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Z serii: Edition IGW #4
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Die Propheten

Eine der Hauptaufgaben der Propheten bestand in der Durchsetzung des Bundes, den Jahwe am Sinai mit seinem Volk eingegangen war. Sie riefen Israel zur Treue gegenüber dem im Gesetz verbrieften Gotteswillen auf. Es ist nicht erstaunlich, dass die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit ein wichtiges Thema der Botschaft der Propheten war. Israel sollte nie vergessen, dass es einem gerechten Gott diente, der sich der menschlichen Not annimmt und gegen Ungerechtigkeit einschreitet. Als Israel in der Zeit zwischen der salomonischen Herrschaft und dem babylonischen Exil selbst zum Unterdrücker wurde, fiel es unter Gottes Gericht, wie einst die Ägypter unter Gottes Gericht gefallen waren. Im Namen Jahwes traten die jüdischen Propheten auf und sagten das Gericht über die Ungerechtigkeit an:

So spricht der Herr: Wegen der drei Verbrechen, die Israel beging, wegen der vier nehme ich es nicht zurück: Weil sie den Unschuldigen für Geld verkaufen und den Armen für ein Paar Sandalen, weil sie die Kleinen in den Staub treten und das Recht der Schwachen beugen. Sohn und Vater gehen zum selben Mädchen, um meinen heiligen Namen zu entweihen. (Amos 2,6–7)

Übertragen Sie das auf den globalen Welthandel! Treten die Großen die Kleinen nicht in den Staub, wenn sie sie zu tiefsten Löhnen schuften lassen? Beugen sie nicht das Recht der Schwachen, wenn sie ihnen verbieten, sich zu organisieren und für ihre Rechte aufzustehen? Missstände, wie Amos sie beschreibt, sind keine Kollateralschäden einer globalisierten Welt, in der einige Nutzen ziehen können und andere leider nicht, sondern es sind Verbrechen. Amos Sicht von Sünde ist radikal und umfassend. Er beklagt die Ungerechtigkeit gegenüber den Kleinen und Schwachen, und im gleichen Atemzug verdammt er sexuelle Unmoral. Wir finden keine künstliche Trennung zwischen sozialethischer Ungerechtigkeit und individueller Unmoral vor, denn Gott ist sowohl heilig als auch gerecht. Wie die anderen Propheten hatte auch Amos besonders für die, die sich durch Ungerechtigkeit bereicherten, scharfe Worte übrig:

Weh denen, die das Recht in bitteren Wermut verwandeln und die Gerechtigkeit zu Boden schlagen. Bei Gericht hassen sie den, der zur Gerechtigkeit mahnt, und wer Wahres redet, den verabscheuen sie. Weil ihr von den Hilflosen Pachtgelder annehmt und ihr Getreide mit Steuern belegt, darum baut ihr Häuser aus behauenen Steinen – und wohnt nicht darin, legt ihr euch prächtige Weinberge an – und werdet den Wein nicht trinken. Denn ich kenne eure vielen Vergehen und eure zahlreichen Sünden. (Amos 5,10–12)

Die Worte des Propheten klingen wie ein Kommentar zur globalisierten Weltwirtschaft. Auf der einen Seite die Armen und Hilflosen, die für ein Stück Brot oder einen Maisfladen unzählige Stunden Arbeit verrichten müssen – sofern ihnen der Lohn überhaupt ausbezahlt wird. Mehr als 2 Milliarden Menschen müssen mit weniger als 2 Dollar pro Tag auskommen. Wenn sie mit ihrem dürftigen Einkommen weder einen Arztbesuch noch sauberes Trinkwasser kaufen können, sind sie da nicht um ihren gerechten Lohn gebracht worden? Auf der anderen Seite die Wohlhabenden und Mächtigen, die sich schamlos bereichern und jährlich Millionen kassieren. Das Geld, das sie den Arbeitern vorenthalten, schlägt auf ihrem Konto zu Buche. Sie verwandeln das Recht in bitteren Wermut und machen sich den Gott der Gerechtigkeit zum Feind.

Menschenpflicht Gerechtigkeit

Im Alten Testament steht über allen menschlichen Beziehungen das von Jahwe geschenkte Gnadenverhältnis zu seinem Volk. Israel war Gottes Eigentum und auf das Tun des Willens Jahwes verpflichtet (Ex 19,5–6). Israel als Volk unter der Herrschaft Jahwes war nichts weniger als die Pflicht auferlegt, dem Gott, den es bekannte, zu gleichen, und wie er nicht nur heilig zu sein, sondern auch gerecht zu handeln. Gerechtigkeit üben ist eine in der alttestamentlichen Ethik fest verankerte Menschenpflicht. Nirgends kommt das prägnanter zum Ausdruck als in Micha 6,8: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott.“ Israel wird hier als „Mensch“ angesprochen. Das weist darauf hin, dass Israel nicht nur Gerechtigkeit üben sollte, weil es ein erlöstes Volk war. Gottes Forderung nach Gerechtigkeit erstreckt sich auf alle Menschen. Es geht um eine allgemeine Menschenpflicht. Die Anrede „Mensch“ weist außerdem auch darauf hin, dass es um ein Ethos des Einzelnen geht. Das wird wiederum im Bundesbuch und den übrigen gesetzlichen Bestimmungen in den fünf Büchern Mose deutlich: Mit „du sollst“ und „du sollst nicht“ werden verschiedene Alltagsituationen eingeleitet, in welchen Gerechtigkeit geübt werden soll. Der verirrte Esel soll dem Feind zurückgebracht werden (Ex 23,4), die Armen sollen im Brachjahr vom Getreide auf dem Feld, den Trauben in den Weingärten und dem Öl in den Olivenhainen essen (Ex 23,10–11). Die Fremden sollen nicht ausgebeutet werden und das Recht des Armen nicht gebeugt werden (Ex 23,8–9).

Besonders in die Pflicht genommen werden die Besitzenden und die Mächtigen. Gerlach (2006, 199) trifft einen wichtigen Punkt, wenn er sagt, dass die biblische Gerechtigkeit nicht auf den Aspekt des barmherzigen Ethos reduziert werden dürfe. Die im Gesetz geforderte Rechtstreue ist umfassender Natur. Das Gesetz nimmt die Besitzenden in die Pflicht, wenn gesagt wird, dass die Brache zugunsten der Armen eingehalten werden soll (Ex 23,10–11). Und es nimmt die Mächtigen in die Pflicht, wenn es heißt, dass Arme, Witwen, Waisen und Fremde nicht ausgebeutet und das Recht der sozial Schwachen im Rechtsstreit nicht gebeugt werden dürfen (Ex 23,6–9). Das Konzept der Gerechtigkeit ist im Alten Testament in dem Sinn umfassend, als es den Einzelnen in die Pflicht nimmt gerecht zu handeln, und die Mächtigen und Reichen verpflichtet gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die Gerechtigkeit und Ausgleich ermöglichen. Alttestamentliche Gerechtigkeit ist kein bloßes Almosengeben für Bedürftige. Die vom Gesetz verlangte und von den Propheten mit Nachdruck eingeforderte Gerechtigkeit schnitt tief in die gesellschaftlichen Strukturen Israels.

Die politische Macht lag seit Davids Regierung hauptsächlich beim König. Er war der politische Entscheidungsträger und von ihm wurde erwartet, dass er im Namen Jahwes für Recht und Gerechtigkeit sorgte. David war der Prototyp des gerechten Königs. Von ihm heißt es, dass er für Recht und Gerechtigkeit im ganzen Volk sorgte (2Sam 8,15). Salomo verfeinerte die Gesetze Israels und sorgte für Rechtssicherheit auch für die Geringen (1Kö 3,16–28). Im Königpsalm 72 portraitiert Salomo den idealen Herrscher:

Verleih, dein Richteramt, o Gott, dem König, dem Königssohn dein gerechtes Walten! Er regiere dein Volk in Gerechtigkeit und deine Armen durch rechtes Urteil. Dann tragen die Berge Frieden für das Volk und die Höhen Gerechtigkeit. Er wird Recht verschaffen den Gebeugten im Volk, Hilfe bringen den Kindern der Armen, er wird die Unterdrücker zermalmen (…) Denn er rettet den Gebeugten, der um Hilfe schreit, den Armen und den, der keinen Helfer hat. Er erbarmt sich des Gebeugten und Schwachen, er rettet das Leben der Armen. Von Unterdrückung und Gewalttat befreit er sie, ihr Blut ist in seinen Augen kostbar. (Ps 72,1–14)

Der König, der gerecht regierte, erwies sich als wahrer Sohn Jahwes, des Königs über Israel, und wurde mit Recht gepriesen. Entsprechend wurden ungerechte Könige, Priester und andere einflussreiche Personen des öffentlichen Lebens von den Propheten angeklagt:

Weh der trotzigen, der schmutzigen, der gewalttätigen Stadt. Sie will nicht hören und nimmt sich keine Warnung zu Herzen. Sie verlässt sich nicht auf den Herrn und sucht nicht die Nähe ihres Gottes. Ihre Fürsten sind brüllende Löwen. Ihre Richter sind wie Wölfe in der Steppe, die bis zum Morgen keinen Knochen mehr übrig lassen. Ihre Propheten sind freche Betrüger. Ihre Priester entweihen das Heilige und tun Gewalt dem Gesetz an. Aber der Herr tritt für das Recht ein in ihrer Mitte, er tut kein Unrecht. (Zef 3,1–5)

Zefanja klagte die gesamte gesellschaftliche Elite seiner Zeit an. Jerusalem war zur gewalttätigen Stadt geworden. Ihre Fürsten missbrauchten ihr Amt und waren zu brüllenden Löwen geworden. Die Richter waren bestechlich und sorgten dafür, dass Gerechtigkeit käuflich war. Die Propheten redeten betrügerische Worte, die vom Klerus und den Mächtigen gerne gehört wurden. Die Priester, die den Gottesdienst aufrechterhalten und das Gesetz lehren sollten, entweihten das Heiligtum und missachteten das Gesetz. Propheten wie Zefanja ließen keinen Zweifel: Wenn es um Gerechtigkeit ging, waren alle Besitzenden, allen voran die politisch Mächtigen und die gesellschaftlich Einflussreichen, in die Pflicht genommen.

Ob es der König war, der das Verfügungsrecht über das Volk besaß, ob es Richter und Priester mit ihrer beträchtlichen Entscheidungsgewalt waren, ob es ein Sippenoberhaupt war, das in Familienangelegenheiten entschied, ob es der Besitzer eines Weinberges war oder ein schlichter Bauer, der zufällig den entlaufenen Esel seines Feindes fand – sie alle wurden von Jahwe auf gerechtes und barmherziges Handeln verpflichtet.

Israels Gerechtigkeits-Paradigma

Die Evangelikalen sind bisher zögerlich mit dem biblischen Gerechtigkeitsbegriff umgegangen. Gerechtigkeit wurde weitgehend mit Rechtfertigung gleichgesetzt. Der alttestamentliche Gerechtigkeitsbegriff wurde kaum in sozial verantwortliches Handeln einbezogen. Erhard Berneburg (1997, 272–274) widmet in seiner Dissertation Das Verhältnis von Verkündigung und sozialer Aktion in der evangelikalen Missionstheorie einen kurzen Abschnitt dem Zusammenhang zwischen evangelikaler Sozialethik und dem biblischen Verständnis von Gerechtigkeit. Er zeigt sich besorgt darüber, dass der alttestamentliche Gerechtigkeitsbegriff in der neueren evangelikalen Missionstheorie vermehrt zur Definierung der Sozialethik verwendet wird. Nach seinem Verständnis eignet sich der alttestamentliche Gerechtigkeitsbegriff nicht dazu. Gerechtigkeit sei zu allererst nicht ein Tun des Menschen, sondern ein Handeln Gottes und müsse soteriologisch verstanden werden (a.a.O., 272), denn die menschliche Verantwortung komme im Neuen Testament nicht unter dem Begriff der Gerechtigkeit zur Sprache (a.a.O., 273). Mit Blick auf die Entwicklung einer evangelikalen Sozialethik warnt er: „Gegenüber einer vorschnellen Identifizierung von aus der Heiligen Schrift erhobener Gottesgerechtigkeit und menschlichen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit ist auf die strenge Unterscheidung zwischen beiden zu verweisen“ (a.a.O., 275). Berneburg möchte verhindern, dass es in der evangelikalen Missionstheologie zu einer humanistischen Verflachung des Evangeliums kommt, welche den soteriologischen Aspekt der Gottesgerechtigkeit schlussendlich negiert. Er warnt in diesem Zusammenhang vor einer sozialethischen Verengung des Gerechtigkeitsbegriffs (a.a.O., 275) und möchte so sicherstellen, dass Gerechtigkeit die persönliche Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Christus bleibt.

 

Berneburgs Unbehagen spiegelt die traditionelle evangelikale Haltung zur sozialen Gerechtigkeit wieder. Man möchte nicht, dass die Bemühungen um soziale Gerechtigkeit die überaus deutliche Lehre von der Notwendigkeit der geschenkten Gottesgerechtigkeit im Sinne der Rechtfertigung durch den Glauben verdrängen. Das ist mit Nachdruck zu bejahen. Nur sollte dieses Unbehagen nicht dazu führen, dass man sich zu zögerlich mit dem Thema Gerechtigkeit befasst oder es gar negiert.

Wir brauchen eine solide biblische Theologie der Gerechtigkeit, welche alle Aspekte von Gerechtigkeit berücksichtigt und in das richtige Verhältnis zueinander rückt. Um dies zu ermöglichen, müssen wir die Frage stellen: Ist es zulässig, die alttestamentliche Sozialethik paradigmatisch zu verstehen? Mit anderen Worten: Dürfen die Vorstellungen von gerechtem Handeln und von sozial gerechten Strukturen, wie sie im Alten Testament vorkommen, modellhaft auf heute übertragen werden? Wird diese Frage verneint, ist ausgesagt, Israel stelle einen Sonderfall in der Heilsgeschichte dar, der uns in der Frage nach der sozialen Verantwortung nicht weiterhelfen könne. Man wird dann Zuflucht zum Neuen Testament suchen und feststellen, dass dort der Gerechtigkeitsbegriff kaum in Bezug zu sozial verantwortlichem Handeln gesetzt wird. Und daraus wird man folgern, es sei nicht die Aufgabe der Kirche, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Mit dieser verkürzten Argumentation aber geht man des enormen Reichtums des Alten Testamentes in sozialethischer Hinsicht verlustig.

Übertragung

In meinem Buch Kirche ist Mission habe ich eine Rechtfertigung vorgetragen, die es erlaubt, das Gerechtigkeits-Paradigma des Alten Testamentes auf heute zu übertragen.6 Wenn wir eine paradigmatische Übertragung vornehmen, versuchen wir nicht, jedes einzelne Gesetz möglichst buchstabengetreu in unseren Kontext zu überführen. Wir fragen vielmehr nach der Intention, welche hinter einem bestimmten Gesetz liegt. Wir versuchen dadurch den die Zeiten und Kulturen überschreitenden Gehalt des Gesetzes zu identifizieren und diesen im Sinne der ursprünglichen Absicht auf heute zu übertragen. Das soll im Folgenden geschehen.

Menschenrechte

In den sozialen Schutzbestimmungen des Alten Testamentes sind im Kern basale Menschenrechte enthalten (Gerlach 2006, 188). Den Armen wird das Recht auf Nahrung zugestanden. Sie dürfen Nachlese auf den Feldern halten und während der Brache nehmen, was auf den Feldern wächst (Ex 23,6–8). Jeder Mensch hat ungeachtet seiner sozialen Stellung Anrecht auf rechtliches Gehör (Ex 23,1–3). Wer als Hebräer seine Freiheit verliert, hat dank des Sabbatjahrs nach spätestens sieben Jahren das Recht auf einen Neuanfang (Ex 21,2). Er muss freigelassen werden und nach spätestens fünfzig Jahren geht durch die Ausrufung des Jubeljahrs der Besitz an seine Familie zurück (Lev 25,8ff). Freilich werden diese Rechte nicht als Menschenrechte ausformuliert, sondern sie werden den Besitzenden und Einflussreichen als Pflichten auferlegt. Das ändert nichts am Umstand, dass mit den zahlreichen gesetzlichen Bestimmungen basale Menschenrechte angelegt sind. Gerlach ist zuzustimmen, wenn er sagt:

Die moderne Gewährung von Grundrechten ist damit im Kern in den biblischen Schriften angelegt und sie musste und muss bleibend weiterentwickelt werden. Dabei geht es im modernen Kontext um die Weiterentwicklung von Chancengleichheit und Teilhaberrechten sowie um die Ausbalancierung von Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit. (Gerlach 2006, 200)

Gerlach weist hier darauf hin, dass das biblische Gerechtigkeitskonzept in der Regel nicht direkt übertragen werden kann, es aber ein utopisches Potenzial aufweist, das zu neuen Handlungsoptionen provoziert. Die Kraft der Utopie und utopischer Texte könne helfen, neue Optionen überhaupt zu finden, durchzuspielen und zu erproben. Er nennt ein Beispiel:

Die Erlassjahrkampagnen, die seit den 80er-Jahren die gravierenden Missstände der internationalen Schuldenkrise in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht haben, konnten sich auf die biblischen Erlassjahrforderungen und die Bestimmungen zum Jobeljahr berufen (Gerstenberger 2000). Anfangs als naiv belächelt konnte sich langsam die Einsicht durchsetzen, dass arme Länder einen begrenzten und geregelten Schuldenerlass erhalten müssen. Selbstverständlich sind die Missbrauchsmöglichkeiten solcher Erlasse und ihre Wirkung auf zukünftiges Verhalten mit zu berücksichtigen. Die Notwendigkeit einer Entschuldung, das Recht auf eine zweite Chance für jeden Menschen, wurde in Deutschland auch im Insolvenzrecht für Privatpersonen entwickelt. Interessanter Weise kam hier der biblische Rhythmus zu tragen: nach sechs Jahren des Wohlverhaltens ist eine Entschuldung und ein Neuanfang möglich. Die weitere Entwicklung wird aber auch bei diesem Gesetz zeigen, ob sich dieses Schutzrecht langfristig positiv auswirkt oder ob einem bestimmten Personenkreis künftig notwendige Kredite vorenthalten werden, zumal sich abzeichnet, dass die Privatinsolvenz auch strategisch ausgenutzt werden kann. (a.a.O., 200)

Das Gerechtigkeits-Paradigma des Alten Testamentes bietet einen enormen Reichtum auch für die Entwicklung einer globalisierungstauglichen Sozialethik:

Das kritische und utopische Potential der biblischen Schriften muss präsent gehalten werden, damit es verantwortungsethisch umgesetzt werden kann. Es muss dazu verwandt werden, dass die biblische Einsicht der Weisheitstradition auch in unserer modernen Gesellschaft wach bleibt und die langfristig positiven Folgen praktizierter Gerechtigkeit für ein Volk erkannt werden: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist der Leute Verderben“ (Sprüche Salomos 14,34). (a.a.O., 200)

Lebensdienliche Wirtschaftsordnung

In den sozialen Schutzbestimmungen des mosaischen Gesetzes sind nicht nur basale Menschenrechte angelegt. Die Schutzrechte für besonders verwundbare Personen sind so zahlreich und sie greifen so stark in das Gesellschaftsleben ein, dass vom Ziel einer lebensdienlichen Wirtschaftsordnung (Gerlach 2006, 199) gesprochen werden kann.

In den Schutzrechten des Bundesbuches (Ex 22,20–26) für besonders verwundbare Personen greifen die sozialen Regelungen, die Gott erließ, tief in das wirtschaftliche Alltagsleben ein. Zu den besonders schutzbedürftigen Personen zählten die Fremden: „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen“ (Ex 22,20). Der Ausdruck „Fremde“ bezieht sich auf die in Israel lebenden Ausländer (Deut 14,21), aber auch die innerhalb des Landes vertriebenen Personen. Kriege und wirtschaftliche Not führten dazu, dass Familien das Land ihrer Väter verlassen und sich in einem anderen Stammesgebiet niederlassen mussten. Aus ihrer Sippe herausgerissen, mussten sie ohne verwandtschaftliche Beziehungen eine Existenz aufbauen und waren daher auf Hilfe jenseits der Familie angewiesen (Otto 1994, 84).

Die am stärksten verwundbaren Teilhaber der Gesellschaft waren Witwen und Waisen. Der soziale Zusammenhalt, die Durchsetzung der Rechte und die Sicherung der Existenz wurden in Israel durch die Einbettung in die Sippe erreicht. Witwen und Waisen fanden sich ohne dieses soziale Netz wieder und waren darum verwundbar. Sie hatten kein Familienoberhaupt, das ihnen rechtliches Gehör verschaffen konnte. Sie waren die schwächsten Glieder im sozialen Gefüge und darum besonders auf Schutz angewiesen. Entsprechend streng fallen die Schutzbestimmungen für sie aus: „Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen. Wenn du sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich ihren Klageschrei hören. Mein Zorn wird entbrennen und ich werde euch mit dem Schwert umbringen, sodass eure Frauen zu Witwen und eure Söhne zu Waisen werden“ (Ex 22,21–23).

Den Armen wird im mosaischen Gesetz als besonders schutzbedürftige Personengruppe Beachtung geschenkt, obschon Armut des Öfteren Fremde, Witwen und Waisen betraf. Sie sollten doppelt geschützt werden, weil sie in Krisenzeiten nicht für sich selbst sorgen konnten und auf finanzielle Hilfe angewiesen waren. Dem wird mit der Regelung „Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst du dich gegen ihn nicht wie ein Wucherer benehmen. Ihr sollt von ihm keinen Wucherzins fordern“ (Ex 22,24) Rechnung getragen. Gott untersagte es, aus der Not der Armen wirtschaftliches Kapital zu schlagen. Der Zins sollte nicht nach Marktgesetzen festgelegt werden, sondern die Möglichkeiten des Zinsnehmenden berücksichtigen. Auf keinen Fall durfte die Geldverleihung der Beginn einer Verschuldungsspirale sein. Wenn man daran denkt, dass der Zinssatz für Geld bei rund einem Fünftel der aufgenommenen Summe lag, bei Getreide rund ein Drittel ausmachte und im Einzelfall über der Hälfte liegen konnte (De Vaux 1973, 171), stellte das Verbot des Wucherzinses eine wichtige Regelung zur Verhinderung permanenter Verarmung dar. Die Schutzrechte des Bundesbuches schließen mit einer Pfandrechtsregelung, welche wiederum den Armen und sonstigen schutzbedürftigen Personen zugute kommen sollte: „Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis Sonnenuntergang zurückgeben; denn es ist seine einzige Decke, der Mantel, mit dem er seinen bloßen Leib bedeckt. Worin sollte er sonst schlafen? Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid“ (Ex 22,25–26).

Die Schutzrechte für sozial Benachteiligte machen deutlich: Im alttestamentlichen Gerechtigkeits-Paradigma stand der soziale Zusammenhalt über dem Gewinnstreben. Besitz war sozialpflichtig. Sei es, dass jemand Ländereien besaß – die entscheidende Ressource im alten Israel –, sei es, dass jemand sich in irgendeiner Weise in einer Position der Stärke gegenüber anderen befand – etwa gegenüber Witwen und Waisen – sie alle wurden darauf verpflichtet, ihre Position oder ihre Ressource nicht zum Nachteil anderer auszunutzen, sondern dem Mitbürger zu dienen. Auf diese Weise wurde das Gewinnstreben ethisch begrenzt und in eine lebensdienliche Wirtschaftsordnung überführt, in der auch Schwache ihren Platz hatten. Das schrankenlose Gewinnstreben verfällt so deutlicher Kritik. Die Wirtschaft sollte den Menschen dienen und ihn nicht zu einem Handlanger der Gewinnmaximierung machen. Eine lebensdienliche Wirtschaftsordnung misst sich am Wohl der Schwachen.