjäger. Es dämmerte bereits, als der Eisklotz mit der Gletscherleiche wohl verwahrt im Kühlregal des Lieferwagens lag. Während Aschendorffer noch immer behaglich warm und entspannt wirkte, zitterten die erschöpften Schwerarbeiter. Kaymal rotzte geräuschvoll in den Schnee, warf die Heckklappe des Lieferwagens zu und verriegelte sie. „Schnell abfahre!“, kommandierte er und kletterte selbst auf den Fahrersitz. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Der Scheibenwischer schob emsig Neuschnee von der Frontscheibe. „Und dein Bruder? Wieso steigt er nicht ein?“, fragte Aschendorffer.

Kaymal, wieder eine Kippe im Mundwinkel, nickte zum Heck des Lieferwagens und erklärte trocken: „Musse Schlitte versorge.“

Aschendorffer stierte skeptisch in den Seitenspiegel. Wie sollte das gehen? Wohin konnte der Mann an diesem Ort und um diese Uhrzeit mit dem Schlitten wollen? Über die Berge kroch die kalte Nacht herunter. Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel wie sie nicht schöner an Weihnachten fallen können. Morteratsch lag vor ihnen im Schneegestöber, durfte von ihrer Anwesenheit aber möglichst nichts mitbekommen. Der arme Mann stand durchgefroren in Sandalen und kurzen Hosen im Neuschnee. Türken sind normalerweise nicht für Schweizer Gletscher gebaut. Es könnte sein Tod sein.

„Wo will er hin?“

Kaymal blies eine Qualmwolke aus und knurrte: „Musse zuruck auf die Feldberg!“ Dann legte er den ersten Gang ein und steuerte den Bofrost-Eiswagen vorsichtig den zugeschneiten Wanderweg hinunter. Aschendorffer fragte nicht weiter. Sein Vertrauen in Kaymal war grenzenlos. Und um das Wohlergehen des Bruders in Sandalen und kurzen Hosen machte der Professor sich auch keine Gedanken. Fremdes Schicksal. Aschendorffer völlig egal. Hier ging es um Größeres. Um Wissenschaft!

Er nestelte sein Handy hervor und rief Mona an, die in ihrem Hotel in St. Moritz schon voller Ungeduld darauf gewartet hatte. Aschendorffer erklärte nicht viel. Sie solle ihnen auf ihren Namen ein Zimmer in St. Moritz reservieren. Am besten nicht im gleichen Hotel, in dem sie selbst wohnte. Es sprach einiges dafür, ihren Aufenthalt in St. Moritz zu verheimlichen. Hausmeister Kaymal wehrte sich nicht gegen die Übernachtung. Wenn Aschendorffer es verlangt hätte, wäre er auch noch in der gleichen Nacht nach Freiburg zurückgefahren. Aber die Nacht in einem warmen Hotelbett konnte auch der unzerstörbare Meslut Kaymal dringend gebrauchen. Wieso fror Aschendorffer nicht? Das war Kaymal ein Rätsel. Normalerweise war er es gewohnt, körperlich mehr auszuhalten als jeder andere. Aber dieser komische mickrige Professor, an dem nicht viel mehr dran war als an einem verhungerten Radrennfahrer, der zeigte keinerlei Schwäche, keine Anzeichen von Erschöpfung, er fror nicht, er kannte keine Schmerzen, er litt nicht. Nicht einmal unter dem Qualm von Kaymals türkischen Zigaretten. Der Professor war ein körperliches Phänomen. Das war einer der Gründe, warum Kaymal ihm bedingungslos ergeben war. Obendrein war der Professor ein Genie. Der andere Grund.

Wenig später erreichten sie das Carlton in St. Moritz. Aschendorffer hatte während der kurzen Fahrt im Telefonat mit seiner Assistentin darauf bestanden, dass sie „den größten Klotz“ aussucht. „Wir sollten ein bisschen anonym bleiben“, erklärte er schnoddrig, ganz wie es seine Art war. Überhaupt sprach der Professor immer sehr lässig, auf schnippische Art emotionslos. Im gleichen Tonfall, in dem er den kürzesten Fußweg vom BioGen-Institut zum Freiburger Hauptbahnhof erklärte, berichtete er auch von der erstmaligen Verpflanzung eines Hühnerhirns in den Schädel einer Taube. Das war ihm vor einem halben Jahr gelungen. Die Taube konnte danach zwar nicht mehr fliegen, lebte aber noch vier Wochen lang. Auf jeden Fall hätte man an seinem Tonfall niemals erkennen können, ob es sich nun gerade um etwas Wichtiges oder eher etwas Belangloses handelte. Gefühle drückte Aschendorffer nicht durch Sprache aus, sondern durch Aktivitäten. Je hektischer er wurde, je aufgeregter und ungeduldiger, desto größer war seine emotionale Erregung. Jetzt zum Beispiel.

Während der Fahrt ließ der Professor sich von Kaymal die Funktion des Kühlwagens erläutern. Permafrost war garantiert, auch wenn sie den Wagen über Nacht in der Hoteltiefgarage abstellten. Das stellte den Professor zufrieden.

Das Carlton saß als monströses Schloss in prominenter Hanglage mitten in Sankt Moritz und blickte aus einer zwölfstöckigen Suiten-Front gelassen auf den Ort und den dazugehörigen See hinunter. Der Professor stolzierte ein, zückte seine Kreditkarten und wurde auf der Stelle kniefälligst umsorgt. Er gehörte zu jener Sorte von Menschen, denen Dienstpersonal sofort die Bedeutung ansah. Dazu brauchte er keine Worte, schon gar nicht prunkvolle Kleidung und auch keinen Porsche draußen vor der Hotelzufahrt. Es genügte ein messerscharfer Blick, damit ihm das Personal an der Rezeption alle Wünsche erfüllte. Währenddessen brachte Kaymal den Lieferwagen in die Tiefgarage. Aschendorffer versicherte sich, dass Mona alle seine Anweisungen umgesetzt, ihnen getrennte Zimmer reserviert, frische Kleidung besorgt und schon den Tisch zum Abendessen reservierte hatte. Sie telefonierten kurz miteinander. Aschendorffer legte Wert darauf, dass Monas Freund Armin weiterhin nichts von seiner Anwesenheit wusste. Er erfuhr, dass sich die Bergwacht und ein Beamter der Schweizer Gendarmerie bei Mona angemeldet hatten, um deren Aussagen zu protokollieren. Die Schweizer Obrigkeit beabsichtigte, angemessenes Wetter vorausgesetzt, den Gletscherleichnam am nächstfolgenden Werktag zu bergen.

Aschendorffer und Kaymal nahmen im Hotelrestaurant ein mehrgängiges Abendessen unter Kronleuchtern ein, bei dem Kaymal vor Erschöpfung mehrfach einzuschlafen drohte. Der Professor klopfte ihm dann mit dem schweren Silberlöffel auf den Handrücken. Ein Schwarm pinguinähnlicher Kellner umsorgte die beiden späten Gäste. Dass man gemeinhin in diesem Ballsaal in festlicherer Garderobe zu speisen pflegte, war dem Erscheinungsbild der übrigen Gäste zu entnehmen. In dieser Hotelkategorie waren die Bediensteten schrullige Typen aller Art gewohnt.

Später führte Aschendorffer sich das kostenpflichtige Porno-Video-Angebot des Hotels zu Gemüte – stets die Stimme Fräulein Monas im Ohr und ihr Bild im Kopf. Er lag noch lange wach und schmiedete Pläne hinsichtlich der gekaperten Gletscherleiche. Er wusste genau, wie er vorgehen wollte: Zuerst würde er die Gewebeproben analysieren, das genaue Alter, Herkunft und spezifische Eigenheiten des Leichnams ermitteln. Vom Zustand insgesamt wollte er dann das weitere Vorgehen abhängig machen. Vielleicht war es ja möglich ...? Nein, er wollte nicht zuviel träumen. Noch nicht.

Hatte er am Abend noch wie der vernichtend geschlagene Hauptmann des osmanischen Sultans gewirkt, so sah man Meslut davon am nächsten Morgen nichts mehr an. Frisch wie ein Animateur stand er dienstbereit auf der Matte und klopfte den Professor aus dem Zimmer. Ohne Frühstück checkten sie aus und verließen das Hotel durch die Tiefgarage. Der Eisblock im Lieferwagen, so versicherte Kaymal, befand sich noch unversehrt im Kühlraum, solide tiefgefroren. Aschendorffer konnte es nicht mehr erwarten, möglichst bald mit dem Leichnam ins Institut zu kommen. Kaymal fuhr trotzdem nicht schneller als erlaubt. In Basel bog er in den innerörtlichen Verkehr Richtung Riehen ab. Aschendorffers fragenden Blick beantwortete er mit der verschwörerischen Auskunft, einen „Schleichewege“ über die Grenze zu kennen. An dem kleinen Grenzübergang zwischen Riehen und Lörrach werde nicht kontrolliert. „Nixe Risiko!“

Kaymal konnte nicht alles wissen, und er hatte nicht immer Recht. Am Grenzübergang trat ihnen ein bundesdeutscher Zollbeamter in den Weg und zwang sie mit einer Kelle zum Anhalten. Sein Kollege saß ein paar Meter weiter im zivil getarnten Einsatzfahrzeug. So ein Pech. Sie waren zufällig in eine Stichprobenkontrolle geraten.

Kaymal bleckte die Zähne und kurbelte die Seitenscheibe herunter. Ganz höflich: „Nixe zu verzolle! Bringe tiefekühle Gemuse!“

„Ihre Papiere bitte!“

Sie streckten ihre Ausweise aus dem Fenster. Kaymal zeigte die meterbreite Front seiner gelben Zähne und hatte erstaunlicherweise auch die Fahrzeugpapiere des Lieferwagens parat. Darunter auch einen zerknitterten, mehrfach gefalteten Frachtgutlieferschein.

Der Zollbeamte nahm alles gründlich unter die Lupe und reichte eines nach dem anderen wieder ins Führerhaus zurück. Beim Frachtgutlieferschein stutzte er. „Das ist auf Türkisch ausgefüllt!“

„Isse korrekt!“, bestätigte Kaymal strahlend.

Unwillig schüttelte der Beamte den Kopf. „Das kann ich leider nicht lesen. Was haben Sie geladen?“

Aschendorffer, der sich vorgebeugt hatte, um besser zu verstehen, geriet ins Schwitzen. War jetzt alles verloren? Wie kam Kaymal dazu, Papiere auf Türkisch auszufüllen? So ein Vollidiot. Das musste ja schief gehen.

Kaymal zog dem Zollbeamten sanft den Lieferschein aus den Händen und übersetzte, was dort stand: „Isse tiefekühle Lebensmittel. 17 Kilogramme von Pizza, 31 Kilogramme von Fische, 24 Kilogramme von Gemuse, 20 Kilogramme süsse Eise, 40 Kilogramme ...“

War der Kerl wahnsinnig? Aschendorffer kniff Kaymal unauffällig in den Oberschenkel. Aber der fuhr ungerührt fort: „ ... 55 Kilogramme halbe Pilic ...“

„Pilic?“, fragte der Zollbeamte.

„Isse Bratehähne“, korrigierte Kaymal.

„Brathähnchen, ah so!“ Der Zollbeamte hatte verstanden. Er hörte sich noch einige weitere Sekunden lang Kaymals Aufzählung an, dann bat er: „Öffnen Sie doch mal den Laderaum!“

Aschendorffer wog seine Flucht- gegen seine Ausredenalternativen ab. Beide waren wenig ermutigend. Kleinlaut stieg er aus. Kaymal und der Grenzwächter standen bereits hinter dem Lieferwagen. Kaymal löste den Sicherungshebel und klappte die Ladetür auf. Das Innere des Kühlwagens war bis unter das Dach mit Bofrost-Waren gefüllt: Fertigpizzen, gestapelte Gemüseportionen, Fleischmenüs, Speiseeis, hartgefrorene Brathähnchen, handlich wie Rugbybälle, alles von einem feinen Frostreif überzogen. Der Grenzbeamte lies kurz den Blick darüber streifen, tippte mit einem Finger eine Fischstäbchenpackung an, zog sie heraus, prüfte sie kurz und legte sie wieder an ihren Platz.

„Alles in Ordnung. Sie können weiterfahren!“

Kaymal grinste und machte einen devoten Bückling. Aschendorffer stand daneben und glotzte ungläubig. Wo war ihr Eisblock? Hatte Kaymal etwa den Lieferwagen verwechselt?

„Nixe vowechsle“, beschwichtigte der seelenruhig, als sie endlich auf deutsches Hoheitsgebiet rollten. „Habbe nur bissele versteckt!“ Er grinste sein Zampanogrinsen und erklärte, dass er am Morgen vor der Abfahrt den Tiefkühllagerraum eines Lebensmittelmarktes in St. Moritz ausgeräumt und den Lieferwagen mit den Waren zugepackt habe.

Aschendorffer klopfte ihm begeistert auf die Schulter. Er wollte nicht genauer nachfragen, was „Ausräumen“ zu bedeuten hatte.