Kobe Bryant

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Teil 1
JELLYBEAN

„Ich hatte immer das Gefühl, dass ihn niemand ernst nahm, dass alle immer dachten, Joe Bryant wäre einfach der Spaßvogel.“

— Paul Westhead

Kapitel 1
DIE FESTNAHME

Philadelphia

5. Mai 1976

Der weiße Sportwagen fuhr langsam, beinahe lautlos, auf die Beamten im Polizeiwagen zu. Diese schienen es auch nicht besonders eilig zu haben und lauschten den Meldungen im Polizeisprechfunk, während sie langsam dahinrollten. Als der Sportwagen an ihnen vorüberfuhr, sahen sie einen großen farbigen Mann über das Lenkrad gebeugt.

Es war Anfang Mai 1976 im Fairmount Park und der Mann im Wagen war Joe Bryant, ein 21jähriger Rookie bei den Philadelphia 76ers. Bekannt als der lebenslustige Jellybean war er eine Art Held in der lokalen Basketballszene. Angeblich ging Joes Spitzname auf seine leichtfüßige Art Basketball zu spielen zurück.

„Ich glaube, die Jungs in Südphiladelphia nannten ihn Jelly“, erinnert sich Howard. „Sie nannten ihn so aufgrund seiner geschmeidigen, beweglichen Art zu spielen. Er bewegte sich ein wenig wie ein Wackelpudding.“

Andererseits naschte Bryant auch gerne diese süßen Geleebohnen. „Das war Sein’s, Jelly Beans“, lacht Howard. „Damals gab es diese Geleebohnen nur zu Ostern. Doch Joe hatte immer welche dabei.“ Später würden dann einige Leute behaupten, dass er diesen Spitznamen bekam, als ihn einige Fans an der Seitenlinie während eines Spiels mit Jelly Beans versorgten.

Aber egal woher der Name kam, er passte zu Bryants Stil. Jellybean war ein umgänglicher Mensch mit einem breiten Zahnlückengrinsen. Ein Gesicht, das man sofort mochte, wenn man es sah.

„Das war schon immer so“, erinnerte sich Mo Howard. „Er hatte immer ein Lächeln im Gesicht, war immer gut drauf und zu einem Späßchen aufgelegt.“ Und sein Herz war ebenso groß wie sein Lächeln. Jahre später erinnerte sich ein ehemaliger Schulkollege an Joe Bryant als jemanden, der einem kleinen jüdischen Jungen zu Hilfe kam, als dieser von ein paar Rabauken bedrängt wurde. Im Nachhinein betrachtet erklärt diese Unbekümmertheit vielleicht auch warum Jellybean Bryant in dieser lauen Nacht Anfang Mai 1976 das Schicksal herausforderte.

Zu Bryants Verteidigung könnte man sagen, dass er einen emotional schwierigen Tag gehabt hatte, der mit dem Begräbnis der Mutter seines engen Freundes Gilbert Saunders begonnen hatte. Für Joe Bryant war sie wie eine zweite Mutter gewesen. Als Kind verbrachte er viel Zeit im Haus der Saunders Familie. Er liebte es bei ihr am Tisch zu sitzen und ihre üppigen Mahlzeiten zu essen. Joes Familie hatte nur sehr wenig Geld und es war meist Frau Saunders, die ihm immer wieder einmal ein paar Schuhe oder eine Jacke zusteckte, wenn er neue Sachen benötigte. Nach besagtem Begräbnis fuhr Bryant an diesem Tag zur Wohnung der Familie Saunders und zog den Gehaltsscheck hervor, den er von den 76ers erhalten hatte, um zu zeigen, wie weit er es gebracht hatte. „Verdammt noch mal“, staunte Mr. Saunders und traute seinen Augen nicht. Bryant hatte einen Rookievertrag über fast eine Million Dollar mit dem Team abgeschlossen – eine beinahe unvorstellbare Summe zu dieser Zeit. Gilbert Saunders – der zu dieser Zeit Basketball für Cheyney State spielte – hatte den Eindruck, dass Bryant den Scheck herzeigte, um der Familie eine Freude zu bereiten. „Er war Teil meiner Familie, er war immer willkommen bei uns. Es war seine Art, meinem Vater zu zeigen: Das ist es, was ich jetzt mache.“

Die Ereignisse und die damit einhergehenden Emotionen dieses Tages helfen vielleicht zu erklären, warum es Jellybean in den mitternächtlichen Fairmount Park verschlagen hatte und er das Schicksal herausforderte. Schließlich war eines der Rücklichter an seinem Wagen ausgefallen und er besaß keinen Führerschein, nur einen längst abgelaufenen Lernführerschein. Er hatte erst im vergangenen Herbst damit begonnen, Fahrunterricht zu nehmen, nachdem er seinen Rookievertrag bei den 76ers unterschrieben und sich zwei nagelneue Datsun 280 Z – einen für seine Frau Pam und einen für sich selbst – gekauft hatte. Bryant war in Südwest Philadelphia aufgewachsen, in einer Gegend, von der er gerne sagte, sie wäre das „Ghetto“, eine eigene kleine Welt, in der sich lokale Gangs an jeder Straßenecke bekriegten. Und da war er nun, der stolze Besitzer eines Datsun Z, einer Straßenrakete, jemand der noch nie zuvor ein Auto besessen hatte. Ausgestattet mit etwa 170 PS bei nur 1.300 kg konnten diese Zweisitzer mit Einspritzmotor jeden der hinter dem Steuer saß gleichzeitig in einen Geschwindigkeitsrausch und in Angst versetzen, speziell jemanden wie Jellybean, der kaum Fahrpraxis besaß.

Dazu kommt, dass Bryant sich in dieser Nacht wohl nicht nur von der Geschwindigkeit berauschen ließ – das lassen zumindest die beiden Ampullen mit Kokain und der stilvolle Dosierlöffel, die bei ihm im Wagen gefunden wurden, vermuten. Was das Ganze noch komplizierter machte, war, dass er zusammen mit Linda Salter, seiner Ex-Freundin und Schwester eines Teamkollegen seiner alten Schule, der John Bartram High, unterwegs war, während seine junge Frau und seine ein Monat alte Tochter in ihrem brandneuen Haus in einem von Philadelphias reicheren Vororten auf ihn warteten. Gleich zu Beginn der Ehe hatte seine Frau Pam das Kommando übernommen. Sie war von beeindruckender Schönheit, hatte aber auch eine recht unbarmherzige Seite. So bemerkten gute Freunde oft, dass, immer wenn eine Entscheidung getroffen werden musste, Bryant beinahe unterwürfig zu seiner Frau hinüberblickte. Selbst Familienmitglieder erzählten schmunzelnd, dass Jelly allein beim Gedanken daran, Pam zu verärgern, in Panik geriet. Und nun war er gerade dabei, sie so richtig zu verärgern und dabei in flagranti erwischt zu werden. Ganz egal in welcher Stimmung Bryant in dieser Nacht war, alles stürzte zusammen wie ein Kartenhaus, als er die blinkenden Polizeilichter, die ihm galten, bemerkte. Man kann verstehen, dass er in diesem Moment eine Reihe an Schwierigkeiten auf sich zukommen sah, nicht zuletzt, da er – ein Farbiger – am Steuer eines teuren Wagens saß und das spätnachts in einer von Bandenkriminalität und heftigen Rassenproblemen gebeutelten Stadt. Einige Monate zuvor war von seiner Vertragsunterzeichnung mit den 76ers als Schlagzeile in der Philadelphia Tribune zu lesen gewesen, gleich neben einem Artikel, der darüber berichtete, dass bereits mehrere Dutzend Afroamerikaner in den Monaten davor von der Polizei angeschossen oder erschossen worden waren. In den drei Jahren zuvor hatte die Polizei von Philadelphia 73 Personen erschossen und 193 weitere verwundet. Zu dieser Zeit war es für Polizeibeamte zur Routine geworden „Warnschüsse“ auf fliehende Verdächtige abzugeben. Während der vorangegangenen zwölf Monate waren fünf Polizeibeamte in Philadelphia ums Leben gekommen, unter anderem einer, der von einem 15-Jährigen vom Dach eines Sozialbaus aus kaltblütig erschossen worden war. Bei der Befragung meinte der Täter lapidar: „Ich wollte einfach einen Cop umlegen.“ Bryant brauchte keinen Zeitungsartikel, um zu wissen, wie es in der Stadt zuging. Kein farbiger Einwohner in der Stadt brauchte das.

Vielleicht war es wirklich nur eine einfache Routinekontrolle wegen eines kaputten Rücklichts, so wie es die Beamten später zu Protokoll gaben, doch der Gesamtkontext mutet doch merkwürdig an. Und es wurde noch merkwürdiger. Das wurde den Beamten spätestens dann bewusst, als sich der gut 2,10 m große Jellybean aus dem Fahrzeug schälte. Bryant versuchte ruhig zu bleiben, als ihm die Polizisten mit ihrer Taschenlampe ins Gesicht leuchteten. Er nannte sofort seinen Namen und entschied sich, dass es wohl das Beste wäre, den Polizisten gleich zu sagen, dass er keinen Führerschein besaß, um sich so eine Durchsuchung seines Wagens zu ersparen. Er gab ihnen seine Zulassung, doch die Beamten waren ob seiner Aussage keinen Führerschein zu besitzen verwirrt. Aus irgendeinem Grund geriet Joe Bryant immer mehr in Panik. Vielleicht war es die Angst vor seiner Frau, wenn sie das alles herausfinden würde, wie einige Leute später behaupteten. Vielleicht war es aber auch nur Angst vor der Polizei.

Was dann passierte, brachte nicht nur die Polizisten zum Staunen, sondern ganz Philadelphia einschließlich der damals noch sehr abgekapselten Szene der National Basketball Association der 1970er. Bryant drehte sich um und stieg in den Wagen. Zu diesem Zeitpunkt dachten die Beamten noch, dass er vielleicht doch seinen Führerschein aus dem Handschuhfach holen würde. Doch stattdessen startete er den Motor, legte den ersten Gang ein und brauste in seinem Z davon, sodass nur mehr der aufgewirbelte Staub und die ungläubigen Gesichter der Polizisten im Scheinwerferlicht zurückblieben.

Es dauerte einen Moment, bevor die Beamten realisierten, was da gerade passiert war und dass Joe Bryant gerade die Flucht ergriffen hatte. Kaum hatten sie sich gefasst, sprangen sie in ihren Wagen und nahmen die Verfolgung auf, während sie eine Fahndungsmeldung über Funk durchgaben. Schnell wurde ihnen bewusst, dass es zu gefährlich wäre, sich eine Verfolgungsjagd mit dem Sportwagen zu liefern. Joe Bryant war davongebraust und fuhr wie ein Verrückter mit gut über 160 Sachen nach Schätzung der Polizisten. Im Nu hatte er den Park verlassen und flog nun im Blindflug die Straßen Philadelphias hinunter. Ohne Licht.

Erst zwölf Minuten später wurde Bryant von einer anderen Streife gesichtet. Der Polizeibeamte Raymond Dunne schrieb in seinem Bericht, dass er gerade in westlicher Richtung auf der Cedar Avenue unterwegs war, als er im Rückspiegel einen sich schnell nähernden Sportwagen ohne Licht entdeckte. Der Fahrer hätte den Polizeiwagen wild angehupt, damit ihn dieser überholen ließ.

 

Was für eine Szene. Da war Jellybean Bryant auf dem Highway Richtung Hölle unterwegs und versuchte sogar noch zu überholen. Im letzten Augenblick scherte er aus und vermied eine Kollision mit dem Polizeifahrzeug. Dunne nahm sofort die Verfolgung auf, musste jedoch aufgeben, als die Geschwindigkeit gefährliche Ausmaße annahm. Später gab Dunne zu Protokoll, dass er Angst gehabt hatte, die Kontrolle über seinen Streifenwagen zu verlieren, wenn er Jellybean weiter verfolgt hätte. Nur wenige Minuten später bretterte Bryant in eine verkehrsreiche Kreuzung an der Baltimore Avenue, die von einem Fahrzeug blockiert wurde. Als Bryant versuchte dem stehenden Fahrzeug auszuweichen, verlor er die letzte Kontrolle, die er noch über seinen Wagen besaß. Zuerst fuhr der Z gegen ein Stoppschild, dann schlitterte er über die Farragut Street und nahm dabei ein Parkverbotsschild mit, bevor er wie ein Pingpongball die Straße hinunter von einer Seite zur anderen gegen parkende Autos prallte und danach wieder zurück auf die Fahrbahn und zu guter Letzt über den Bordstein sprang und gegen eine Mauer knallte.

Das hinterlassene Chaos erinnerte an einen kleinen Tornado. Bryant und seine Ex-Freundin saßen derweilen benommen in seinem komplett zerbeulten Wagen. Das war wohl auch der Zeitpunkt, an dem ihm bewusst wurde, dass er komplett vergessen hatte, das Kokain während seiner Flucht loszuwerden, welches die Polizei bei der darauffolgenden Durchsuchung des Wracks finden würde. Es war auch der Punkt, an dem Bryant seine letzte schlechte Entscheidung in dieser Nacht traf und einfach davonlief.

Dankenswerterweise gaben die Polizisten diesmal nicht den sprichwörtlichen „Warnschuss“ auf den fliehenden Jellybean ab. Abgesehen davon, dass er ein ausgezeichneter Basketballspieler war, war Bryant in der Highschool auch ein Star auf der Laufbahn. Trotzdem schaffte es einer der Beamten, Robert Lombardi, ihn nach ein paar Metern einzuholen. Als er ihn stellte, drehte sich Bryant um, bereit zuzuschlagen. „Er hob seine Faust, doch ich überwältigte ihn und legte ihm Handschellen an”, erinnerte sich Lombardi an den Vorfall. Dabei erlitt Bryant eine Platzwunde am Kopf, die mit sechs Stichen genäht werden musste. Jahrzehnte später erinnerte sich Gene Shue, Bryants damaliger Coach bei den Sixers, dass die Polizisten Bryant nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst hatten. Nun hieß es für Joe Handschellen, Gefängnis und die fürchterliche Angst davor, seiner Frau gegenübertreten zu müssen.

In weniger als einer halben Stunde hatte sich das ganze Glück des jungen Joe Bryant in eine Welt aus Scherben verwandelt. Andererseits hatte es viele andere in Philadelphia gegeben, die für weit geringere Vergehen in der Leichenhalle gelandet waren. In dieser qualvollen Nacht in der Zelle hatte Jellybean eine kleine Offenbarung. Jahre zuvor hatte seine Großmutter prophezeit, dass es irgendwer in der Familie einmal zu großem Ruhm und Reichtum bringen würde. In dieser Nacht im Mai 1976 wurde Bryant zum ersten Mal klar, dass er wohl nicht diese Person aus der Prophezeiung sein würde.

Kapitel 2
VATERSCHAFT

Während seiner gesamten Jugend war Joe Bryants Basketballkarriere auch eine Art strahlendes Vehikel in seinem Leben. Eines, das ihn an Orte brachte, die vielen anderen Farbigen verwehrt blieben. Jellybeans Spiel unterschied sich von dem der anderen. Er hatte einen ganz eigenen Stil, der sich bereits während seiner Kindheit zeigte, in der er viel Zeit bei seiner Großmutter in West Philadelphia, gleich neben einem öffentlichen Basketballcourt verbrachte. Sie ließ ihn jeden Tag draußen spielen, außer sonntags, wo sie ihn schon so früh aus dem Bett warf, damit sie beide Punkt sechs Uhr früh die Wohnung in Richtung der New Bethlehem Baptisten Kirche verlassen konnten, wo sie dann den Rest des Tages verbrachten.

Als er beinahe erwachsen war, zogen Bryant und seine Familie nach Südwest Philadelphia in ein heruntergekommenes Reihenhaus in der Willows Avenue, nicht weit vom Kingsessing Spielplatz, der sein neues Basketballzentrum wurde. Willows war ein hartes Pflaster, so wie viele Straßen in Südwest Philly. Doch sie war gesäumt von Bäumen, unter denen Jellybeans Vater, Big Joe, gelegentlich auf der Veranda saß und die Welt anlächelte. Und meistens lächelte die Welt auch zurück. Big Joe war groß und kräftig gebaut und viele Menschen in Philadelphia respektierten ihn aufgrund seiner Größe, Freundlichkeit und der Liebe zu seinem Sohn.

Dass er ein solches Ansehen in der Gemeinde besaß, war schon etwas Besonderes für einen Mann, der trotz äußerst widriger finanzieller Umstände drei Kinder großgezogen hatte. Noch Jahrzehnte später erinnerten sich Menschen aus den verschiedensten sozialen Schichten an Big Joe, oder Papa Bryant, wie ihn die Kinder aus der Umgebung nannten. Seinem Sohn beim Spielen zuzusehen, schien das Geheimnis hinter Big Joes Frohnatur zu sein. Er hatte große, kräftige Hände und ein rundes freundliches Gesicht, das fast immer lächelte. Doch seine Vorstellung von Disziplin war dann schon mehr von alttestamentarischer Natur. Einmal erzählte er Julius Thompson, einem Sportjournalisten aus Philadelphia, dass er seinen jugendlichen Sohn oft davor gewarnt hätte, „Tageslicht mit heimzubringen“, wenn dieser abends ausging. Anders gesagt, er sollte nicht zu lange ausbleiben und vor dem Morgengrauen heimkommen. Big Joe war eine imposante Erscheinung und fest entschlossen auf seinen Sohn aufzupassen. „Papa Bryant war immer dort, wo Joe war“, erinnert sich Vontez Simpson, ein Freund der Familie.

Als Big Joe älter wurde und sein Gewicht und Diabetes ihm gesundheitlich zu schaffen machten, nahm er sich einen Stock zum Gehen. Und selbst in dieser Zeit erfüllte ihn das Spiel seines Sohnes und danach das seines Enkels Kobe mit Energie. Wie gerne er die beiden spielen sah, war daran zu erkennen, dass er noch Jahre später, als sein Leben fast vollkommen von seiner Diabeteskrankheit bestimmt wurde, mit seinem Sauerstofftank im Schlepptau die Spiele seines Enkels besuchte.

Aus Georgia

Jellybeans Vater hätte wahrscheinlich viele traurige Geschichten erzählen können, doch er verschwendete selten Zeit damit, über die Vergangenheit zu sprechen. Er kam als Teil der großen Migrationswelle von Afroamerikanern, die aus dem Süden der USA in den Norden zogen, genauer gesagt aus dem sogenannten „Black Belt“1 im Bundesstaat Georgia, der sich entlang des Highway 41 durch den ganzen Bundesstaat zog.

Philadelphia war ein beliebtes Ziel. Vor allem Südwest Philly das aus ehemaligen Farmen, Landhäusern und botanischen Gärten im 19. Jahrhundert entstanden war, wurde zum Anziehungspunkt – erst für Migranten aus Europa, dann für Afroamerikaner, die Arbeit suchten. Um 1900 bestand die Bevölkerung der Stadt der brüderlichen Liebe, wie Philadelphia auch genannt wird, weitgehend aus Kaukasiern, doch das begann sich in den 1920ern, 30ern und 40ern rasch zu ändern, als Millionen von Schwarzen Richtung Norden zogen. Tagtäglich kamen Afroamerikaner in Zügen aus dem Süden in die Stadt, erzählt Julius Thompson, einer der ersten farbigen Sportjournalisten, die bei einer der großen Tageszeitungen an der Ostküste anheuerten. Nachdem es mit der Landwirtschaft in den 1930ern bergab gegangen war, packten viele Afroamerikaner ihr bisschen Hab und Gut zusammen und machten sich auf den Weg in die Städte des Nordens, um Arbeit zu finden und ein neues Leben zu beginnen. Diese Abwanderung wurde vor allem durch den Preisverfall landwirtschaftlicher Güter während der Depression begünstigt, die dem System des Pächterwesens ein jähes Ende setzte. Die Landwirtschaft war oft die einzige Möglichkeit für Afroamerikaner ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, in einem Land, in dem ihnen der Zugang zu Bildung lange verwehrt geblieben war.

Dazu kam die jahrzehntelange Gewalt weißer Lynchmobs gegenüber Farbigen, die die Migration beschleunigte. Brutale Vorfälle, die oft detailreich von den Tageszeitungen im Süden der USA beschrieben wurden. Mit dem Versprechen auf Arbeit während der Kriegsjahre in den Docks von Philadelphia und anderen Städten an der Ostküste in den 1940ern wurde die Verlockung in den Norden zu ziehen noch größer. Nach dem Krieg, als sich die Wirtschaft wieder komplett erholt hatte, wuchs die Zahl der Jobs sogar noch weiter.

In Georgia hatte Big Joe Bryant zusammen mit seinem Vater – der erste in einer Reihe von drei Joe Bryants – in der Landwirtschaft gearbeitet. Sechzig Stunden in der Woche für ein paar Cents am Tag. Alte Zensusaufzeichnungen belegen, dass Big Joes Großvater in den 1840ern in die Sklaverei geboren worden war und, so wie sein Sohn nach ihm, sein Leben auf den brutalen, gnadenlosen Feldern des Südens verbrachte. So wie viele andere war Big Joe Bryant ein Migrant, als er als junger Mann in Philadelphia ankam. Nachdem Big Joe den Umstieg vom Land- zum Stadtleben gewagt hatte, gründete er eine Familie. Zusammen mit seiner Frau hatte er drei Kinder, die er verehrte – vor allem seinen Ältesten, der seinen Namen trug.

Jellybean war schrecklich mager, doch aufgrund seiner Größe ließen ihn die älteren Jugendlichen, die die meisten Plätze für sich beanspruchten, bei ihnen mitspielen. Dafür war er immer dankbar. Wegen seiner schwächeren Statur lernte er an der Drei-PunkteLinie zu spielen. Diese Stunden mit den älteren Burschen auf den öffentlichen Basketballplätzen gaben ihm eine Identität. Er begann sich als Basketballer zu fühlen. Jahre später würde es seinem Sohn Kobe ähnlich ergehen. Ein Geschenk, welches die beiden miteinander teilten – ihre Liebe zum Basketball schon in frühester Jugend zu erkennen. „Er liebte das Spiel. Er spielte, damit er dieses Gefühl spüren konnte“, sagt Julius Thompson über Jellybean, obwohl er dasselbe über Kobe hätte sagen können.

Eines von Jellybeans frühen Idolen war Earl „the Pearl“ Monroe, der in den Sechzigern an der John Bartram High gespielt hatte. Monroe hatte seine eigene Art der Ballbehandlung und spielte unglaublich, als er Bartram 1963 zum Titel in der Philly Public League führte, vor den staunenden Augen des damals neun Jahre alten Joe Bryant. Es dauerte nicht lange, bis Earl Monroe auf die Winston-Salem State ging und danach bei den alten Baltimore Bullets und schließlich den New York Knicks landete. Für den jungen Joe Bryant und viele andere in den Generationen danach war Monroe ein leuchtender Stern am Basketballhimmel. So wie die Stars der 76ers aus der Saison 1966/67, als sie den NBA-Titel gewannen und Joe Bryant gerade einmal zwölf war – Spieler wie Wali Jones, Chet Walker, Hal Greer, Luke Jackson und Wilt „the Stilt“ Chamberlain. Kurz danach wurde Joe ein Fan von Kenny Durrett, dem Star an der La Salle University.

Joe war fasziniert von Durretts auffälligem Spielstil und verbrachte Stunden damit, den Ball zwischen seinen Beinen und hinter seinem Rücken hin und her zu dribbeln und blinde Pässe zu spielen. Alles Dinge, die kein großgewachsener Spieler damals auch nur ansatzweise ausprobiert hätte. Schon bald erkannten die Leute, dass es nichts gab, was JB – wie man ihn an der Shaw Junior High und dann später an der Bartram nannte – nicht mit einem Basketball tun konnte. Er hatte bereits ein natürliches Flair, ein spezielles Gefühl für die Showelemente dieses Sports, die nur wenige beherrschten – eine Mixtur aus Earl the Pearl, Bob Cousy, den Harlem Globetrotters und „Pistol“ Pete Maravich. Wo auch immer JB spielte, wurde er bestaunt. So große Typen wie er hatten normalerweise nicht diese Ballbehandlung.