Kommunikationswissenschaft

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Es würde Rahmen und Umfang dieses Buches sprengen, wollte man das ontogenetische Werden des Menschen aus jeder der hier angesprochenen sozialisationstheoretischen Perspektiven verfolgen und dann den Stellenwert von Kommunikation im jeweils skizzierten Prozess der Persönlichkeitsgenese orten. Vielmehr soll ein Ansatz herausgegriffen und auf seine „kommunikative Dimension“ hin befragt werden: der auf George Herbert Mead zurückgehende Ansatz des Symbolischen Interaktionismus (S.I.), der in der Einteilung von Geulen sowohl dem Individuations- als auch dem Wissensmodell zuordenbar ist.

Dieser Ansatz hat nicht nur eine Nähe zum bisherigen Denken (so ging der teilweise diesem Interaktionismus entlehnte Symbolbegriff in das hier entwickelte Kommunikationsverständnis ein), sondern er hat auch in weiten Bereichen der rezipientenorientierten Medienwirkungsforschung seine Spuren im Fach hinterlassen.19

Bevor näher auf den S.I. eingegangen wird, ist jedoch Grundsätzliches zur sozialen Rolle voranzustellen, weil der Rollenbegriff im Konzept des S.I. einen zentralen Stellenwert hat.

4.2.2 Exkurs: Die soziale Rolle

Mit dem Begriff der sozialen Rolle wird die Summe von Verhaltenserwartungen bezeichnet, die dem Inhaber einer sozialen Position von anderen Menschen entgegengebracht werden (z. B. Dahrendorf 1974: 144, Dreitzel 1980: 43, Lautmann 2011: 581). Als Position gilt dabei der Platz in einer Gesellschaft, also der Ort im Gefüge sozialer Beziehungen, der für einen Funktionsträger (ohne Rücksicht auf die jeweils konkrete Person) bestimmt ist und diesen sozial qualifiziert (Buchhofer 2011: 516). Rollen beziehen sich also immer auf Positionen und nicht auf einzelne Menschen und die Verhaltenserwartungen betreffen immer Erwartungen, die in das Verhalten von Positionsinhabern gesetzt werden. Wir bekleiden üblicherweise eine Vielzahl sozialer Positionen, in denen wir ganz unterschiedliche Rollen spielen, die verschiedene Erwartungen provozieren.

Ehemann/Ehefrau Vater/Mutter, Sohn/Tochter, Universitätsprofessor·in, Mitglied eines Sportvereines etc. Damit sind beispielhaft ausgewählte soziale Positionen in unserer Gesellschaft symbolisiert, die eine einzelne Person einnehmen kann. In jeder dieser Positionen schlüpft sie aber zugleich auch in bestimmte Rollen, d. h., sie sieht sich Erwartungen im Hinblick auf ihr Verhalten gegenüber, die ihr von „außen“ (von der Gesellschaft) in Gestalt jeweiliger lnteraktionspartner·innen entgegentreten. So wird die Lebenspartnerin andere Erwartungen in ihr Verhalten setzen als etwa ihre Tochter oder ihre Mutter; sie selbst wiederum wird ihren Studierenden an der Universität anders gegenübertreten als den Kolleg·innen im Sportverein usw. Obwohl es sich immer um ein und dieselbe Person handelt, schlüpft sie dennoch in verschiedene Rollen und ruft dadurch bei ihren jeweiligen Interaktionspartner·innen ganz unterschiedliche Erwartungen im Hinblick auf ihr Verhalten wach.

Zentral an der rollentheoretischen Perspektive menschlichen Verhaltens ist also der Umstand, dass die Erwartungen in den Mittelpunkt rücken, die im Rahmen interaktiver Beziehungen im Spiel sind: „Wenn wir von sozialen Rollen sprechen, dann ist stets nur von erwartetem Verhalten die Rede, d. h. von der […] Gesellschaft, die den einzelnen mit gewissen Ansprüchen konfrontiert“ (Dahrendorf 1974: 145). Soziale Rollen sind nichts anderes als „wiederkehrende Verhaltensforderungen“ (Fürstenberg 1974: 21).

Nicht beantwortet ist damit freilich die Frage, ob sich eine Person in ihrer jeweiligen sozialen Position auch tatsächlich so verhält, wie „man“ es von ihr erwartet. Der Umstand, dass dies dennoch vielfach der Fall ist, dass also viele Menschen die an ihre sozialen Positionen herangetragenen Rollenerwartungen (mehr oder weniger) erfüllen,20 verweist auf das Sozialisationsgeschehen. Vom rollentheoretischen Blickwinkel aus stellt sich der Sozialisationsprozess im Wesentlichen als das Kennenlernen bzw. Übernehmen von positionsadäquaten Verhaltensmustern dar: Wir lernen, welche Verhaltenserwartungen (Rollen) den jeweiligen sozialen Positionen entsprechen, und erfahren, „was nicht akzeptables bzw. was akzeptables Verhalten ist“ (Cardwell 1976: 126).

Im Regelfall werden im Sozialisationsprozess also die mit einer sozialen Position zu verknüpfenden Rollen internalisiert (verinnerlicht). Damit wird die Fügsamkeit gegenüber den normativen Erwartungen der Gesellschaft erworben: „Mit ihrer Verinnerlichung werden viele Rollen selbstverständlich, man lässt sich von ihnen leiten, ohne dass die Rollenhaftigkeit des Verhaltens zum Bewusstsein käme“ (Dreitzel 1980: 46).

Neben dieser inneren Kontrolle der Gesellschaft über menschliches Verhalten gibt es aber auch noch eine äußere: Sie besteht in den Sanktionen, welche die Verletzungen bestimmter Rollenerwartungen nach sich ziehen. Sanktionen sind die Mittel, die eine Gesellschaft zur Verfügung hat, um für die Einhaltung ihrer Vorschriften zu sorgen. Sanktionen sind Reaktionen der Gesellschaft bzw. ihrer Institutionen sowohl auf rollenkonformes als auch auf rollenabweichendes Verhalten. „Es gibt positive und negative Sanktionen: Die Gesellschaft kann Orden verleihen und Gefängnisstrafen verhängen, Prestige zuerkennen und einzelne Mitglieder der Verachtung preisgeben“ (Dahrendorf 1974: 147). An der Existenz und am Ausmaß sozialer Sanktionen kann man letztlich den Grad der Bedeutung ablesen, die der jeweiligen Rolle in einer Gesellschaft beigemessen wird.

Es ist kein Zufall, dass immer wieder Parallelen zwischen sozialer Rolle und der Schauspieler·innenrolle in einem Theaterstück hergestellt werden. Sowohl die soziale Rolle als auch die Rolle des·der Schauspieler·in ist a) etwas ihrem·ihrer Träger·in Vorgegebenes, etwas außer ihm·ihr Vorhandenes. Die Rolle lässt sich in beiden Fällen b) als ein Komplex von Verhaltensweisen beschreiben, die ihrerseits c) Teil eines Ganzen sind (daran erinnern u. a. die Termini „pars“ [lat.] und „part“ [engl.] für „Rolle“). Sowohl die soziale Rolle als auch die Schauspieler·innenrolle muss d) gelernt werden, damit man sie auch spielen kann, und schließlich kann das Individuum ebenso wie der/die Schauspieler·in e) eine Vielzahl von Rollen lernen und spielen (vgl. dazu Dahrendorf 1974: 135).

Allerdings verweist Dahrendorf selbst auf die Grenzen dieser Schauspiel·innenmetapher: „Hinter allen Rollen, Personen und Masken bleibt der Schauspieler als Eigentliches, von diesen letztlich nicht Affiziertes. Sie sind für ihn unwesentlich. Erst wenn er sie ablegt, ist er er selbst“ (Dahrendorf ebd.). Und genau in dieser Hinsicht täuscht das Bild des Schauspiels und Theaters, wenn man es auf den Menschen und die Gesellschaft überträgt: Gerade die soziale Rolle kann nämlich nicht mit einer „Maske“ gleichgesetzt werden, die der/die Rollenträger·in nur fallen zu lassen braucht, um in seiner/ihrer wahren Identität zu erscheinen. Der Mensch wird eben nicht (wie in einem Schauspiel) nach dem Ende der Vorstellung in die „eigentliche“ Wirklichkeit entlassen, sondern die sozialen Rollen, die ein Individuum spielt, die sozialen Positionen, die es innehat, sind fundamentaler Bestandteil seiner realen Identität.

Die individuelle Identität, das Selbst eines Menschen als eigentlicher Kern seiner Persönlichkeit verbirgt sich nicht hinter allen sozialen Rollen, die dieser spielt (Dreitzel 1980: 51 f.), sondern das Insgesamt all jener sozialen Rollen, die wir ausfüllen und auszufüllen trachten, gerinnt zu einem fundamentalen Teil unserer Persönlichkeit. Diese Auffassung entspricht auch der Position des symbolisch-interaktionistischen Sozialisationskonzeptes.

4.2.3 Sozialisation als symbolisch-interaktionistisches Geschehen

Der theoretische Ansatz des Symbolischen Interaktionismus (S.I.), als dessen geistiger Vater der US-amerikanische Philosoph und Soziologe George Herbert Mead gilt, sieht den Menschen als ein Wesen, das sich in einer aktiven Wechselbeziehung mit seiner Umwelt befindet. Menschen reagieren nicht einfach auf eine Umwelt als eine gleichsam objektive physikalische Gegebenheit, sondern handeln im Hinblick auf ihre Umgebung auf der Basis subjektiver Interpretationsleistungen. Indem sie bestimmte „Dinge“ (Personen, Gegenstände, Zustände, Ideen, Verhaltensweisen etc.) mit Bedeutungen belegen, schaffen sie sich (zusätzlich zu der mehr oder weniger ohne ihr Zutun vorhandenen „natürlichen“ Welt, mit der sie insb. als biologische Organismen verbunden sind) eine (künstliche) symbolische Umwelt, mit der sie v. a. als soziale Wesen verbunden sind.

Die Teilhabe an dieser symbolischen Umwelt befähigt sie zugleich auch dazu, sich selbst bzw. ihr eigenes Verhalten zu interpretieren und damit ihre eigentliche (menschliche) Geburt voranzutreiben: „Das Kind ist kein geborener ‚Mensch’, obwohl es die Fähigkeit besitzt, Mensch zu werden. Es wird dies durch den Erwerb eines Selbst im Kontext der Interaktion mit anderen“ (Stryker 1976: 261). Sozialisation ist im Horizont des S.I. somit als jener Prozess zu begreifen, in dem sich menschliche Wesen im Verlauf sozialer Interaktionen Symbolsysteme aneignen, mit deren Hilfe sie dann nicht nur ihre Umwelt interpretieren, sondern auch „Selbst-Bewusstsein“ erlangen.

•Vom interaktionistischen Aspekt her steht also die Wechselbeziehung „Individuum – Umwelt“ im Blickpunkt. Menschen sind nicht passive Empfänger von Umweltreizen, sondern handeln im Hinblick auf eine Umwelt, „wie sie symbolisch vermittelt ist“ (Stryker 1976: 261), d. h., dass sie die Qualität ihres Handelns an der Bedeutung bemessen, die sie den Dingen zuschreiben – und diese Bedeutung wird aus sozialen Interaktionen abgeleitet bzw. interpretiert: „Die Bedeutung eines Dinges für eine Person ergibt sich aus der Art und Weise, in der andere Personen ihr gegenüber in Bezug auf dieses Ding handeln. Ihre Handlungen dienen der Definition dieses Dinges für diese Person. Für den symbolischen Interaktionismus sind Bedeutungen daher soziale Produkte, sie sind Schöpfungen, die in den und durch die definierbaren Aktivitäten miteinander interagierender Personen hervorgebracht werden (Blumer 2015: 27).21

 

•Vom symbolischen Aspekt her stehen die Bedeutungen im Mittelpunkt, die den Objekten auf der Basis von Verhaltensinterpretationen zugeschrieben werden. Daraus folgt nun in der Tat, dass Objekte – was ihren Sinn(!) betrifft – innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozesses überhaupt erst geschaffen werden (Mead 1968: 117): Indem wir im Hinblick auf unsere Umwelt handeln, kategorisieren wir sie, d. h. wir gliedern gewissermaßen unsere (natürliche) Umgebung in mehr oder weniger bedeutungsvolle Ausschnitte. Diesen Vorgang bezeichnet Mead als Symbolisation. „Symbolisation schafft bislang noch nicht geschaffene Objekte, die außerhalb des Kontextes der gesellschaftlichen Beziehungen, in denen diese Symbolisation erfolgt, nicht existieren würden“ (Mead ebd.). Eben deshalb leben wir Menschen nicht bloß in einer natürlichen, sondern auch – und vor allem – in einer symbolischen Umwelt (Rose 1967: 267).

Diese symbolische Umwelt ist die jeweils kulturspezifische Kategorisierung der natürlichen Umgebung. Jeder Kulturkreis hält bestimmte symbolische Umwelten bereit, die die natürliche Umgebung bereits mehr oder weniger (vor-)strukturieren. Die jeweilige Kultur, als das Insgesamt von Denk- und Handlungsweisen einer Sozietät (Lindesmith/Strauss 1974: 48), in die wir hineingeboren werden, determiniert nicht nur die Auswahl von Objekten (d. h., sie legt fest, was aus der natürlichen Umwelt herausgegriffen und als Objekt erkannt werden kann bzw. soll), sondern sie bestimmt auch in hohem Maße die Qualität der Bedeutungen, welche diese Objekte (bzw. deren Bezeichnungen) für uns symbolisieren.

Wie weiter oben bereits erwähnt: Allein der Umstand, dass wir in der Lage sind, einen bestimmten Bestandteil unserer Umwelt als „Stuhl“ zu klassifizieren (und damit aus der übrigen Umgebung auszugrenzen), setzt bereits die Angehörigkeit (oder Kenntnis) unseres Kulturkreises voraus: Wir müssen erfahren haben, wie andere Menschen im Hinblick auf ein derartiges Objekt handelten (nämlich: darauf sitzen) und dadurch für uns dessen Bedeutung definierten. Erst im Rahmen solcher Handlungskontexte konnten wir die Erfahrung machen, dass uns ein Stuhl die Möglichkeit zur Verrichtung von Tätigkeiten bietet, die im Sitzen ausgeführt werden können etc. Erst infolge derartiger Erfahrungen sind wir in der Lage, das Objekt „Stuhl“ mit Bedeutungen zu belegen, die es für uns zu einem Symbol (z. B. für körperliche Bequemlichkeit, hohe Handwerkskunst, technische Perfektion etc.) gemacht haben.

Selbst-Bewusstsein

Was für die Beziehung zu unserer Umwelt gilt, das gilt auch für die Beziehung zu uns selbst. So wie wir die Bedeutung von Umweltobjekten erst aus der Interpretation des Handelns anderer erfahren bzw. ableiten, genauso interpretieren wir auch das Handeln unserer Mitmenschen im Hinblick auf uns selbst und leiten daraus ab, was wir in den Augen der anderen „bedeuten“, bzw. als was wir für unsere Interaktionspartner erscheinen. „Wie die anderen Objekte, so entwickelt sich auch das ‚Selbst-Objekt’ aus einem Prozess sozialer Interaktion, in dem andere Personen jemandem die eigene Person definieren“ (Blumer 2015: 34).

Selbst-Bewusstsein (im Sinn eines Bewusstseins unserer selbst) entsteht immer dann, wenn wir uns vom Standpunkt unseres Gegenübers aus betrachten und gleichsam für uns selbst zu einem Objekt werden: „Das Individuum wird nur dann zu einem selbstbewussten Subjekt, wenn es zuvor sich selbst zu einem Objekt geworden ist, so wie andere Individuen in seiner Erfahrung als Objekte auftauchen“ (Raiser 1971: 123). Sich selbst zu einem Objekt werden kann man nach Mead aber nur dann, wenn man zuvor ein anderer war, d. h., wenn man in der Lage war, (mental) in die Rolle eines anderen zu schlüpfen und sich aus dessen Perspektive zu betrachten. Diese Fähigkeit zur Übernahme der Rolle eines anderen wird sehr früh erlernt. Zunächst übernimmt das Kind im Spiel die Rolle von ganz konkreten anderen. Das ist die einfachste Möglichkeit, sich selbst gegenüber jemand Anderer zu sein und sich von einer anderen Warte aus zu sehen.

Das Kind schlüpft in die Rolle eines Anderen, indem es ganz einfach vorgibt, jemand Anderer zu sein, z. B. seine Mutter, ein·e Polizist·in, ein Arzt, sein·e Freund·in etc. In einem derartigen Rollenspiel lernt es, die Perspektive des·der jeweils vorgestellten Anderen zu übernehmen (es handelt im Hinblick auf sich selbst) und gewinnt dadurch „eine Orientierung seiner selbst gegenüber, in der es als ‚self’ bestimmter Art erscheint“ (Helle 1977: 85). Es lernt dadurch auch, mit welchen Erwartungen zu rechnen ist, und welche Reaktionen jeweils angemessen erscheinen.

In einem weiteren Stadium ist das Individuum dann bereits in der Lage, sich zur gleichen Zeit vom Standpunkt mehrerer Anderer zu sehen.

Mead verdeutlicht dies beispielhaft anhand des kooperativen Wettspiels, bei dem es im Sinn einer angemessenen Teilnahme darauf ankommt, dass „das Kind die Haltung aller anderen Beteiligten in sich haben muss“ (Mead 1968: 196). Jedes kooperative Spiel „fordert von den einzelnen die Fähigkeit, sich selbst vom Standpunkt mehrerer anderer Positionen aus zu sehen“ (Helle 1977: 86). Im Akzeptieren- und Befolgen-Können von (Spiel-)Regeln schlägt sich genau diese (entwickelte) Fähigkeit nieder, die Haltung aller anderen (am Spiel Beteiligten) einnehmen zu können. Neuere Erkenntnisse über die evolutionären Wurzeln der kooperativen Kommunikation (Tomasello 2011: 183 ff.) bekräftigen diese frühen Beobachtungen von Mead.

Diese Fähigkeit, sich zugleich aus der Perspektive mehrerer Anderer betrachten zu können, bezeichnet Mead als die Fähigkeit, die Rolle des verallgemeinerten (oder: generalisierten) Anderen einnehmen zu können. Sich in die Rolle dieses verallgemeinerten Anderen zu versetzen, meint also den Versuch, gedanklich auf die Haltungen der gesamten Gruppe Bezug zu nehmen. Dies geschieht, indem der Einzelne die Verhaltenserwartungen der jeweiligen Gruppenmitglieder verallgemeinert (generalisiert): Die anderen sind in seinem Denken und Handeln als ein man präsent: Er weiß, was man (üblicherweise) von ihm erwartet, er weiß daher auch, wie man (üblicherweise) in seiner Position bzw. Rolle zu handeln hat. Dadurch wird er sich selbst gegenüber nicht nur zu einem Objekt (und kann sein Verhalten einschätzen bzw. bewerten); er bemisst zugleich als handelndes Subjekt sein zukünftiges Verhalten an den (vermeintlichen) Erwartungen der anderen.

Auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen bedeutet dies, dass die Haltungen und Einstellungen jener Gruppen, denen der Betreffende angehört, zu einer größeren Konfiguration zusammengefasst werden (Cardwell 1976: 119), der er sich gegenübersieht: „Die Haltung dieses verallgemeinerten Anderen ist die der ganzen Gemeinschaft“ (Mead 1968: 196). Der Einzelne sieht sich bzw. sein Verhalten vom Standpunkt all jener Gruppen aus, denen er angehört bzw. anzugehören trachtet.

So kann sich jemand „z. B. als einen Mann betrachten, als jung an Jahren, als Student, als verschuldet, als jemanden, der versucht, Arzt zu werden, als aus einer unbekannten Familie kommend, und so weiter. In allen jenen Gelegenheiten ist er für sich selbst ein Objekt; und er handelt sich selbst gegenüber und leitet sein Handeln anderen gegenüber auf der Grundlage dessen, wie er sich selbst sieht“ (Blumer 2015: 34).

Die Übernahme der Rolle Anderer (zunächst die konkreter Anderer und später die des verallgemeinerten Anderen) erweist sich nunmehr als zentraler Faktor bei der Entwicklung eines Selbst. Denn das Selbst einer Person ist nichts anderes als „die Weise, wie sie (die Person) sich selbst ihre Beziehungen zu anderen Personen in einem sozialen Prozess beschreibt“. Es „entsteht schrittweise und kontinuierlich und wird typischerweise immer komplexer, wenn das Kind mit einer größeren Vielfalt von Personen […] in Kontakt kommt. Konfrontiert mit unterschiedlichen Erwartungen, kann es durch Rollenübernahme sein eigenes Verhalten aus einer Vielzahl von Perspektiven22 betrachten und beurteilen und sowohl mit Bezug auf sich selbst als auch mit Bezug auf andere handeln“ (Stryker 1976: 263, 265 f.).

Das Selbst erwächst also aus bestimmten Erfahrungen, die man in der Begegnung mit Anderen macht.23 Teile derartiger Erfahrungen verdichten sich schließlich zu „Etikettierungen“ (Cardwell 1976: 116), mit denen wir uns gewissermaßen selbst versehen, indem wir die Reaktionen Anderer auf unser eigenes Verhalten interpretieren. Charles Cooley spricht in diesem Zusammenhang vom sogenannten Spiegel-Ich: Danach erlangen die Haltungen und Reaktionen Anderer auf „reflektierende“ Art und Weise Bedeutung für unsere Selbstdefinition. „Die Haltungen Anderer werden so reflektiert, als ob wir in einen Spiegel blickten und uns aufgrund dessen, was wir beobachten, selbst beurteilen“ (Cardwell 1976: 121). Die Vielzahl derartiger Spiegel steht gleichsam für die Vielzahl sozialer Interaktionen, im Rahmen derer wir jeweils „Bestandteile“ unseres Selbst erkennen bzw. zu erkennen glauben.24

Das I und das Me

In diesem Sinn kann man sich das Selbst „als aus einem Satz unterschiedlicher Identitäten bestehend vorstellen. Identitäten sind verinnerlichte positionale Bezeichnungen bzw. Kennzeichnungen, die sich in sozialer Interaktion behaupten und bewährt haben. Sie sind diejenigen sozial anerkannten Personenkategorien, die man in einer Gesellschaft sein kann“ (Stryker 1976: 267). Wie das Selbst insgesamt, genauso dürfen aber auch dessen „Identitäts-Bestandteile“ nicht losgelöst vom jeweils vorhandenen sozialen Umraum gesehen werden. Nach Mead kann es nicht einmal eine scharfe Trennungslinie zwischen „eigenen“ und „fremden“ Identitäten geben, weil die jeweilige Identität des einzelnen „nur in Bezug zu den Identitäten anderer Mitglieder seiner gesellschaftlichen Gruppe“ (Mead 1968: 206) existiert: „Das Verhältnis des Menschen zu sich selbst impliziert sein Verhältnis zu anderen, seine Identität impliziert seine Sozialität“ (Raiser 1971: 124). Stets bedarf es mithin sozialer Erfahrungen, in denen der Mensch lernt, sich selbst auf Basis seiner Interpretation der Reaktionen Anderer auf sein Verhalten zu definieren: „Er kann, mit anderen Worten, nur durch die Sozialisation zu einer Selbstdefinition gelangen“ (Cardwell 1976: 115).25

Allerdings ist bisher nur eine Dimension des Selbst bzw. jeweils spezifischer Identitäten angesprochen, denn Mead sieht das Selbst in zwei Sphären strukturiert: in die des I und in die des Me. Letzteres repräsentiert den „internalisierten Anderen“ (Raiser 1971: 129), es entsteht (wie bisher beschrieben), wenn man sich selbst aus der Perspektive des/der Anderen betrachtet und sich auf diese Weise seiner (jeweils spezifischen) Identität bewusst wird. Das Me ist somit „dasjenige, was dem Subjekt im Selbstbewusstsein erscheint“, es ist – vermittelt über den Vorgang der Übernahme der Rolle des Anderen – „die virtuell eingenommene Perspektive Alters von Egos Handeln“ (Geulen 1977: 117). Man kann im Me auch „das Äquivalent zu den sozialen Rollen“ (Stryker 1976: 260) sehen, die ein Mensch im Verlaufe seiner Lebensgeschichte bekleidet (hat). Demgegenüber soll das I die „Reaktion des Organismus auf die Haltungen anderer“ (Mead 1968: 218) verkörpern; es stellt die Antwort des Organismus auf die Haltungen und Einstellungen der Anderen dar. „Das I ist die je spontane Instanz im Handeln. Es ist als solches nicht unmittelbar objektivierbar – weil es durch Objektivierung ipso facto schon zu einem Me würde –, und daher auch prinzipiell nicht genau vorhersagbar; es führt Neues in das Handeln ein und ist der Grund für das subjektive Bewusstsein von Freiheit“ (Geulen 1977: 117).

Das Selbst bzw. die je spezifische Identität ist für Mead nun ein Prozess, der aus diesen beiden unterscheidbaren Phasen besteht (Mead 1968: 221). Dieser Prozess ist nie endgültig zu Ende, deshalb ist das Selbst auch nicht ein eindeutig beobachtbares Phänomen (Raiser 1971: 135), es erscheint vielmehr als ein kontinuierliches Substrat von Identitäten, die im Rahmen der (durch konkretes Handeln aktualisierten) Wechselbeziehungen von I und Me ständig erfahren werden. Damit erweist sich der Erwerb eines Selbst im Horizont des S.I. als ein lebenslang andauernder Prozess, der soziale Beziehungen zu anderen Menschen impliziert: „Selbstsein und Interaktion mit anderen Individuen bedingen sich gegenseitig“ (Raiser 1971: 124).

 

Exkurs: Cultural Studies

An dieser Stelle passt der Hinweis auf eine nicht ganz unähnliche Forschungsperspektive, die sich Ende der 1960er Jahre in Großbritannien unter anderem um den britischen, vom Marxismus inspirierten Soziologen Stuart Hall (Winter 2011) von Birmingham aus formierte. Die Rede ist von den sogenannten Cultural Studies (Hepp/Winter 2008, Marchart 2018, Renger/Wimmer 2014), die sich ebenfalls mit dem Entstehen von Identität befassen. Auch hier ist Identität nur plural vorstellbar. Jedes Individuum wird von einer Vielzahl von Identitäten gleichsam „durchkreuzt“ (Marchart 2018: 177) und keine dieser Identitäten gehört ihm alleine – im Gegenteil: Identität ist immer kollektiv, sie ist gesellschaftlich bestimmt und sie ist immer auch umkämpft. Zwischendurch „stabilisiert sie sich durch Abgrenzung von anderen Identitäten, was unausweichlich die Frage des Ausschlusses, der Macht und des Widerstands aufwirft“ (ebd.).

Der Cultural Studies-Ansatz ist ein politisches, „auf soziale Veränderung zielendes Projekt“ (Renger/Wimmer: 2014: 522) – nicht zuletzt vor dem biografischen Hintergrund seiner Gründer in der Tradition der 1960er Jahre in Birmingham. Damals hatten Raymond Williams und Richard Hoggart (beides britische Arbeiterkinder) sowie Stuart Hall (ein Stipendiat aus Jamaika) als „scholarship-boys“ Zugang zu den englischen Eliteuniversitäten bekommen, wo ihnen die Konfrontation mit der englischen Oberklasse ihre eigene soziale Identität bewusst machte und den Blick für die Kultur der eigenen Klasse schärfte (Marchart 2018: 29). Aus der Konfrontation zwischen proletarischer Herkunftskultur und Elitenkultur erwuchs das Ziel, die Arbeiterkultur zu rehabilitieren und die Lage der Arbeiterklasse durch Erwachsenenbildung zu verbessern.

Cultural Studies und Symbolischer Interaktionismus berühren sich dort, wo es um das Konzept der Bedeutungskonstruktion geht. Was die Medienrezeption betrifft, so kommt dies in dem vielzitierten encoding-decoding-Modell zum Ausdruck. Danach impliziert jeder medial vermittelte Inhalt verschiedene Möglichkeiten der Dekodierung (Lesarten)26, was dem Publikum daher einen großen Interpretationsspielraum eröffnet (vgl. Marchart 2018: 143 ff., Winter 2011: 473 f.) und mannigfache Chancen zur Ausbildung bzw. Veränderung der eigenen Identität(en) bietet.27

4.2.4 Selbst-Genese und Kommunikation

Versucht man nunmehr, den Stellenwert von Kommunikation bei der Genese des Selbst einzuschätzen, so wird man abermals auf die sozialen Interaktionsprozesse verwiesen, in denen derartige Identitäten entstehen: Auch Kommunikation – als ein (per definitionem) soziales Geschehen – bedarf ja stets mindestens zweier im Hinblick aufeinander (inter-)agierender Partner·innen. Es ist somit die Frage nach der Bedeutung kommunikativer Interaktionsabläufe zu stellen; es ist zu fragen, welchen Stellenwert (beim Zustandekommen jeweils spezifischer Identitäten) jene sozialen Verhaltensweisen besitzen, die auf das Mitteilen von Bedeutungsinhalten ausgerichtet sind.

Die zentrale Bedeutung kommunikativer Interaktionsprozesse für die Genese des oben beschriebenen Selbst wird einsehbar, wenn man sich Meads Konzept der Geste vergegenwärtigt. In dieser Geste und ihrer Funktion im Rahmen der sozialen Interaktion sieht Mead nämlich „den Schlüssel zur Erklärung der Entstehung von Geist, Bewusstsein und Identität aus einfachen Prozessen der Kommunikation“ (Raiser 1971: 99). Die Geste stellt für Mead nicht nur die Anfangsstufe jeglichen Sozialverhaltens dar, er sieht in ihr auch jenes Phänomen, das später zum Symbol wird (Mead 1968: 81) und damit symbolisch vermittelte Interaktion, also – Humankommunikation – überhaupt erst möglich macht. Mittlerweile spricht Vieles dafür, dass Zeigegesten und Gebärden die entscheidenden Übergangspunkte in der Evolution von der animalischen zur menschlichen Kommunikation waren (vgl. Tomasello 2011: 68 ff.; 2020: 147 ff.).

Unter einer Geste versteht Mead jede Regung eines Organismus, wie etwa eine Bewegung (= motorische Geste), einen Gesichtsausdruck (= mimische Geste) oder einen Laut (= vokale Geste), die als Reiz auf Andere, in den gleichen Verhaltens- oder Handlungskontext einbezogene Lebewesen wirkt (vgl. dazu Mead 1968: 52, 81).28 Eine solche Interaktion via Gesten ist (noch) auf der unbewussten Ebene anzusiedeln, sie ist daher auch für die frühen Wechselbeziehungen zwischen Eltern und Kind kennzeichnend.29 In dieser noch unbewussten Übermittlung von Gesten (seitens) des Kleinkindes sieht Mead nun aber die frühesten Anfänge von Kommunikation (ebd.: 109). Indem nämlich die Gesten des Kindes (in ihrer Funktion als Reize für die das Kind umgebenden Erwachsenen) zu Reaktionen der Erwachsenen führen, gewinnen sie Bedeutung für das Kind: Die Reaktion der Erwachsenen auf die Geste des Kindes ist die Interpretation dieser Geste für das Kind (vgl. Mead 1968: 120).

So ist z. B. das Schreien eines Kindes normalerweise ein Auslöser für einen ermutigenden oder beruhigenden Antwortlaut der Eltern (begleitet von schützenden Bewegungen in Richtung auf das Kind). Durch diese Reaktion „definieren“ die Eltern dem Kind die Bedeutung, die sie seinem Laut beimessen; eine daraufhin folgende Veränderung bzw. Abschwächung im Schrei des Kindes bestätigt gegebenenfalls den Eltern ihre Interpretation des ursprünglichen Schreies als „Hilferuf“ oder Ähnliches. Den Vorgang, in dem die (vom Kind) noch unbewusst gesetzte Geste der Angst die entsprechende Geste der Beruhigung oder des Schutzes (seitens der Eltern) ausgelöst hat, kann man als fortlaufenden Anpassungsvorgang dieser Individuen aneinander begreifen, im Rahmen dessen die jeweiligen Gesten, infolge der wechselseitigen Reaktionen, die sie ausgelöst hatten, Bedeutung erlangten (siehe dazu: Mead 1968: 84 f. und 414 f.).

Solcherart interpretierte Gesten können schließlich zum gezielten Ausdruck der jeweiligen Bedeutung bzw. zum gezielten Hervorrufen der erlernten Reaktion (des Anderen) verwendet werden. Löst eine verwendete Geste nun in beiden miteinander interagierenden Individuen das Gleiche aus, dann spricht Mead von einem signifikanten Symbol (1968: 85), welches fortan (zwischen diesen Interaktionspartnern) symbolische Kommunikation möglich macht. Eine derartige – sich signifikanter Symbole bedienende – Kommunikation zeichnet sich nach Mead aber auch dadurch aus, dass sie „nicht nur an andere, sondern auch an das Subjekt selbst gerichtet ist“ (1968: 181). Das soll heißen, dass wir, wenn wir kommunikativ handeln, in uns selbst auch jene Bedeutungen Haltungen, Einstellungen, Ideen etc.) wachrufen, die wir im Bewusstsein der anderen Individuen (an die wir unser kommunikatives Handeln richten) aktualisieren (wollen). Im Falle der vokalen Geste ist damit der Zustand erreicht, den wir Sprache nennen. Sprache besteht (hauptsächlich) aus „jenen vokalen Gesten, die dazu neigen, im einzelnen die auch beim anderen ausgelösten Haltungen hervorzurufen“ (Mead 1968: 203). Dies bedeutet jedoch weiterhin, dass wir mit Hilfe signifikanter Symbole zugleich auch die (vermeintliche) Haltung des/der Anderen uns selbst (bzw. unserem Verhalten) gegenüber einnehmen, uns also damit zugleich aus der Perspektive des/der Anderen betrachten und damit für uns selbst zu einem Objekt werden!