Der Mann ohne Eigenschaften

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Und es ist jedesmal wie ein Wunder, wenn nach einer solchen flach dahinsinkenden Zeit plötzlich ein kleiner Anstieg der Seele kommt, wie es damals geschah. Aus dem ölglatten Geist der zwei letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber erhoben. Niemand wußte genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. Darum sagte jeder davon, was ihm paßte. Aber überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen. Allenthalben war plötzlich der rechte Mann zur Stelle; und was so wichtig ist, Männer mit praktischer Unternehmungslust fanden sich mit den geistig Unternehmungslustigen zusammen. Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich. Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich Widersprüche und höchst verschiedene Schlachtrufe, aber sie hatten einen gemeinsamen Atem; würde man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen. Diese Illusion, die ihre Verkörperung in dem magischen Datum der Jahrhundertwende fand, war so stark, daß sich die einen begeistert auf das neue, noch unbenutzte Jahrhundert stürzten, indes die anderen sich noch schnell im alten wie in einem Hause gehen ließen, aus dem man ohnehin auszieht, ohne daß sie diese beiden Verhaltensweisen als sehr unterschiedlich gefühlt hätten.

Wenn man nicht will, braucht man also diese vergangene »Bewegung« nicht zu überschätzen. Sie vollzog sich ohnehin nur in jener dünnen, unbeständigen Menschenschicht der Intellektuellen, die von den heute Gott sei Dank wieder obenauf gekommenen Menschen mit unzerreißbarer Weltanschauung, trotz aller Unterschiede dieser Weltanschauung, einmütig verachtet wird, und wirkte nicht in die Menge. Aber immerhin, wenn es auch kein geschichtliches Ereignis geworden ist, ein Ereignislein war es doch, und die beiden Freunde Walter und Ulrich hatten, als sie jung waren, gerade noch einen Schimmer davon erlebt. Durch das Gewirr von Glauben ging damals etwas hindurch, wie wenn viele Bäume sich in einem Wind beugen, ein Sekten- und Besserergeist, das selige Gewissen eines Auf- und Anbruchs, eine kleine Wiedergeburt und Reformation, wie nur die besten Zeiten es kennen, und wenn man damals in die Welt eintrat, fühlte man schon an der ersten Ecke den Hauch des Geistes um die Wangen.

16

Eine geheimnisvolle Zeitkrankheit

Da waren sie also wirklich vor gar nicht so langer Zeit zwei junge Männer gewesen, – dachte Ulrich, als er wieder allein war – denen die größten Erkenntnisse seltsamerweise nicht nur zuerst und vor allen anderen Menschen einfielen, sondern noch dazu gleichzeitig, denn der eine brauchte nur den Mund zu öffnen, um etwas Neues zu sagen, so machte der andere schon die gleiche ungeheure Entdeckung. Es ist etwas Sonderbares um Jugendfreundschaften; sie sind wie ein Ei, das seine herrliche Vogelzukunft schon im Dotter fühlt, aber gegen die Welt kehrt es noch nichts heraus als eine etwas ausdruckslose Eilinie, die man von keiner anderen unterscheiden kann. Er sah deutlich das Knaben- und Studentenzimmer vor sich, wo sie einander trafen, wenn er von seinen ersten Ausflügen in die Welt für ein paar Wochen zurückgekehrt war. Walters mit Zeichnungen, Notizen und Notenblättern bedeckten Schreibtisch, der den Glanz der Zukunft eines berühmten Mannes vorausstrahlte, und das schmale Büchergestell gegenüber, an dem Walter zuweilen im Eifer wie Sebastian am Pfahle stand, Lampenlicht auf dem schönen Haar, das Ulrich immer heimlich bewundert hatte. Nietzsche, Altenberg, Dostojewski oder wen immer sie gerade gelesen hatten, mußten sich bescheiden, auf der Erde oder dem Bett liegen zu bleiben, wenn sie nicht mehr gebraucht wurden und der Strom des Gesprächs die kleinliche Störung, sie ordentlich zurückzustellen, nicht duldete. Die Überhebung der Jugend, der die größten Geister gerade gut genug sind, um sich ihrer nach Belieben zu bedienen, kam ihm in diesem Augenblick wunderlich hold vor.

Er suchte sich an die Gespräche zu erinnern. Sie waren wie Traum, wenn man im Erwachen noch die letzten Gedanken des Schlafs erwischt. Und er dachte mit einem leichten Staunen: wenn wir damals Behauptungen aufstellten, so hatten sie auch noch einen anderen Zweck als den, richtig zu sein; eben den, uns zu behaupten! – So viel stärker war in der Jugend der Trieb, selbst zu leuchten, als der, im Lichte zu sehen; er fühlte die Erinnerung an dieses wie auf Strahlen schwebende Gefühl der Jugend als einen schmerzlichen Verlust.

Es kam Ulrich vor, daß er beim Beginn der Mannesjahre in ein allgemeines Abflauen geraten war, das trotz gelegentlicher, rasch sich beruhigender Wirbel zu einem immer lustloseren, wirren Pulsschlag verrann. Es ließ sich kaum sagen, worin diese Veränderung bestand. Gab es mit einemmal weniger bedeutende Männer? Keineswegs! Und überdies, es kommt auf sie gar nicht an; die Höhe einer Zeit hängt nicht von ihnen ab, zum Beispiel hat weder die Ungeistigkeit der Menschen der Sechziger- und Achtzigerjahre das Werden Hebbels und Nietzsches zu unterdrücken vermocht, noch einer von diesen die Ungeistigkeit seiner Zeitgenossen. Stockte das allgemeine Leben? Nein; es war mächtiger geworden! Gab es mehr lähmende Widersprüche als früher? Es konnte kaum mehr davon geben! Waren früher keine Verkehrtheiten begangen worden? In Mengen! Unter uns gesagt: Man warf sich für schwache Männer ins Zeug und ließ starke unbeachtet; es kam vor, daß Dummköpfe eine Führer- und große Begabungen eine Sonderlingsrolle spielten; der deutsche Mensch las unbekümmert um alle Geburtswehen, die er als dekadente und krankhafte Übertreibungen bezeichnete, seine Familienzeitschriften weiter und besuchte in unvergleichlich größeren Mengen die Glaspaläste und Künstlerhäuser als die Sezessionen; die Politik schon gar kehrte sich nicht im geringsten an die Anschauungen der neuen Männer und ihrer Zeitschriften, und die öffentlichen Einrichtungen blieben gegen das Neue wie von einem Pestkordon umzogen. – Könnte man nicht geradezu sagen, daß seither alles besser geworden sei? Menschen, die früher bloß an der Spitze kleiner Sekten gestanden haben, sind inzwischen alte Berühmtheiten geworden; Verleger und Kunsthändler reich; Neues wird immer weiter gegründet; alle Welt besucht sowohl die Glaspaläste wie die Sezessionen und die Sezessionen der Sezessionen; die Familienzeitschriften haben sich die Haare kurz schneiden lassen; die Staatsmänner zeigen sich gern in den Künsten der Kultur beschlagen, und die Zeitungen machen Literaturgeschichte. Was ist also abhanden gekommen?

Etwas Unwägbares. Ein Vorzeichen. Eine Illusion. Wie wenn ein Magnet die Eisenspäne losläßt und sie wieder durcheinandergeraten. Wie wenn Fäden aus einem Knäuel herausfallen. Wie wenn ein Zug sich gelockert hat. Wie wenn ein Orchester falsch zu spielen anfängt. Es hätten sich schlechterdings keine Einzelheiten nachweisen lassen, die nicht auch früher möglich gewesen wären, aber alle Verhältnisse hatten sich ein wenig verschoben. Vorstellungen, deren Geltung früher mager gewesen war, wurden dick. Personen ernteten Ruhm, die man früher nicht für voll genommen hätte. Schroffes milderte sich, Getrenntes lief wieder zusammen, Unabhängige zollten dem Beifall Zugeständnisse, der schon gebildete Geschmack erlitt von neuem Unsicherheiten. Die scharfen Grenzen hatten sich allenthalben verwischt, und irgendeine neue, nicht zu beschreibende Fähigkeit, sich zu versippen, hob neue Menschen und Vorstellungen empor. Die waren nicht schlecht, gewiß nicht; nein, es war nur ein wenig zu viel Schlechtes ins Gute gemengt, Irrtum in die Wahrheit, Anpassung in die Bedeutung. Es schien geradezu einen bevorzugten Prozentsatz dieser Mischung zu geben, der in der Welt am weitesten kam; eine kleine, eben ausreichende Beimengung von Surrogat, die das Genie erst genial und das Talent als Hoffnung erscheinen ließ, so wie ein gewisser Zusatz von Feigen- oder Zichorienkaffee nach Ansicht mancher Leute dem Kaffee erst die rechte gehaltvolle Kaffeehaftigkeit verleiht, und mit einemmal waren alle bevorzugten und wichtigen Stellungen des Geistes von solchen Menschen besetzt, und alle Entscheidungen fielen in ihrem Sinne. Man kann nichts dafür verantwortlich machen. Man kann auch nicht sagen, wie alles so geworden ist. Man kann weder gegen Personen noch gegen Ideen oder bestimmte Erscheinungen kämpfen. Es fehlt nicht an Begabung noch an gutem Willen, ja nicht einmal an Charakteren. Es fehlt bloß ebensogut an allem wie an nichts; es ist, als ob sich das Blut oder die Luft verändert hätte, eine geheimnisvolle Krankheit hat den kleinen Ansatz zu Genialem der früheren Zeit verzehrt, aber alles funkelt von Neuheit, und zum Schluß weiß man nicht mehr, ob wirklich die Welt schlechter geworden sei oder man selbst bloß älter. Dann ist endgültig eine neue Zeit gekommen.

So hatte sich also die Zeit geändert, wie ein Tag, der strahlend blau beginnt und sich sacht verschleiert, und hatte nicht die Freundlichkeit besessen, auf Ulrich zu warten. Er vergalt es seiner Zeit damit, daß er die Ursache der geheimnisvollen Veränderungen, die ihre Krankheit bildeten, indem sie das Genie aufzehrten, für ganz gewöhnliche Dummheit hielt. Durchaus nicht in einem beleidigenden Sinn. Denn wenn die Dummheit nicht von innen dem Talent zum Verwechseln ähnlich sähe, wenn sie außen nicht als Fortschritt, Genie, Hoffnung, Verbesserung erscheinen könnte, würde wohl niemand dumm sein wollen, und es würde keine Dummheit geben. Zumindest wäre es sehr leicht, sie zu bekämpfen. Aber sie hat leider etwas ungemein Gewinnendes und Natürliches. Wenn man zum Beispiel findet, daß ein Öldruck eine kunstvollere Leistung sei als ein handgemaltes Ölbild, so steckt eben auch eine Wahrheit darin, und sie ist sicherer zu beweisen als die, daß van Gogh ein großer Künstler war. Ebenso ist es sehr leicht und lohnend, als Dramatiker kräftiger als Shakespeare oder als Erzähler ausgeglichener als Goethe zu sein, und ein rechter Gemeinplatz hat immerdar mehr Menschlichkeit in sich als eine neue Entdeckung. Es gibt schlechterdings keinen bedeutenden Gedanken, den die Dummheit nicht anzuwenden verstünde, sie ist allseitig beweglich und kann alle Kleider der Wahrheit anziehen. Die Wahrheit dagegen hat jeweils nur ein Kleid und einen Weg und ist immer im Nachteil.

 

Nach einer Weile hatte Ulrich aber in Verbindung damit einen wunderlichen Einfall. Er stellte sich vor, der große Kirchenphilosoph Thomas von Aquino, gestorben 1274, nachdem er die Gedanken seiner Zeit unsäglich mühevoll in beste Ordnung gebracht hatte, wäre damit noch gründlicher in die Tiefe gegangen und soeben erst fertig geworden; nun trat er, durch besondere Gnade jung geblieben, mit vielen Folianten unter dem Arm aus seiner rundbogigen Haustür, und eine Elektrische sauste ihm an der Nase vorbei. Das verständnislose Staunen des Doctor universalis, wie die Vergangenheit den berühmten Thomas genannt hat, belustigte ihn. Ein Motorradfahrer kam die leere Straße entlang, oarmig, obeinig donnerte er die Perspektive herauf. Sein Gesicht hatte den Ernst eines mit ungeheurer Wichtigkeit brüllenden Kindes. Ulrich erinnerte sich dabei an das Bild einer berühmten Tennisspielerin, das er vor einigen Tagen in einer Zeitschrift gesehen hatte; sie stand auf der Zehenspitze, hatte das Bein bis über das Strumpfband entblößt und schleuderte das andere Bein gegen ihren Kopf, während sie mit dem Schläger hoch ausholte, um einen Ball zu nehmen; dazu machte sie das Gesicht einer englischen Gouvernante. In dem gleichen Heft war eine Schwimmerin abgebildet, wie sie sich nach dem Wettkampf massieren ließ; zu Füßen und zu Häupten stand ihr je eine ernst zusehende Frauensperson in Straßenkleidung, während sie nackt auf einem Bett am Rücken lag, ein Knie in einer Stellung der Hingabe hochgezogen, und der Masseur daneben hatte die Hände darauf ruhen, trug einen Ärztekittel und blickte aus der Aufnahme heraus, als wäre dieses Frauenfleisch enthäutet und hinge auf einem Haken. Solche Dinge begann man damals zu sehen, und irgendwie muß man sie anerkennen, so wie man die Hochbauten anerkennt und die Elektrizität. »Man kann seiner eignen Zeit nicht böse sein, ohne selbst Schaden zu nehmen« fühlte Ulrich. Er war auch jederzeit bereit, alle diese Gestaltungen des Lebendigen zu lieben. Was er niemals zustande brachte, war bloß, sie restlos, so wie es das soziale Wohlgefühl erfordert, zu lieben; seit langem blieb ein Hauch von Abneigung über allem liegen, was er trieb und erlebte, ein Schatten von Ohnmacht und Einsamkeit, eine universale Abneigung, zu der er die ergänzende Neigung nicht finden konnte. Es war ihm zuweilen geradeso zumute, als wäre er mit einer Begabung geboren, für die es gegenwärtig kein Ziel gab.

17

Wirkung eines Mannes ohne Eigenschaften auf einen Mann mit Eigenschaften

Während Ulrich sich mit Clarisse unterhielt, hatten die beiden nicht bemerkt, daß die Musik hinter ihnen zeitweilig aussetzte. Walter trat dann ans Fenster. Er konnte die beiden nicht sehn, aber er fühlte, daß sie knapp vor der Grenze seines Gesichtsfelds standen. Eifersucht quälte ihn. Gemeiner Rausch schwer sinnlicher Musik lockte ihn zurück. Das Klavier in seinem Rücken stand offen wie ein Bett, das ein Schläfer zerwühlt hat, der nicht aufwachen mag, um der Wirklichkeit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Die Eifersucht eines Gelähmten, der die Gesunden schreiten fühlt, peinigte ihn, und er brachte es nicht über sich, sich ihnen anzuschließen; denn sein Schmerz bot keine Möglichkeit, sich gegen sie zu verteidigen.

Wenn Walter sich morgens erhob und ins Büro eilen mußte, wenn er tagsüber mit Menschen sprach und wenn er nachmittags zwischen ihnen nach Hause fuhr, fühlte er, daß er ein bedeutender Mensch sei und zu Besonderem berufen. Er glaubte dann alles anders zu sehen; ihn konnte das ergreifen, woran andere achtlos vorbeigingen, und wo andere achtlos nach einem Ding griffen, dort war für ihn schon die Bewegung des eigenen Arms voll geistiger Abenteuer oder in sich selbst verliebter Lähmung. Er war empfindsam, und sein Gefühl war immer bewegt von Grübeleien, Gruben, wogenden Tälern und Bergen; er war niemals gleichgültig, sondern sah in allem ein Glück oder ein Unglück und hatte dadurch stets die Gelegenheit zu lebhaften Gedanken. Solche Menschen üben eine ungewöhnliche Anziehung auf andere aus, weil sich die moralische Bewegung, in der sie sich unausgesetzt befinden, diesen mitteilt; in ihren Gesprächen nimmt alles eine persönliche Bedeutung an, und weil man sich im Verkehr mit ihnen unausgesetzt mit sich selbst beschäftigen darf, bereiten sie ein Vergnügen, das man sonst nur gegen Honorar bei einem Psychoanalytiker oder Individualpsychologen gewinnt, noch dazu mit dem Unterschied, daß man sich dort krank fühlt, während Walter den Menschen dazu verhalf, sich aus Gründen, die ihnen bisher entgangen waren, sehr wichtig vorzukommen. Mit dieser Eigenschaft, geistige Selbstbeschäftigung zu verbreiten, hatte er auch Clarisse erobert und mit der Zeit alle Mitbewerber aus dem Feld geschlagen; er konnte, weil ihm alles zu ethischer Bewegung wurde, überzeugend von der Unmoral des Ornaments, der Hygiene der glatten Form und dem Bierdunst der Wagnermusik sprechen, wie es dem neuen Kunstgeschmack entsprach, und selbst seinen zukünftigen Schwiegerpapa, der ein Malergehirn wie ein Pfauenrad hatte, setzte er damit in Schrecken. Es stand also außer Zweifel, daß Walter auf Erfolge zurückblicken durfte.

Trotzdem, sobald er voll von Eindrücken und Plänen, die vielleicht so reif und neu waren wie nie vorher, zu Hause anlangte, ging jetzt eine entmutigende Veränderung mit ihm vor. Er brauchte nur eine Leinwand auf die Staffelei zu stellen oder ein Papier auf den Tisch zu legen, so war dies das Zeichen einer fürchterlichen Flucht aus seinem Herzen. Sein Kopf blieb klar, und der Plan darin schwebte gleichsam in einer sehr durchsichtigen und deutlichen Luft, ja der Plan spaltete sich und wurde zu zwei oder mehr Plänen, die um den Vorrang hätten streiten können; aber die Verbindung vom Kopf zu den ersten Bewegungen, die zur Ausführung notwendig gewesen wären, war wie abgeschnitten. Walter konnte sich nicht entschließen, auch nur einen Finger zu rühren. Er stand einfach nicht von dem Platz auf, wo er gerade saß, und seine Gedanken glitten an der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, wie Schnee ab, der im Augenblick des Falls zergeht. Er wußte nicht, wovon die Zeit ausgefüllt wurde, aber ehe er sich dessen versah, ward es Abend, und da er nach einigen solchen Erfahrungen schon mit der Angst vor ihnen nach Hause kam, fingen ganze Wochenreihen zu gleiten an und vergingen wie ein wüster Halbschlaf. Durch Aussichtslosigkeit in allen seinen Entscheidungen und Bewegungen verlangsamt, litt er an bitterer Traurigkeit, und seine Unfähigkeit wurde zu einem Schmerz, der oft wie Nasenbluten hinter seiner Stirne saß, sobald er sich entschließen wollte, etwas zu unternehmen. Walter war furchtsam, und die Erscheinungen, die er an sich wahrnahm, hinderten ihn nicht nur an der Arbeit, sondern sie ängstigten ihn auch sehr; denn sie waren scheinbar so unabhängig von seinem Willen, daß sie oft auf ihn den Eindruck eines beginnenden geistigen Verfalls machten.

Aber während sein Zustand im Lauf des letzten Jahres immer schlimmer geworden war, hatte er zugleich eine wunderbare Hilfe an einem Gedanken gefunden, den er früher nie genug geschätzt hatte. Dieser Gedanke war kein anderer als der, daß das Europa, in dem er zu leben gezwungen war, rettungslos entartet sei. In Zeitaltern, denen es äußerlich gut geht, während sie innerlich jenes Zurücksinken durchmachen, das wahrscheinlich jede Angelegenheit und darum auch die geistige Entwicklung erfährt, wenn man ihr nicht besondere Anstrengungen und neue Ideen zuwendet, müßte es wohl eigentlich die nächstliegende Frage sein, was man dagegen unternehmen könne; aber das Gewirr von klug, dumm, gemein, schön ist gerade in solchen Zeiten so dicht und verwickelt, daß es offenbar vielen Menschen einfacher erscheint, an ein Geheimnis zu glauben, weshalb sie einen unaufhaltsamen Niedergang von irgendetwas verkünden, das sich dem genauen Urteil entzieht und von feierlicher Unschärfe ist. Es ist dabei im Grunde ganz gleich, ob das die Rasse, die Pflanzenrohkost oder die Seele sein soll; denn wie bei jedem gesunden Pessimismus kommt es nur darauf an, daß man etwas Unentrinnbares hat, woran man sich halten kann. Auch Walter, obgleich er in besseren Jahren über solche Lehren zu lachen vermocht hatte, kam, als er es selbst mit ihnen zu versuchen begann, bald auf ihre großen Vorteile. War bis dahin er arbeitsunfähig gewesen und hatte sich schlecht gefühlt, so war jetzt die Zeit unfähig und er gesund. Sein Leben, das zu nichts geführt hatte, fand mit einemmal eine ungeheure Erklärung, eine Rechtfertigung in säkularen Ausmaßen, die seiner würdig war; ja es nahm geradezu die Art eines großen Opfers an, wenn er den Stift oder die Feder in die Hand nahm und wieder weglegte.

Jedoch hatte Walter noch mit sich zu kämpfen, und Clarisse quälte ihn. Für zeitkritische Gespräche war sie nicht zu haben; sie glaubte schnurstracks an das Genie. Was das sei, wußte sie nicht; aber ihr ganzer Körper begann zu zittern und sich zu spannen, wenn davon die Rede war; man fühlt es oder man fühlt es nicht, das war ihr einziges Beweisstück. Immer blieb sie das kleine, grausame, fünfzehnjährige Mädchen für ihn. Niemals hatte sie sein Fühlen ganz verstanden oder hatte er sie beherrschen können. Aber so kalt und hart, wie sie war, und dann wieder so begeistert, mit ihrem substanzlos flammenden Willen, besaß sie eine geheimnisvolle Fähigkeit, auf ihn einzuwirken, als ob Stöße durch sie hindurch aus einer Richtung kämen, die in den drei Dimensionen des Raums nicht unterzubringen war. Es grenzte manchmal ans Unheimliche. Namentlich wenn sie gemeinsam musizierten, fühlte er das. Clarissens Spiel war hart und farblos, einem ihm fremden Gesetz der Erregung gehorchend; wenn die Körper bis zum Durchschimmern der Seele glühten, kam es erschreckend zu ihm herüber. Etwas Unbestimmbares riß sich dann los in ihr und drohte mit ihrem Geist davonzufliegen. Es kam aus einem geheimen Hohlraum in ihrem Wesen, den man ängstlich verschlossen halten mußte: er wußte nicht, woran er das fühlte und was es war; aber es peinigte ihn mit einer unaussprechlichen Angst und dem Bedürfnis, etwas Entscheidendes dagegen zu tun, was er nicht vermochte, denn niemand außer ihm bemerkte etwas davon.

Es war ihm halbklar bewußt, während er durch das Fenster Clarisse zurückkehren sah, daß er dem Bedürfnis, schlecht von Ulrich zu sprechen, wieder nicht werde widerstehen können. Ulrich war zur Unzeit zurückgekommen. Er schädigte Clarisse. Er verschlimmerte ruchlos in ihr, woran Walter sich nicht zu rühren getraute, die Kaverne des Unheils, das Arme, Kranke, unselig Genialische in Clarisse, den geheimen leeren Raum, wo es an Ketten riß, die eines Tags ganz nachlassen konnten. Nun stand sie barhaupt vor ihm, eben eingetreten, den Gartenhut in der Hand, und er sah sie an. Ihre Augen waren spöttisch, klar, zärtlich; vielleicht ein wenig zu klar. Zuweilen hatte er das Gefühl, daß sie einfach eine Kraft besitze, die ihm fehle. Wie einen Stachel, der ihn nicht zur Ruhe kommen lassen sollte, hatte er sie schon als Kind empfunden, und offenbar hatte er sie selbst nie anders gewollt; das war vielleicht das Geheimnis seines Lebens, das die beiden anderen nicht verstanden.

»Tief sind unsere Schmerzen!« dachte er. »Ich glaube, daß es nicht oft vorkommt, daß zwei einander so tief lieben, wie wir es tun müssen.« Und er fing ohne Übergang zu sprechen an: »Ich will nicht wissen, was dir Ulo erzählt hat; aber ich kann dir sagen, seine Kraft, die du anstaunst, ist nichts als Leere!« Clarisse sah das Klavier an und lächelte; er hatte sich unwillkürlich wieder neben dem offenen Flügel niedergesetzt. Er fuhr fort: »Es muß leicht sein, heroisch zu empfinden, wenn man von Natur unempfindlich ist, und in Kilometern zu denken, wenn man gar nicht weiß, welche Fülle jeder Millimeter verbergen kann!« Sie sagten zuweilen Ulo von ihm, wie sie es in seiner Jugendzeit getan hatten, und er liebte sie deshalb, wie man seiner Amme eine lächelnde Ehrfurcht bewahrt. »Er ist steckengeblieben!« setzte Walter hinzu. »Das bemerkst du nicht; aber du brauchst nicht zu glauben, daß ich ihn nicht kenne!«

 

Clarisse zweifelte.

Walter sagte heftig: »Heute ist alles Zerfall! Ein bodenloser Abgrund von Intelligenz! Er hat auch Intelligenz, das gebe ich dir zu; aber von der Macht einer ganzen Seele weiß er nichts. Was Goethe Persönlichkeit nennt, was Goethe bewegliche Ordnung nennt, davon ahnt ihm nicht einmal etwas. ›Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung –‹«

Der Vers schwebte in Wellen von den Lippen. Clarisse staunte die Lippen freundlich an, wie wenn sie ein nettes Spielzeug hätten abfliegen lassen. Dann erinnerte sie sich und schaltete als kleines Hausmütterchen ein: »Willst du Bier?« – »Ja? Warum nicht? Ich trinke doch immer eins.«

»Aber ich habe keines im Haus!«

»Schade, daß du mich gefragt hast« seufzte Walter. »Ich hätte vielleicht gar nicht daran gedacht.«

Damit war die Frage für Clarisse erledigt. Aber Walter war nun aus dem Gleichgewicht geraten; er fand nicht mehr die rechte Fortsetzung. »Erinnerst du dich noch an unser Gespräch vom Künstler?« fragte er unsicher.

»Welches?«

»Das vor ein paar Tagen. Ich habe dir erklärt, was ein lebendiges Formprinzip in einem Menschen bedeutet. Erinnerst du dich nicht, wie ich zu dem Schluß gekommen bin, daß früher statt Tod und logischer Mechanisierung Blut und Weisheit geherrscht haben?«

»Nein.«

Walter war gehemmt, suchte, schwankte. Auf einmal platzte er los: »Er ist ein Mann ohne Eigenschaften!«

»Was ist das?« fragte Clarisse kichernd.

»Nichts. Eben nichts ist das!«

Aber Clarisse war durch das Wort neugierig geworden.

»Das gibt es heute in Millionen« behauptete Walter. »Das ist der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat!« Das unversehens gekommene Wort hatte ihm selbst gefallen; als begänne er ein Gedicht, trieb ihn das Wort vorwärts, ehe er den Sinn hatte. »Sieh ihn dir an! Wofür würdest du ihn halten? Sieht er aus wie ein Arzt, wie ein Kaufmann, ein Maler oder ein Diplomat?«

»Das ist er doch auch nicht« meinte Clarisse nüchtern.

»Nun, sieht er vielleicht wie ein Mathematiker aus?!«

»Das weiß ich nicht; ich weiß doch nicht, wie ein Mathematiker aussehen soll!«

»Da sagst du etwas, das sehr richtig ist! Ein Mathematiker sieht nach gar nichts aus; das heißt, er wird so allgemein intelligent aussehen, daß es keinen einzigen bestimmten Inhalt hat! Mit Ausnahme der römisch-katholischen Geistlichen sieht heute überhaupt niemand mehr so aus, wie er sollte, weil wir unseren Kopf noch unpersönlicher gebrauchen als unsere Hände; aber Mathematik, das ist der Gipfel, das weiß bereits so wenig von sich selbst, wie die Menschen, wenn sie sich dereinst statt von Fleisch und Brot von Kraftpillen nähren werden, noch von Wiesen und jungen Kälbern und Hühnern wissen dürften!« – Clarisse hatte inzwischen das einfache Abendbrot auf den Tisch gestellt, und Walter hatte sich schon tüchtig damit beschäftigt; vielleicht hatte ihm das diesen Vergleich eingegeben. Clarisse sah seinen Lippen zu. Sie erinnerten sie an seine verstorbene Mutter, es waren kräftig weibliche Lippen, die das Essen wie eine Hausarbeit betrieben und ein kleines geschnittenes Bärtchen obenauf trugen. Seine Augen glänzten wie frisch ausgeschälte Kastanien, auch wenn er nur ein Stück Käse in der Schüssel suchte. Obgleich er klein und eher weichlich als zart gebaut war, machte er Eindruck und gehörte zu den Menschen, die immer gut beleuchtet erscheinen. Er fuhr nun in seinem Gespräch weiter fort: »Du kannst keinen Beruf aus seiner Erscheinung erraten, und doch sieht er auch nicht wie ein Mann aus, der keinen Beruf hat. Und nun überleg dir einmal, wie er ist: Er weiß immer, was er zu tun hat; er kann einer Frau in die Augen schaun; er kann in jedem Augenblick tüchtig über alles nachdenken; er kann boxen. Er ist begabt, willenskräftig, vorurteilslos, mutig, ausdauernd, draufgängerisch, besonnen – ich will das gar nicht im einzelnen prüfen, er mag alle diese Eigenschaften haben. Denn er hat sie doch nicht! Sie haben das aus ihm gemacht, was er ist, und seinen Weg bestimmt, und sie gehören doch nicht zu ihm. Wenn er zornig ist, lacht etwas in ihm. Wenn er traurig ist, bereitet er etwas vor. Wenn er von etwas gerührt wird, lehnt er es ab. Jede schlechte Handlung wird ihm in irgendeiner Beziehung gut erscheinen. Immer wird für ihn erst ein möglicher Zusammenhang entscheiden, wofür er eine Sache hält. Nichts ist für ihn fest. Alles ist verwandlungsfähig, Teil in einem Ganzen, in unzähligen Ganzen, die vermutlich zu einem Überganzen gehören, das er aber nicht im geringsten kennt. So ist jede seiner Antworten eine Teilantwort, jedes seiner Gefühle nur eine Ansicht, und es kommt ihm bei nichts darauf an, was es ist, sondern nur auf irgendein danebenlaufendes ›wie es ist>, irgendeine Zutat, kommt es ihm immer an. Ich weiß nicht, ob ich mich dir verständlich machen kann?«

»Doch« sagte Clarisse. »Aber ich finde das sehr nett von ihm.«

Walter hatte unwillkürlich mit Zeichen wachsender Abneigung gesprochen; das alte Knabengefühl des schwächeren Freunds vergrößerte seine Eifersucht. Denn obwohl er überzeugt war, daß Ulrich außer ein paar nackten Verstandesproben nie etwas geleistet habe, wurde er heimlich den Eindruck nicht los, ihm immer körperlich unterlegen gewesen zu sein. Das Bild, das er entwarf, befreite ihn wie das Gelingen eines Kunstwerks; nicht er stellte es aus sich hinaus, sondern an das geheimnisvolle Gelingen eines Anfangs geknüpft, hatte sich außen Wort an Wort gesetzt, und in seinem Inneren löste sich dabei etwas auf, das ihm nicht bewußt wurde. Als er fertig war, hatte er erkannt, daß Ulrich nichts ausdrücke als dieses aufgelöste Wesen, das alle Erscheinungen heute haben.

»Dir gefällt das?« fragte er nun, schmerzlich überrascht. »Das darfst du nicht im Ernst sagen!«

Clarisse kaute Brot mit weichem Käse; sie konnte nur mit den Augen lächeln.

»Ach,« sagte Walter »so ähnlich haben wir vielleicht früher auch gedacht. Aber man darf darin doch nicht mehr als eine Vorstufe sehen! So ein Mensch ist doch kein Mensch!«

Nun war Clarisse fertig. »Das sagt er doch selbst!« behauptete sie.

»Was sagt er selbst?!«

»Ach, weiß ich's!? Daß heute alles aufgelöst ist. Er sagt, alles ist jetzt steckengeblieben, nicht nur er. Aber er nimmt es nicht so übel wie du. Er hat mir einmal eine lange Geschichte erzählt: Wenn man das Wesen von tausend Menschen zerlegt, so stößt man auf zwei Dutzend Eigenschaften, Empfindungen, Ablaufarten, Aufbauformen und so weiter, aus denen sie alle bestehn. Und wenn man unseren Leib zerlegt, so findet man nur Wasser und einige Dutzend Stoffhäufchen, die darauf herumschwimmen. Das Wasser steigt in uns genau so wie in die Bäume, und es bildet die Tierleiber, wie es die Wolken bildet. Ich finde das hübsch. Man weiß dann bloß nicht recht, was man zu sich sagen soll. Und was man tun soll.« Clarisse kicherte. »Ich habe ihm darauf erzählt, daß du tagelang fischen gehst, wenn du frei hast, und am Wasser Hegst.«