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Z serii: Edition IGW #4
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Soziale Aktion

Seit dem Lausanner Kongress 1974 wird in der evangelikalen Bewegung die soziale Verantwortung der Kirche intensiv diskutiert. Nachdem es in den 1980er-Jahren wegen der Frage des Verhältnisses von Verkündigung zu sozialer Verantwortung zu heftigen Friktionen gekommen war, hat sich die Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts stark verändert. Die Frage nach der sozialen Verantwortung der Kirche ist positiv beantwortet worden und als Folge davon sind zahlreiche soziale Aktionen entstanden. Als Beispiel darf das 1999 gegründete Micah Network gelten, das von René Padilla präsidiert wird. Das Micah Network umfasst gegen 300 christliche Entwicklungsorganisationen in über 70 Ländern. Das Ziel der Kampagne besteht darin, christlichen Organisationen zu helfen, eine biblische Antwort auf die Nöte der Welt zu finden, vor allem auf das Problem der Armut.

Im Jahr 2001 hielt das Micah Network seine erste internationale Konferenz ab in Oxford. Die an dieser Konferenz verabschiedete Micah Declaration on Integral Mission liest sich durchgängig wie das Manifest eines neuen missionarischen Paradigmas (www.stoparmut2015.ch):

Integrale Mission oder ganzheitliche Veränderung meint die Verkündigung und die gesellschaftliche Umsetzung des Evangeliums. Das heißt nicht nur, dass Evangelisation und soziales Engagement beide gleichermaßen zu geschehen haben. Vielmehr heißt das im Verständnis ganzheitlicher Mission, dass aus unserer Verkündigung soziale Konsequenzen folgen, weil wir die Menschen zur Liebe und zur Busse in allen Bereichen des Lebens ermutigen. Und unser soziales Engagement hat evangelistische Auswirkungen, da wir Zeugnis geben von der verwandelnden Kraft Jesu Christi. Wenn wir die Welt vernachlässigen, verraten wir das Wort Gottes, das uns doch aussendet, der Welt zu dienen. … Wie wir es im Leben Jesu sehen können, ist die Verknüpfung von Sein, Tun und Reden das Herz ganzheitlicher Mission. Jesus Christus ist die Mitte, darauf verpflichten wir uns gegenseitig neu. Sein opferbereiter Dienst ist das Muster einer jeden christlichen Nachfolge.

In Deutschland ist das Micah Network unter der Bezeichnung Micha Initiative bekannt und wird von der Deutschen Evangelischen Allianz getragen. In der Schweiz heißt dieselbe Initiative StopArmut und wird von der Arbeitsgemeinschaft Nord-Süd der Schweizerischen Evangelischen Allianz verantwortet. Die beiden Initiativen wollen einen substanziellen Beitrag zur Durchsetzung der Millenniumsziele der Vereinten Nationen leisten. Ziel ist es, durch verschiedene Maßnahmen die weltweite Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Dies will StopArmut durch die Motivation von Christen, die Beeinflussung von Entscheidungsträgern, die Auszeichnung von Modellen zur Armutsbekämpfung und Gebet erreichen (www.stoparmut2015.ch). Die deutsche Micha Initiative weist auf ihrer Homepage darauf hin, dass seit der Gründung der Weltweiten Evangelischen Allianz Evangelisation und gesellschaftliche Verantwortung eng zusammengehören und dass auch die Lausanner Verpflichtung diesen Punkt herausstreicht. Das macht zweierlei deutlich: Zunächst, dass sich das Bahn brechende neue Verständnis von der sozialen Verantwortung der Kirche auf historische Vorbilder beruft, wie es sie in der Frühzeit des Evangelikalismus gegeben hat. Man möchte die fundamentalistische Verabschiedung aus der Welt durch die Rückkehr zur ursprünglichen Weltzugewandtheit überwinden. Und dann auch, dass der Lausanner Kongress 1974 tatsächlich eine Wende im Weltbezug der Evangelikalen markiert. Die dort gemachten Anregungen sind in den 1980er-Jahren in der Zwei-Drittel-Welt mit Begeisterung aufgenommen worden und scheinen mit Verzögerung auch im Westen einen nachhaltigen Effekt zu erzielen.

Missionaler Gemeindebau

Schließlich sind die missionalen Ansätze im Gemeindebau ein weiteres und deutliches Anzeichen für einen Paradigmenwechsel. Ein Beispiel dafür ist die Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus des deutschen Missionswissenschafters und Gemeindegründers Johannes Reimer. In seinem Buch Die Welt umarmen nimmt er eine gründliche theologische Analyse des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus vor. Reimer (2009, 24) ist überzeugt, „dass erfolgreicher Gemeindeaufbau unmittelbar mit der Frage zusammenhängt, ob eine Gemeinde zu einer verständlichen und in der Gesellschaft angenommenen Form und Struktur gefunden hat.“ Es reiche nicht aus, bestehende Gemeinden zu erneuern indem etwa die Form des Gottesdienstes verändert werde. Ebenso wenig reiche es aus, Gemeinde zu restaurieren indem bestimmte Themen, die in der Vergangenheit vernachlässigt wurden, neu entdeckt würden. Es gehe vielmehr um eine neu gedachte und neu konzipierte Gemeinde. Reimer spricht von einem „kontextuell-theologischen Konzept, das beides ernst nimmt, die Botschaft des Neuen Testamentes und auch den Kontext, in dem diese Botschaft Fleisch werden soll“ (a.a.O., 22)

Missionaler Gemeindebau, also vom Sendungsauftrag her gedachter Gemeindebau, verlangt nach einer theologischen Grundlegung und nach einer Form, die für den jeweiligen Kontext relevant ist. Genau dies nimmt Reimer in seinem Werk vor. Er untersucht die biblischen Images von Gemeinde – die Gemeinde als Versammlung, Bau, Volk, Leib – und folgert: „Biblische Bilder von der Gemeinde machen deutlich, dass die Gemeinde von ihrem Wesen her missionarisch ist, oder sie ist keine Gemeinde. Das missionarische Wesen der Gemeinde schließt die erklärte Absicht zur Transformation der Welt, in der die Gemeinde existiert, ein … Mission der Gemeinde muss sowohl die Proklamation des Wortes Gottes als auch die soziale Aktion beinhalten. Erst da, wo die Gemeinde ihre transformative Rolle in der Gesellschaft wahrnimmt, wird sie ihrer missionarischen Aufgabe gerecht“ (a.a.O., 92).

Reimer begründet den missionalen Gemeindebau im Weiteren trinitarisch und missiologisch. Besonders interessant für unser Thema sind Reimers Ausführungen über die Gemeinde in der Welt (a.a.O., 182–193): Gott wirkt in der Welt. Er ist es, der die Geschichte lenkt. Die Gemeinde ist eingeladen, sich auf den Spuren des Schöpfers zu bewegen und an seinem Wirken in der Welt teilzuhaben. Die Gemeinde ist eine Gemeinschaft von Menschen in der Welt. Der Mensch hat von Gott ein Kulturmandat erhalten. Es ist nicht allein die Gemeinde, durch die Gott sein Reich erbaut. Alle Menschen tragen dazu bei. Das ist eine Einladung zum Dialog und zur Zusammenarbeit mit allen Menschen. „Nicht gegen die Menschen, sondern mit ihnen wird Gemeinde gebaut. Nicht gegen die Kultur, sondern in der Kultur“ (a.a.O., 186). Die Welt ist nicht nur Gottes gute Schöpfung, sondern zugleich eine gefallene Welt. Das Böse in der Welt ist eine Aufforderung zum Kampf. Die Gemeinde muss die Welt zu verstehen suchen. Dazu gehört, sie als vom Bösen korrumpierte Welt zu sehen, vor allem aber den Kontext zu kennen, in welchem Gemeinde konkret gebaut werden soll.

2. Der gerechte Gott

Gerechtigkeit ist von zentraler Bedeutung für das menschliche Zusammenleben. Der Kirchenvater Augustin hat treffend gesagt, dass Gerechtigkeit das ist, was eine Gesellschaft von einer Räuberbande unterscheidet. Die Frage nach der Gerechtigkeit ist gerade in der Epoche der Globalisierung von entscheidender Wichtigkeit.

In der Epoche der Globalisierung rückt die Welt zusammen; ob aus ihr eine Weltgesellschaft oder eine Weltwillkürherrschaft hervorgeht, entscheidet sich an der Gerechtigkeit … Die zukünftige Gestalt der Welt hängt davon ab, ob auf lange Sicht die Stärkung des Rechts oder das Recht des Stärkeren die Oberhand behält. (Sachs & Santarius 2005, 19)

Es ist keine neue, aber wichtige Erkenntnis: In einer gelingenden Gesellschaft herrscht Gerechtigkeit. „Denn eine ungerechte Gesellschaft entspricht weder den Strebungen des Menschen, noch kann sie auf Dauer Bestand haben“ (a.a.O., 19).

Am 3. Dezember 1984 ereignete sich in einer Pestizid-Fabrik des amerikanischen Chemiekonzerns Union Carbide (heute Teil der Dow Chemical) im indischen Bhopal die bisher schlimmste Chemiekatastrophe der Geschichte. Innerhalb weniger Stunden wurden große Mengen hochgiftiger Gase freigesetzt. In den ersten Stunden gab es mehrere tausend Tote. Bis heute sind an den Folgen des Unfalls 20.000 Menschen gestorben. Über 100.000 Menschen sind chronisch krank, und noch heute sterben Menschen an den Folgen des Unfalls. Gemäß offiziellen Zahlen wurden über 500.000 Männer, Frauen und Kinder in irgendeiner Weise Opfer des Unfalls.

Auf der Internetseite von Union Carbide kann man nachlesen, der Konzern habe sich eifrig bemüht, den Opfern Hilfe zu leisten.4 Das ist bestenfalls eine Übertreibung. 1989 wurde in einem außergerichtlichen Vergleich Entschädigungszahlungen in Höhe von 470 Millionen Dollar für die Opfer festgesetzt. Es mutet zynisch an, dass der amerikanische Ölkonzern Exxon nach dem Tankerunglück der Exxon Valdez in Alaska in erster Instanz zu einer Milliardenbusse verbrummt wurde, obschon dort keine Menschen direkt zu Schaden gekommen waren. Union Carbide hat bis heute das verseuchte Firmengelände nicht reinigen lassen. Heute spielen indische Kinder auf dem verseuchten Boden Fußball. Finden Sie das gerecht? Würden Sie ihr Kind dort spielen lassen?

Es sind solche und ähnliche Fragen sozialer Gerechtigkeit, welche die Menschen bewegen. Es geht um Fragen der Gerechtigkeit zwischen den Völkern, die Frage gerechter Arbeitsbedingungen und Entlohnung, die Fragen sozialer Diskriminierung, die Fragen der Chancengleichheit, der Teilhabe am Leben und nicht zuletzt um Ressourcengerechtigkeit.

 

Gerechtigkeit ist weder nur von zentraler Bedeutung für das menschliche Zusammenleben noch ausschließlich ein Schlüsselthema des 21. Jahrhunderts; Gerechtigkeit ist auch ein zentraler biblischer Begriff. Von welcher Art von Gerechtigkeit sprechen wir, wenn wir sagen, dass sie zentral für die Zukunft der Menschheit ist? Wer sagt uns, was gerecht ist und was nicht? Was ist unter dem häufig verwendeten Begriff „soziale Gerechtigkeit“ genau zu verstehen? Es ist die Aufgabe dieses Kapitels, auf diese Fragen eine biblische Antwort zu geben. Wir werden dies durch folgendes Vorgehen zu erreichen suchen:

Zuerst untersuchen wir das Konzept der Gerechtigkeit im Alten Testament, mit besonderer Berücksichtigung des mosaischen Gesetzes und der Botschaft der jüdischen Propheten.

Dann untersuchen wir das Konzept der Liebe im Neuen Testament und fragen insbesondere nach dem Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Liebe.

Schließlich fragen wir nach den Motiven und der Bedeutung des utopischen Gerechtigkeitsideals.

Altes Testament – Gerechtigkeit als solidarische Mitmenschlichkeit

Gerechtigkeit ist der zentrale ethische Begriff des Alten Testamentes. Die im Deutschen mit den Begriffen Recht und Gerechtigkeit wiedergegebenen hebräischen Begriffe kommen im Alten Testament über 500 Mal vor. Allein schon die Häufigkeit, mit der die Frage nach der Gerechtigkeit aufgenommen wird, zeugt davon, dass es sich um ein wichtiges, die Epochen durchschneidendes Thema handelt.

Ein sozialer Verhältnisbegriff

Gerechtigkeit im Alten Testament ist ein sozialer Verhältnisbegriff, der so viel wie Gemeinschaftstreue bedeutet. Diese Gemeinschaftstreue schließt sämtliche Beziehungsebenen ein. So kann im Alten Testament von Menschen, die sich innerhalb ihres Familienverbandes angemessen verhalten, als von gerechten Menschen die Rede sein. Ebenso kann davon die Rede sein, dass ein Mensch gerecht ist, weil er sein Vertrauen auf das Wort Jahwes setzt (Gen 15,6). Und von Gott selbst wird gesagt, dass er gerecht ist, weil er den Schuldigen nicht frei spricht (Ex 34,7) und weil er treu zu seinen Versprechen steht (Deut 32,4).

In der griechischen Polis (Stadtstaat) war Gerechtigkeit ein staatstragender Begriff. Es herrsche Gerechtigkeit – so Platon – wenn jeder das ihm Zukommende tue. Das heißt, „gerecht war es, das Bestehen ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Vollmachten und Ränge zu akzeptieren und selbst das dem eigenen Rang Angemessene zu übernehmen“ (Seebass 1993, 502). Ähnlich ist auch im Alten Testament Gerechtigkeit ein sozialer Verhältnisbegriff, der mit „gemeinschaftsgemäßes Handeln“ oder „Gemeinschaftstreue“ wiedergegeben werden kann (Gerlach 2006, 175).5 „Der paradigmatische Text für dieses Verständnis ist die Geschichte von Juda und Tamar (Genesis 38). Tamars Mann Er, ein Sohn von Juda, war gestorben, ohne einen Nachkommen gezeugt zu haben. Ers Bruder Onan war nicht gewillt, die familiäre Pflicht zu erfüllen und seinem verstorbenen Bruder mit Tamar einen Nachkommen zu zeugen. Da ließ Gott Onan sterben. Aus Angst weigerte sich Juda, Tamar seinen jüngsten Sohn Schela zu geben. Tamar verkleidete sich als Kultdirne, bot sich Juda an und empfing von ihm ein Kind. Als man sie aufgrund der unehelichen Schwangerschaft mit dem Tode bestrafen wollte, konnte sie ein Pfand zeigen, das sie von Juda erhalten hatte. Juda musste bekennen: ‚Sie war gerechter als ich‘ (Gen 38,26). Judas Bruch der familiären Gemeinschaftstreue wog schwerer als Tamars Ehebruch“ (a.a.O., 175). Diese Geschichte macht deutlich, dass der Treue gegenüber der Sippe einen hohen Stellenwert beigemessen wurde – so hoch, dass eine Person (Tamar), die gegen ein ethisches Grundgesetz verstieß (nicht die Ehe zu brechen), gerechter sein konnte als jemand, der die Verpflichtungen gegenüber der Sippe (Judas Weigerung Tamar zu verheiraten) übergangen hatte. Gerechtigkeit und Gemeinschaftstreue kommen sich inhaltlich also sehr nahe.

Im Alten Testament – und hier häufig in den Psalmen – ist auch von Gottes Gerechtigkeit die Rede. Es geht um Gottes Heilshandeln, der sich durch seine zahlreichen Versprechen in einem freien Akt seinem Volk verpflichtet hat. Diese Versprechen löst Gott ein und erweist damit seine Treue. Diese Bedeutungsnuance von Gerechtigkeit tritt vor allem dann zutage, wenn es um Gottes Gerechtigkeitserweisungen im Sinne von Rettungstaten geht. Im Debora-Lied werden die Gerechtigkeitserweisungen Jahwes gepriesen (Ri 5,11), der durch die Richterin Debora und ihren Gefährten Barak Israel aus Not befreite. Auch die Befreiung aus Ägypten wird als rettende Tat, als Gerechtigkeitserweisung Jahwes, bezeichnet (Mi 6,5), denn mit der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten löste Gott seine Versprechen an Abraham ein und erwies dadurch seine Treue zu seinem Volk. In Ps 31,2 betet David: „Herr, ich suche Zuflucht bei dir. Lass mich doch niemals scheitern; rette mich in deiner Gerechtigkeit!“ Indem Jahwe den König rettet, erfüllt er sein Versprechen, dass sein Haus Bestand haben wird (2Sam 7,12), und erweist so seine göttliche Treue.

Ein rechtlicher Grundbegriff

Gerechtigkeit ist im Alten Testament nicht nur ein sozialer Verhältnisbegriff, sondern auch ein rechtlicher Grundbegriff, der sich von Gottes Gerechtigkeit ableitet. Das zeigt sich besonders gut im sogenannten Bundesbuch (Ex 21,1–23,33), der ersten Gesetzessammlung Israels. Mose stieg auf den Sinai und Gott sagte zu ihm: „Wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören“ (Ex 19,5–6). Dann legte Gott Mose die Zehn Gebote vor, die eine Zusammenfassung des Willens Jahwes an sein Volk waren (Ex 20,1–17). Im Anschluss daran folgen im Bundesbuch einzelne Bestimmungen, welche das geistliche und soziale Leben Israels prägen sollten. Die Sammlung wird mit den Worten eingeleitet: „Das sind die Rechtsvorschriften, die du ihnen vorlegen sollst“ (Ex 21,1). Sie bestanden darin, dass die Israeliten bestimmte Dinge tun und andere lassen sollten. Damit sollten sie sich Jahwe angleichen, der ihnen den Bund gewährte, denn er ist gerecht und spricht den Schuldigen nicht frei: „Du sollst das Recht des Armen in seinem Rechtsstreit nicht beugen. Von einem unlauteren Verfahren sollst du dich fern halten. Wer unschuldig und im Recht ist, den bringt nicht um sein Leben; denn ich spreche den Schuldigen nicht frei. Du sollst dich nicht bestechen lassen; denn Bestechung macht Sehende blind und verkehrt die Sache derer, die im Recht sind“ (Ex 23,6–8).

Gerechtigkeit bestand darin, dass die Israeliten Jahwe glaubten und seine Gebote befolgten. Sie bildeten eine absolute Norm, die im Gott Israels selbst begründet war. Als ein heiliges Volk des Eigentums sollte Israel dem Heiligen Israels gleichen und seine Gerechtigkeit widerspiegeln – eine Gerechtigkeit, die sich in einer gerechten gesellschaftlichen Verfassung zeigen sollte, wie Ex 23,6–8 prägnant zum Ausdruck bringt. Entsprechend häufig, rund 30 Mal, wird im Alten Testament darum das Begriffspaar „Recht und Gerechtigkeit“ verwendet.

Der gerechte Gott

Jahwe ist die Quelle der Gerechtigkeit. Immer wieder offenbarte sich der Gott Israels als barmherziger, gnädiger und gerechter Gott. Er offenbarte sich auf dem Sinai Mose, ging an ihm vorüber und rief: „Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue: Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, lässt aber (den Sünder) nicht ungestraft; er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation“ (Ex 34,6–7). Gottes Gerechtigkeit bestand darin, dass er seinem Volk Vergebung schenkte und so sein Versprechen an Abraham, Isaak und Jakob einlöste, Israel zu seinem Volk zu machen (Lev 26,39–45). Gerechtigkeit und Gnade wurden so zuweilen zu austauschbaren Begriffen.

In den Psalmen wird Gottes Gerechtigkeit angerufen und gepriesen: „Das Wort des Herrn ist wahrhaftig, all sein Tun ist verlässlich. Er liebt Gerechtigkeit und Recht, die Erde ist erfüllt von der Huld des Herrn“ (Ps 33,4–5). Gott ist erhaben über alle Götter und steht in der Götterversammlung auf für das Recht: „Gott steht auf in der Versammlung der Götter, im Kreis der Götter hält er Gericht. Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Verschafft Recht den Unterdrückten und Waisen, verhelft den Gebeugten und Bedürftigen zum Recht! Befreit die Geringen und Armen, entreißt sie der Hand der Frevler!“ (Ps 82,1–4). Dieser Königspsalm preist den Gott Israels als Gott über alle Götter. Es ist sein Wesenszug, dass er Gerechtigkeit liebt und für das Recht eintritt. In gleicher Weise preist Ps 99, ein weiterer Königspsalm, Gottes gerechte Herrschaft: „Der Herr ist König: Es zittern die Völker. Er thront auf den Kerubim: Es wankt die Erde. Groß ist der Herr auf Zion, über alle Völker erhaben. Preisen sollen sie deinen großen, majestätischen Namen. Denn er ist heilig. Stark ist der König, er liebt das Recht. Du hast die Weltordnung fest begründet, hast Recht und Gerechtigkeit in Jakob geschaffen. Rühmt den Herrn, unseren Gott; werft euch am Schemel seiner Füße nieder! Denn er ist heilig“ (Ps 99,1–5). Gott ist heilig, vollkommen und gerecht. Er ist die Quelle der Gerechtigkeit und an ihm allein entscheidet sich, was recht ist und was nicht. Auch in der Weisheitsliteratur wird die Gerechtigkeit Gottes gepriesen. „Jeder meint, sein Verhalten sei richtig, doch der Herr prüft die Herzen. Gerechtigkeit üben und Recht ist dem Herrn lieber als Schlachtopfer“ (Spr 21,2–3).

So wie Gerechtigkeit ein Grundzug des Wesens Gottes ist, so ist sein Gericht über die Ungerechtigkeit ein Grundzug seines Handelns. Gott sieht die Ungerechtigkeit und schreitet dagegen ein. „Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört“, steht als Grundmotiv der Barmherzigkeit am Anfang des Exodus. „Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen“ (Ex 3,7–8). Gott befreite sein Volk von der drückenden Ungerechtigkeit der ägyptischen Sklaverei und offenbarte sich als Befreier-Gott, der gegen das Unrecht einschreitet. Im Auszug aus Ägypten offenbarte Gott, dass das Heil, das er zu schenken bereit war, nicht nur mit der Erlösung von den Sünden zu tun hatte, wie die Einführung des Passa verdeutlicht, sondern auch mit Befreiung aus Unterdrückung.

Nachdem Jahwe die Israeliten befreit hatte, führte er sie in die Wüste. Im Gesetz offenbarte Gott sein heiliges Wesen und seinen heiligen Willen, der darauf ausgerichtet war, dass unter seinem Volk Gerechtigkeit herrschte. „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ steht als bleibende Erinnerung über den Zehn Geboten (Ex 20,2). Gottes heiliger Wille führt aus der Sklaverei und der Ungerechtigkeit in Freiheit und Gottesdienst. Jedes Jahr, wenn die Israeliten den ersten Ertrag der Ernte einbrachten, legten sie das Bekenntnis ab: „Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legten uns harte Fronarbeit auf. Wir schrien zum Herrn, dem Gott unserer Väter, und der Herr hörte unser Schreien und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Der Herr führte uns mit starker Hand und hoch erhobenem Arm, unter großem Schrecken, unter Zeichen und Wundern aus Ägypten, er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, ein Land in dem Milch und Honig fließen“ (Deut 26,6–8). Der göttliche Segen, der sich in der Ernte zeigte, erinnerte die Israeliten beständig daran, dass sie einem Gott dienten, der sie aus der Rechtlosigkeit in einen Status der Rechtssicherheit, aus der Situation drückender Arbeitslast in ein Land, dessen Früchte sie selbst genießen durften, und aus der Bedrängnis in die Freiheit als Volk Gottes geführt hatte.