Harzkinder

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6. Kapitel

Nur zwei Tage hatte Stefan Blume benötigt, um Katja Ortlepp aufzuspüren. „Jenny“ nannte sie sich jetzt, und sie war Mitinhaberin eines Western-Saloons. Als er das herausgefunden hatte, war er unvermittelt in herzhaftes Lachen ausgebrochen. Katja und ihre Vorliebe für Cowboys und Indianer. Geradezu vernarrt war sie in alles gewesen, was mit dem Wilden Westen zusammenhing. Damals, als sie noch über das Berufliche hinaus miteinander verbunden waren. Daran hatte sich seit jener Zeit offensichtlich nichts geändert.

In Neustadt am Südharzrand hatte sich Katja also verkrochen, im nördlichsten Zipfel Thüringens. Blume fragte sich, was sie ausgerechnet hierher verschlagen hatte, fernab jeglichen urbanen Lebens. Andererseits, Wilder Westen und Harz-Einöde, das passte schon.

Knapp drei Kilometer Reststrecke zeigte sein Navigationsgerät an, als er am frühen Abend die Ortsmitte von Neustadt passierte. Wenig später befand er sich auf einer befestigten Forststraße, die nach Osten direkt in das Mittelgebirge hineinführte. Er fürchtete bereits, sein Navi habe ihn in die Irre geleitet, in eine menschenleere Wildnis, als links, an einer abzweigenden Stichstraße ein lang gestrecktes Blockhaus auftauchte, das im Licht mehrerer Außenscheinwerfer hell erstrahlte. Das beleuchtete Hinweisschild vorn an der Straße, aus einer robusten Holzplanke gefertigt und zwischen zwei knorrigen Baumstämmen aufgehängt, zeigte ihm, dass er sein Ziel erreicht hatte. „Ponytail Saloon“ stand schwarz auf der Planke eingebrannt und etwas kleiner darunter „Restaurant, Bar, Dance-Hall“.

Blume bog von der Straße ab und fuhr auf die weitläufige, zum großen Teil geschotterte Stellfläche, die sich rund um das Blockhaus zog. Eine Handvoll Autos parkte nebeneinander aufgereiht in der Nähe des Eingangs. Er steuerte seinen Wagen ans Ende der Reihe, hielt an und stieg aus. Einen Moment blieb er neben der Fahrertür stehen, sog tief die würzige Waldluft ein, die vom leichten Abendwind herübergeweht wurde, ehe er sich eine Zigarette ansteckte. Er machte einen Zug, stieß den Qualm aus. Dann ging er ein Stück vom Auto weg, blickte dabei nachdenklich über den nahezu verwaisten Parkplatz. Alles, sowohl der Platz als auch das Blockhaus, wirkten auf ihn völlig überdimensioniert. Wie sollten sich denn so viele Besucher auf einen Schlag hierher verirren? In diese Einöde? Das konnte er sich nicht vorstellen. Beim besten Willen nicht! Andererseits machte der Saloon keinen heruntergekommenen Eindruck, sah nicht so aus, als stünde er kurz vor der Schließung. Gut, das Geld, um solch ein Lokal zu führen und instand zu halten, konnte von sonst woher stammen, musste nicht unbedingt erwirtschaftet worden sein. Vielleicht hatte Katja zahlungskräftige Western-Fans im Rücken, die sich den Fortbestand dieses Saloons etwas kosten ließen.

Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, dann warf er die Kippe zu Boden, trat sie mit der Schuhspitze aus. Mit schnellen Schritten steuerte er auf den Eingang zu, öffnete die Tür und trat ein.

Das rustikale, naturbelassen wirkende Ambiente, das die Außenansicht des Saloons prägte, setzte sich im Inneren mit der Einrichtung fort. Glänzende, dunkel gemaserte Holzdielen bildeten den Fußboden, die

Deckenbretter waren rauchgeschwärzt und rau. Mehrere nahezu unbearbeitete Baumstämme, vermutlich Eiche, dienten als Stützpfeiler und markierten darüber hinaus die einzelnen Bereiche in dem weitläufigen Raum. Bleiche Totenschädel von Rindern und indianische Masken zierten die Pfeiler. An den Wänden zogen sich mit Fellen bedeckte Bänke entlang, darüber hingen unzählige gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografien aus

den goldenen Zeiten des Wilden Westens, aber auch solche neueren Datums und in Farbe. Auf ihnen posierten Freizeit-Cowboys in Wildwest-Kostümen, saßen auf ihren Pferden oder präsentierten stehend ihre Waffen – Colts, Vorderlader, Winchester-Gewehre. Andere mimten Indianer, entsprechend gekleidet und ausstaffiert, mit Pfeil und Bogen oder Tomahawk in der Hand. Die Bar wiederum entsprach bis ins letzte Detail dem Bild, das man aus unzähligen Westernfilmen kannte – der lange Tresen mit den Barhockern davor und den beiden authentischen Zapfanlagen. Dahinter eine reich verzierte Regalwand, in der sich unzählige Flaschen unterschiedlicher Whiskysorten und andere harte Getränke aneinanderreihten. Über allem prangte der Schriftzug „Ponytail Saloon“ und daneben eine riesige Südstaatenflagge.

Blume blieb an der Tür stehen, ließ den Raum und seine Menschen auf sich wirken. An den Tischen saßen verstreut einige Gäste, denen vermutlich die draußen geparkten Autos gehörten. Zwei weibliche Bedienungen, stilecht gekleidet mit Stetson, Jeans, Karohemd und Cowboystiefeln, huschten zwischen den Gästen herum, eine andere kam durch eine Schwingtür, balancierte mehrere Teller mit Essen zu einem der Tische. In den Nacken der Bedienungen wippten Pferdeschwänze. Einen Pferdeschwanz trug auch die Frau hinter dem Tresen, die mit einem mürrisch wirkenden Barkeeper sprach und ihm, Blume, in diesem Moment einen flüchtigen Blick zuwarf. Etwas in ihm verkrampfte sich. Katja! Sie war es tatsächlich. Trotz der albernen Pferdeschwanzfrisur und ihrer weit über zwei Jahrzehnte zurückliegenden letzten Begegnung hatte er sie sofort wiedererkannt.

In Blumes Rücken öffnete sich die Tür und eine Gruppe Männer und Frauen drängte herein. Einer der Männer, wie die anderen vollständig in ein Cowboy-Kostüm gekleidet, rempelte ihn an. Unabsichtlich, das zeigte er durch eine entschuldigende Geste. Blume stolperte ein, zwei Schritte in den Raum hinein, fing sich und sah der Gruppe nach, die laut plappernd an ihm vorbeizog und sich im hinteren Bereich des Saloons verdrückte. Er grunzte einen leisen Fluch, streckte sich und ging zur Bar hinüber. Dort setzte er sich auf einen der Hocker.

Katja bemerkte ihn, kam zu ihm herüber. „’n Abend, Cowboy“, sagte sie lässig, „was darf’s sein? Whisky? Gin?“

„Ein Bier wäre mir lieber“, entgegnete Blume.

„Wet Bread?“

Blume runzelte fragend die Stirn.

„Unsere Spezialität“, erklärte sie. „Findest du in jedem Saloon diesseits und jenseits des Atlantiks. Oder Big Moose. Harzer Spezialität. Auch nicht schlecht. Ansonsten kann ich dir unser Schwarzbier empfehlen. Oder unser Weizen.“

„Haben Sie auch ein ganz normales Pils?“

Sie stutzte, wirkte für eine Sekunde, als habe er ihr ein unmoralisches Angebot gemacht. „Pils ... äh ... ja, natürlich.“ Sie wandte sich dem Barkeeper zu. „Sam, mach mal ein Altenauer Pils klar!“, rief sie, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihn. „Du bist das erste Mal hier, oder? Hab dich noch nie gesehen.“

Blume fragte sich, ob sie jeden neuen Gast auf diese misstrauische Art taxierte oder ob es an seinem scheinbar exotischen Getränkewunsch lag. Oder war ihr vielleicht etwas an ihm aufgefallen, das irgendwo in ihr eine Erinnerung weckte?

„Stimmt. War noch nie zuvor in der Gegend.“

„Und was hat dich hierher verschlagen?“

Er lächelte sein maskenhaftes Lächeln. „Der Beruf.“

„Lass mich raten. Du bist in der Tourismusbranche tätig. Suchst interessante neue Highlights, richtig?“ Sie zwinkerte ihm neckisch zu. „Na ja, mein Saloon läuft zwar wie geschmiert, kann nicht klagen. Ist aber trotzdem immer noch ein Geheimtipp. Ein bisschen zusätzliche Werbung wäre nicht schlecht.“

„Da liegen Sie leider komplett falsch“, erwiderte Blume, „mit Tourismus habe ich nichts am Hut ... also Ihnen gehört der Laden? Donnerwetter!“

Sie nickte stolz. „Kannst ruhig Jenny zu mir sagen. Wir duzen uns alle hier. Personal, Gäste, meine Musiker, eben alle. Wie eine große Familie. Wie heißt du eigentlich?“

„Mich nennen die Leute Stefan“, raunte er ihr zu. „Aber eigentlich heiße ich Matthias. Erinnerst du dich nicht ... Katja?“

Sie zuckte zusammen. Wich einen Schritt vom Tresen zurück. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich. „Was soll das?“, schnappte sie. „Willst du mich verarschen, Mann?“

Blume beugte sich vor. „Hör zu, Katja, ich will niemanden verarschen“, raunte er, in der Hoffnung, keinen unliebsamen Zuhörer zu haben. „Ich bin’s, Matthias Wagenfeld. Ich habe nach dir gesucht.“

Katja wandte sich dem Barkeeper zu. „Sam!“ Sie schnippte mit den Fingern, ließ sich von dem Mann am Zapfhahn das Bier herüberreichen, knallte es vor Blume auf den Tresen. „Ihr Pils! Macht zweifuffzig. Trinken Sie aus und dann verschwinden Sie.“

„Katja, bitte“, flehte Blume leise, „ich bin es wirklich.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Ich kenne keinen Matthias Wagenfeld.“

„Natürlich kennst du mich. Komm, jetzt tu doch nicht so!“

Sie hielt ihm drohend den Finger unter die Nase. „Wer immer Sie auch sein mögen. Matthias Wagenfeld sind Sie jedenfalls nicht! Der Matthias Wagenfeld, den ich kannte, ist tot. Schon sehr lange.“ Dann öffnete sie die Hand. „Und jetzt zahlen Sie endlich und hauen ab!“

Blitzartig griff er nach ihrem Handgelenk, umklammerte es. „Katja, hör mir doch erst mal zu, verdammt!“

Sie versuchte, sich aus seinem eisernen Griff zu befreien. Es gelang ihr nicht. „Sam!“, rief sie und sah zu ihrem Barkeeper hinüber. Der erkannte die Situation sofort und kam hinter seinem Tresen hervor. Sekunden später stand er in Blumes Rücken, legte ihm den Arm um den Hals und drückte zu.

„Ribanna ...“, keuchte Blume, ehe er Katja losließ und sich vom Hocker zerren ließ.

„Warte!“

Für einen kurzen Augenblick glich die Szene einem Standbild. Dann bedeutete Katja ihrem Barkeeper mit einer Handbewegung, Blume freizugeben. Der Mann grunzte unwirsch und ließ von seinem Opfer ab.

„Was hast du eben gesagt?“

Blume rieb sich den Hals, hustete und trat wieder an den Tresen. „Katja Ortlepp alias IM Ribanna, erinnerst du dich?“, flüsterte er Katja ins Ohr.

 

„Das können Sie überall herhaben.“ Plötzlich begannen ihre Augenlider zu flackern. „Die Akten konnte ja jeder einsehen.“ Von ihrem forschen Auftreten war nichts mehr zu spüren. Nervosität dominierte ihre Mimik. Und Angst. Blume kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu genau.

„Nicht alle“, entgegnete er. „Vieles ist im Reißwolf gelandet. Bevor es jemand zu sehen bekam.“

„Was genau wollen Sie von mir? Erpressung? Das können Sie vergessen!“ Sie bemühte sich, ihre alte Selbstsicherheit zurückzugewinnen.

Blume schüttelte den Kopf. „Mein Gott, du erkennst mich ja tatsächlich nicht“, murmelte er. „Vor dir steht Matthias Wagenfeld. Wirklich ... Na gut, dann noch ein Beweis.“

„Ach ja?“ Sie schwankte zwischen Ablehnung und Neugier. „Was für ein Beweis sollte das sein?“

Blume verzog seine Mundwinkel. „Och-Och ... Erinnerst du dich? Immer, kurz bevor du ...“

„Schon gut, verdammt!“, fuhr sie ihm giftig ins Wort.

Er ließ sich nicht beirren. „Ich habe dich danach immer damit aufgezogen, weil es sich anhörte wie der Schlachtruf dieser Kinder vom Indianer-Club. Die Serie hat uns bis ins Bett verfolgt. Eine Kindersendung vom Klassenfeind! So was hast du dir angesehen! War dir völlig egal, hatte ja schließlich was mit Wildwest zu tun. Kapiert habe ich das nie. Na ja, lustig war’s trotzdem.“

Katja blickte ihn schweigend an. Musterte ihn, schien jeden Millimeter seines Gesichtes abzuscannen. Zweifel, Erschrecken, aber auch ein schwacher Funken Freude schimmerten in ihren Augen.

„Nur lustig?“, fragte sie plötzlich leise.

Er schüttelte langsam den Kopf. „Nein“, sagte er. „Vor allen Dingen schön.“

„Warum bist du dann einfach so verschwunden?“, brauste sie plötzlich auf, nahm sich aber sofort wieder zurück. „Ohne ein Abschiedswort? Auf Nimmerwiedersehen abgetaucht?“ Sie presste die Worte in unterdrückter Wut hervor. „Kannst du dir vorstellen, wie mir zumute war, als ich hörte, dass du tot bist? Und jetzt tauchst du einfach hier wieder auf, du Arschloch! Keine Ankündigung, nichts. Lässt mich unvorbereitet in die Falle tappen.“

„Tut mir leid, das wollte ich nicht.“ Blume starrte auf sein Bierglas. „Aber ich dachte, wenn ich mich anmelde, wimmelst du mich ab und ich habe keine Chance.“

„Dachtest du!“ Sie stemmte sich mit beiden Händen an der Tresenkante ab, blitzte ihn herausfordernd an. „Vermutlich hast du recht. Wie siehst du überhaupt aus? Ich hätte dich nie im Leben wiedererkannt.“

„Doch, hättest du. Du kennst mich besser als jeder andere. Hättest nur genauer hinhören und hinsehen müssen.“

„Was ist mit dir passiert?“

Blume blickte sich um. Der Barkeeper hantierte wieder am Zapfhahn herum. Scheinbar desinteressiert, spitzte er dennoch die Ohren, war bemüht, etwas von dem Gespräch zwischen seiner Chefin und dem merkwürdigen Mann mitzubekommen. Der Saloon hatte sich in den vergangenen Minuten weiter mit neuen Gästen gefüllt. Die Geräuschkulisse war merklich angeschwollen. Irgendjemand hatte sich an das alte Honkytonk-Piano hinten in der Ecke gesetzt und klimperte darauf herum.

„Können wir das irgendwo an einem ruhigeren Ort besprechen?“, fragte Blume. „Wo es leiser ist und nicht so viele Ohren mithören.“

Katjas gedehntes „Okay“ war mehr Frage als Zustimmung, begleitet von einem argwöhnischen Blick. Nach kurzem Zögern redete sie weiter. „Wir schließen um Mitternacht. Vielleicht komme ich früher weg. Du kannst unterdessen bei mir zu Hause warten, wenn du willst. Ich wohne ein Stück die Straße rauf, in der Feriensiedlung.“ Sie nannte ihm die Hausnummer und zog einen Schlüssel vom Schlüsselbund. Den drückte sie ihm in die Hand. „Willst du vorher hier noch was essen?“

„Nein, ich bin satt. Habe mir vor Kurzem erst an einem Schnellimbiss den Bauch vollgeschlagen.“

Sie grinste. „Fastfood – du schreckst wohl vor nichts zurück.“ Dann zuckte sie mit den Schultern. „Na egal. Bis später also. Mach es dir so lange bequem bei mir.“

„Danke.“

„Wieso bist du eigentlich hier?“, fragte sie schnell, ehe er sich abwenden konnte. „Du musst doch einen besonderen Grund haben, wenn du nach so vielen Jahren ...“

Er nickte. „Stimmt. Ich brauche deine Hilfe, Katja. Und du bist der einzige Mensch, dem ich vertraue.“

7. Kapitel

Warum meldete er sich nur nicht? Konnte es wirklich so schwer sein, einen Menschen aufzuspüren? Für einen Privatdetektiv sollte es doch kein Problem sein, den Wohnsitz eines Menschen herauszubekommen. Oder zumindest eine Spur von ihm zu finden! Wenn es schon einen ersten kleinen Ermittlungserfolg gab, hätte er es ihr doch sagen können! So eine Information hätte ihr für den Anfang schon ausgereicht – ein wenig Hoffnung nach all den Jahren voller Niederlagen und Misserfolge. Aber dieser Blume rührte sich einfach nicht. Nach vier Tagen immer noch kein Lebenszeichen von ihm. Und sie durfte ihn nicht anrufen. Die Nummer, die er ihr gegeben hatte, war nur für den äußersten Notfall gedacht. Er hatte es ihr erklärt, trotzdem war ihr seine Vorsicht völlig übertrieben vorgekommen.

Unruhig lief Hanka durch ihre Wohnung, schon den ganzen Nachmittag. In immer kürzeren Abständen

warf sie einen Blick auf die Displays von Smartphone und Haustelefon. Als könne sie seinen Anruf herbeizwingen. Und es gab nichts, womit sie es schaffte, sich abzulenken. Seit sie den Detektiv angeheuert hatte, geriet ihr Leben aus den Fugen. Nein, nicht erst seitdem. Es hatte schon im Supermarkt angefangen. Als sie Sascha gesehen

hatte.

Herrgott noch mal, es musste sich doch endlich etwas tun! Oder war sie einem Betrüger aufgesessen, waren die fünfhundert Euro Vorschuss verloren? Ihr war die ganze Sache ohnehin ziemlich suspekt gewesen. Dieses schäbige Stadtviertel, der heruntergekommene Laden mit dem ganzen Elektroschrott, die düstere Werkstatt hinter dem Vorhang, der kleine Tisch, an dem sie gesessen und ihm ihre Geschichte erzählt hatte. Was hatte das mit dem Büro einer seriösen Detektei zu tun gehabt? Wäre ihre Tochter nicht gewesen, sie wäre nicht noch einmal dorthin zurückgekehrt. Wenigstens hätte sie dann noch ihr Geld gehabt. Es war eine unsinnige Idee gewesen, einen Detektiv einzuspannen. Schon damals, als Kerstin das erste Mal diesen Blume ins Gespräch gebracht hatte. Was sollte so einer mehr ausrichten als all die Menschen bei der Polizei, dem Roten Kreuz, Politiker mit Einfluss und weiß der Kuckuck, wem sie noch alles bei ihrer Suche nach Sascha auf die Nerven gegangen war.

Hätte sie wenigstens darauf bestanden, diesen Blume zu jeder Zeit von sich aus kontaktieren zu können. Aber dann wäre ihr Deal nicht zustande gekommen. Er allein bestimmte die Regeln und wäre nicht bereit gewesen, davon abzurücken. Also hatte sie seine Bedingungen akzeptiert. Wie dumm von ihr!

„Kannst du dich nicht mal hinsetzen? Du machst mich noch ganz verrückt mit deinem ewigen Rumgerenne!“

Hanka hatte nicht gemerkt, dass ihr Mann in die Küche gekommen war. Plötzlich stand er hinter ihr.

„Ich ... ich dachte, du siehst fern“, stammelte sie erschrocken.

„Ich hocke nicht den ganzen Tag vor der Glotze. Aber das scheint dir gar nicht mehr aufzufallen. Seit du diese Erscheinung hattest, bist du wie weggetreten, behandelst mich, als wäre ich Luft. Du merkst gar nicht mehr, was um dich herum passiert. Machst alles nur noch wie in Trance.“

„Ich hatte keine Erscheinung“, wehrte sie sich. „Der Mann war real. Und es war Sascha!“

„Komm mal her.“ Rudolf legte seine Arme um sie

und drückte sie an sich. Sie spürte seine Wärme, seinen ruhigen Atem. Wie lange hatte er das nicht mehr getan – sie umarmt? Wie sehr hatte sie sich manchmal danach gesehnt. Wenn er so war wie jetzt, nicht abweisend oder aggressiv, sondern zugänglich und liebevoll, weil er

keine Schmerzen verspürte, dann fühlte sie sich geborgen und verstanden. „Ich weiß ja, wie sehr dich der Verlust deines Sohnes schmerzt. Ich weiß, was du mitgemacht hast. Aber versteh doch, du darfst dich nicht wieder an eine Illusion klammern. Das macht dich fertig ... und mich auch. Du warst auf so einem guten Weg, hast nicht mehr an ihn gedacht und endlich wieder angefangen, das Leben zu genießen. Willst du das alles aufs Spiel setzen?“

Wie sehr Rudolf sich doch täuschte, dachte Hanka. Natürlich hatte sie an Sascha gedacht! Jeden Tag, den Gott werden ließ. Und nie würde sie aufhören, an ihren Sohn zu denken. Aber darin wollte sie ihrem Mann nicht widersprechen. Nicht jetzt. Ihn bloß nicht vor den Kopf stoßen. Seine Nähe noch ein wenig genießen. Nur einen kleinen Moment. Seine Umarmung tat so gut. So standen sie da, schweigend, während im Hintergrund die Küchenuhr leise tickte.

„Ich habe einen Detektiv engagiert“, sagte Hanka plötzlich. Sie wollte es ihm nicht verraten. Es war ihr einfach rausgerutscht. Vielleicht, weil mit Rudis tröstender Umarmung auch ihr Vertrauen zu ihm zurückgekehrt war.

„Du hast was?“ Er löste sich von ihr, schob sie ein Stück von sich weg.

„Der Detektiv, von dem Kerstin mal vor langer Zeit gesprochen hat. Ich hab mir von ihr seine Adresse geben lassen und bin zu ihm gefahren. Nach Hannover.“

„Warum hast du mir das nicht gesagt?“ Rudolfs Blick verdüsterte sich, seine Stimme bekam einen bedrohlichen Unterton. Auf einen Schlag war die innige Atmosphäre wieder zerstört. „Warum machst du so was hinter meinem Rücken, redest nicht mit mir?“

„Du hattest Schmerzen und warst ungenießbar“, entgegnete sie.

„Ach! Heißt das, ich bin schuld daran, dass du dich nicht mit mir absprichst und Entscheidungen fällst, die auch mich betreffen?“

„Ich wollte dich nicht damit belasten. Du hattest mit deinem Rheuma zu tun.“

„Hör doch auf! Das ist Quatsch und du weißt es“, empörte sich Rudolf. „Außerdem kostet so ein Detektiv bestimmt ’ne ganze Stange. Da hättest du mich unbedingt fragen müssen, ehe du unser Geld für deine verrückten Ideen verpulverst!“

„Mit dem Geld hast du gar nichts zu tun“, giftete

Hanka zurück. „Es ist mein Erspartes. Das habe ich mir über Jahre zurückgelegt. Damit kann ich machen, was ich will.“

Rudolf riss die Augen auf, starrte sie entgeistert an. Ein, zwei Sekunden hing bleierne Stille wie ein drohendes Schwert über ihnen. „So ist das also“, sagte er plötzlich mit hohler Stimme. Er sackte leicht in sich zusammen. „Und ich habe immer gedacht, wir können einander vertrauen, uns alles sagen. Und dann bunkerst du heimlich irgendwo Geld. Glaubst du, ich hätte dir dein Erspartes weggenommen, dass du es mir verheimlichen musstest? Denkst du, ich bin so ein schlechter Mensch? Schade ... wirklich schade.“

Er drehte sich um, schlurfte gebeugt zur Küchentür. Jede Faser seines Körpers zeigte seine Enttäuschung.

„Rudi, warte! Geh nicht weg!“ Sie machte zwei schnelle Schritte hinter ihm her, hielt ihn am Arm fest, zog ihn zu sich herum. „Entschuldige bitte“, bettelte sie. „Es tut mir leid.“ Sein Blick aus unendlich traurigen Augen tat ihr weh. „Natürlich vertraue ich dir. Aber Sascha ... er ist mein Sohn!“

Rudolf seufzte. „Ich weiß“, sagte er. „Und ich habe dir auch immer zur Seite gestanden. Sogar gegen Kerstin und besonders gegen ihren Mann, als der alles daran gesetzt hat, dir eine Psychose anzudichten und dir deine Enkelin vorzuenthalten.“ Er holte tief Luft. „Aber irgendwann musste es doch mal gut sein. Mir ist es auch zu viel geworden. Ich hatte keine Kraft mehr.“

Hanka nickte. Sie wusste nur zu genau, was sie ihrer Familie und besonders Rudolf zugemutet hatte. „Du hast ja recht“, sagte sie.

„Ich war so froh, als du dann allmählich Ruhe gegeben hast. Ich habe gedacht, du würdest endlich akzeptieren, dass dein Sohn ... dass Sascha nicht mehr lebt und wir endlich nach vorn blicken können. Auf uns. Und dann kommst du plötzlich und behauptest, Sascha sei dir über den Weg gelaufen. Wie willst du ihn denn erkannt haben? Wen immer du gesehen hast, er war es bestimmt nicht! Du ... du bist doch ... ach!“ Er schluckte das Wort, das ihm auf der Zunge lag, herunter, machte eine wegwerfende Handbewegung.

Hanka wusste auch so, was er sagen wollte. Er hielt sie für verrückt. Wie alle anderen auch. Sie hatte sich längst damit abgefunden.

„Und doch war er es“, erwiderte sie trotzig. „Dieses Mal ganz sicher. Eine Mutter spürt das.“

„Das heißt, du lässt dich nicht umstimmen. Du lässt dich nicht davon abbringen, diesen Mann zu finden.“ Es war mehr eine resignierte Feststellung als eine Frage.

„Nein, davon bringt mich niemand ab.“ Entschlossen schüttelte sie den Kopf.

Rudolf holte tief Luft. „Na schön“, sagte er nickend. Über sein Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln. „Dann ist es wohl das Beste, ich unterstütze dich – soweit ich kann.“

 

Hanka blickte ihn zweifelnd an. Sie wusste nicht, was sie von seinem plötzlichen Sinneswandel halten sollte. „Wirklich?“

„Herrgott, ja! Was bleibt mir denn übrig? Ich lasse dich nicht im Stich. Vielleicht können wir deinem Detektiv

ein bisschen helfen und deine alte Facebook-Seite ‚Sascha lebt‘ wieder aktivieren.“

„Ja klar!“, stimmte Hanka ihm zu. „Ich könnte alle Hinweise, die ich dem Detektiv gegeben habe, auch auf der Seite posten.“

„Schade, dass wir kein Bild von dem Mann haben. Man müsste ein Phantombild erstellen lassen. Aber zur Polizei gehst du mit der Sache lieber nicht mehr.“

Hanka ging durch die Küche. Ihr war plötzlich ein Gedanke gekommen, der sie einen Moment beschäftigte.

„Ich glaube, ich habe eine bessere Idee“, sagte sie dann.

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