Der Mann ohne Eigenschaften

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Es ist gar nicht sicher, daß es so kommen muß, aber solche Vorstellungen gehören zu den Reiseträumen, in denen sich das Gefühl der rastlosen Bewegung spiegelt, die uns mit sich führt. Sie sind oberflächlich, unruhig und kurz. Weiß Gott, was wirklich werden wird. Man sollte meinen, daß wir in jeder Minute den Anfang in der Hand haben und einen Plan für uns alle machen müßten. Wenn uns die Sache mit den Geschwindigkeiten nicht gefällt, so machen wir doch eine andre! Zum Beispiel eine ganz langsame, mit einem schleierig wallenden, meerschneckenhaft geheimnisvollen Glück und dem tiefen Kuhblick, von dem schon die Griechen geschwärmt haben. Aber so ist es ganz und gar nicht. Die Sache hat uns in der Hand. Man fährt Tag und Nacht in ihr und tut auch noch alles andre darin; man rasiert sich, man ißt, man liebt, man liest Bücher, man übt seinen Beruf aus, als ob die vier Wände stillstünden, und das Unheimliche ist bloß, daß die Wände fahren, ohne daß man es merkt, und ihre Schienen vorauswerfen, wie lange, tastend gekrümmte Fäden, ohne daß man weiß wohin. Und überdies will man ja womöglich selbst noch zu den Kräften gehören, die den Zug der Zeit bestimmen. Das ist eine sehr unklare Rolle, und es kommt vor, wenn man nach längerer Pause hinaussieht, daß sich die Landschaft geändert hat; was da vorbeifliegt, fliegt vorbei, weil es nicht anders sein kann, aber bei aller Ergebenheit gewinnt ein unangenehmes Gefühl immer mehr Gewalt, als ob man über das Ziel hinausgefahren oder auf eine falsche Strecke geraten wäre. Und eines Tages ist das stürmische Bedürfnis da: Aussteigen! Abspringen! Ein Heimweh nach Aufgehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben, Zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt! Und in der guten alten Zeit, als es das Kaisertum Österreich noch gab, konnte man in einem solchen Falle den Zug der Zeit verlassen, sich in einen gewöhnlichen Zug einer gewöhnlichen Eisenbahn setzen und in die Heimat zurückfahren.

Dort, in Kakanien, diesem seither untergegangenen, unverstandenen Staat, der in so vielem ohne Anerkennung vorbildlich gewesen ist, gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus heilem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen. Und was für Länder! Gletscher und Meer, Karst und böhmische Kornfelder gab es dort, Nächte an der Adria, zirpend von Grillenunruhe, und slowakische Dörfer, wo der Rauch aus den Kaminen wie aus aufgestülpten Nasenlöchern stieg und das Dorf zwischen zwei kleinen Hügeln kauerte, als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet, um ihr Kind dazwischen zu wärmen. Natürlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. Man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und Übersee hörte man an wie etwas noch gänzlich Unerprobtes und Fernes. Man entfaltete Luxus; aber beileibe nicht so überfeinert wie die Franzosen. Man trieb Sport; aber nicht so närrisch wie die Angelsachsen. Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, daß man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle andern größten Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind. Und verwaltet wurde dieses Land in einer aufgeklärten, wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Weise von der besten Bürokratie Europas, der man nur einen Fehler nachsagen konnte: sie empfand Genie und geniale Unternehmungssucht an Privatpersonen, die nicht durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privilegiert waren, als vorlautes Benehmen und Anmaßung. Aber wer ließe sich gerne von Unbefugten dreinreden! Und in Kakanien wurde überdies immer nur ein Genie für einen Lümmel gehalten, aber niemals, wie es anderswo vorkam, schon der Lümmel für ein Genie.

Überhaupt, wie vieles Merkwürdige ließe sich über dieses versunkene Kakanien sagen! Es war zum Beispiel kaiserlich-königlich und war kaiserlich und königlich; eines der beiden Zeichen k.k. oder k.u.k. trug dort jede Sache und Person, aber es bedurfte trotzdem einer Geheimwissenschaft, um immer sicher unterscheiden zu können, welche Einrichtungen und Menschen k.k. und welche k.u.k. zu rufen waren. Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, daß Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt; aber man hatte auch einen Notstandsparagraphen, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, und jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun doch wieder parlamentarisch regiert werden müsse. Solcher Geschehnisse gab es viele in diesem Staat, und zu ihnen gehörten auch jene nationalen Kämpfe, die mit Recht die Neugierde Europas auf sich zogen und heute ganz falsch dargestellt werden. Sie waren so heftig, daß ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts gewesen wäre. Und es war auch nichts Wirkliches gewesen. Es hatte sich bloß die Abneigung jedes Menschen gegen die Bestrebungen jedes andern Menschen, in der wir heute alle einig sind, in diesem Staat schon früh, und man kann sagen, zu einem sublimierten Zeremoniell ausgebildet, das noch große Folgen hätte haben können, wenn seine Entwicklung nicht durch eine Katastrophe vor der Zeit unterbrochen worden wäre.

Denn nicht nur die Abneigung gegen den Mitbürger war dort bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern es nahm auch das Mißtrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewißheit an. Man handelte in diesem Land – und mitunter bis zu den höchsten Graden der Leidenschaft und ihren Folgen immer anders, als man dachte, oder dachte anders, als man handelte. Unkundige Beobachter haben das für Liebenswürdigkeit oder gar für Schwäche des ihrer Meinung nach österreichischen Charakters gehalten. Aber das war falsch; und es ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte. Dieser, wie man zugeben muß, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefärbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andre Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darinsteht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt.

Soweit das nun überhaupt allen Augen sichtbar werden kann, war es in Kakanien geschehen, und darin war Kakanien, ohne daß die Welt es schon wußte, der fortgeschrittenste Staat; es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz und von der großen Phantasie des Nichtgeschehenen oder doch nicht unwiderruflich Geschehenen wie von dem Hauch der Ozeane umspült, denen die Menschheit entstieg.

Es ist passiert, sagte man dort, wenn andre Leute anderswo glaubten, es sei wunder was geschehen; das war ein eigenartiges, nirgendwo sonst im Deutschen oder einer andern Sprache vorkommendes Wort, in dessen Hauch Tatsachen und Schicksalsschläge so leicht wurden wie Flaumfedern und Gedanken. Ja, es war, trotz vielem, was dagegen spricht, Kakanien vielleicht doch ein Land für Genies; und wahrscheinlich ist es daran auch zugrunde gegangen.

9

Erster von drei Versuchen, ein bedeutender Mann zu werden

Dieser Mann, der zurückgekehrt war, konnte sich keiner Zeit seines Lebens erinnern, die nicht von dem Willen beseelt gewesen wäre, ein bedeutender Mensch zu werden; mit diesem Wunsch schien Ulrich geboren worden zu sein. Es ist wahr, daß sich in einem solchen Verlangen auch Eitelkeit und Dummheit verraten können; trotzdem ist es nicht weniger wahr, daß es ein sehr schönes und richtiges Begehren ist, ohne das es wahrscheinlich nicht viele bedeutende Menschen gäbe. Das Fatale daran war bloß, daß er weder wußte, wie man einer wird, noch was ein bedeutender Mensch ist. In seiner Schulzeit hatte er Napoleon dafür gehalten; teils geschah es wegen der natürlichen Bewunderung der Jugend für das Verbrecherische, teils weil die Lehrpersonen ausdrücklich auf diesen Tyrannen, der Europa auf den Kopf zu stellen versuchte, als den gewaltigsten Übeltäter der Geschichte hinwiesen. Die Folge war, daß Ulrich, sobald er der Schule entrann, Fähnrich in einem Reiterregiment wurde. Wahrscheinlich hätte er damals, nach den Gründen dieser Berufswahl gefragt, schon nicht mehr geantwortet: um Tyrann zu werden; aber solche Wünsche sind Jesuiten; Napoleons Genie hatte sich erst zu entwickeln begonnen, nachdem er General geworden war, und wie hätte Ulrich als Fähnrich seinen Oberst von der Notwendigkeit dieser Bedingung überzeugen sollen?! Schon beim Eskadronsexerzieren zeigte es sich nicht selten, daß der Oberst anderer Meinung war als er. Trotzdem würde Ulrich den Exerzierplatz, auf dessen friedlicher Flur Anmaßung von Berufung nicht zu unterscheiden ist, nicht verflucht haben, wäre er nicht so ehrgeizig gewesen. Auf pazifistische Redensarten wie »Volkserziehung in Waffen« legte er damals nicht den geringsten Wert, sondern ließ sich von einer leidenschaftlichen Erinnerung an heroische Zustände des Herrentums, der Gewalt und des Stolzes erfüllen. Er ritt Rennen, duellierte sich und unterschied nur drei Arten von Menschen: Offiziere, Frauen und Zivilisten; letztere eine körperlich unentwickelte, geistig verächtliche Klasse, der von den Offizieren die Frauen und Töchter abgejagt wurden. Er gab sich einem großartigen Pessimismus hin: es schien ihm, da der Soldatenberuf ein scharfes und glühendes Instrument ist, müsse man mit diesem Instrument die Welt zu ihrem Heil auch brennen und schneiden.

 

Er hatte zwar das Glück, daß ihm nichts dabei geschah, aber eines Tages machte er eine Erfahrung. Er hatte in einer Gesellschaft mit einem bekannten Finanzmann eine kleine Mißhelligkeit, die er in seiner großartigen Weise erledigen wollte, aber es zeigte sich, daß auch im Zivil Männer vorhanden sind, die ihre weiblichen Familienangehörigen zu schützen wissen. Der Finanzier hatte eine Unterredung mit dem Kriegsminister, den er persönlich kannte, und die Folge war, daß Ulrich eine längere Aussprache mit seinem Obersten hatte, in der ihm der Unterschied zwischen einem Erzherzog und einem einfachen Offizier klargemacht wurde. Von da an freute ihn der Beruf des Kriegers nicht mehr. Er hatte erwartet, sich auf einer Bühne welterschütternder Abenteuer zu befinden, deren Held er sein werde, und sah mit einemmal einen betrunkenen jungen Mann auf einem leeren weiten Platz randalieren, dem nur die Steine antworten. Als er das begriff, nahm er Abschied von dieser undankbaren Laufbahn, in der er es soeben bis zum Leutnant gebracht hatte, und verließ den Dienst.

10

Der zweite Versuch. Ansätze zu einer Moral des Mannes ohne Eigenschaften

Aber Ulrich wechselte nur das Pferd, als er von der Kavallerie zur Technik überging; das neue Pferd hatte Stahlglieder und lief zehnmal so schnell.

In Goethes Welt ist das Klappern der Webstühle noch eine Störung gewesen, in der Zeit Ulrichs begann man das Lied der Maschinensäle, Niethämmer und Fabriksirenen schon zu entdecken. Man darf freilich nicht glauben, die Menschen hätten bald bemerkt, daß ein Wolkenkratzer größer sei als ein Mann zu Pferd; im Gegenteil, noch heute, wenn sie etwas Besonderes von sich hermachen wollen, setzen sie sich nicht auf den Wolkenkratzer, sondern aufs hohe Roß, sind geschwind wie der Wind und scharfsichtig, nicht wie ein Riesenrefraktor, sondern wie ein Adler. Ihr Gefühl hat noch nicht gelernt, sich ihres Verstandes zu bedienen, und zwischen diesen beiden liegt ein Unterschied der Entwicklung, der fast so groß ist wie der zwischen dem Blinddarm und der Großhirnrinde. Es bedeutet also kein gar kleines Glück, wenn man daraufkommt, wie es Ulrich schon nach Abbruch seiner Flegeljahre geschah, daß der Mensch in allem, was ihm für das Höhere gilt, sich weit altmodischer benimmt, als es seine Maschinen sind.

Ulrich war, als er die Lehrsäle der Mechanik betrat, vom ersten Augenblick an fieberhaft befangen. Wozu braucht man noch den Apollon von Belvedere, wenn man die neuen Formen eines Turbodynamo oder das Gliederspiel einer Dampfmaschinensteuerung vor Augen hat! Wen soll das tausendjährige Gerede darüber, was gut und böse sei, fesseln, wenn sich herausgestellt hat, daß das gar keine »Konstanten« sind, sondern »Funktionswerte«, so daß die Güte der Werke von den geschichtlichen Umständen abhängt und die Güte der Menschen von dem psychotechnischen Geschick, mit dem man ihre Eigenschaften auswertet! Die Welt ist einfach komisch, wenn man sie vom technischen Standpunkt ansieht; unpraktisch in allen Beziehungen der Menschen zueinander, im höchsten Grade unökonomisch und unexakt in ihren Methoden; und wer gewohnt ist, seine Angelegenheiten mit dem Rechenschieber zu erledigen, kann einfach die gute Hälfte aller menschlichen Behauptungen nicht ernst nehmen. Der Rechenschieber, das sind zwei unerhört scharfsinnig verflochtene Systeme von Zahlen und Strichen; der Rechenschieber, das sind zwei weiß lackierte, ineinander gleitende Stäbchen von flach trapezförmigem Querschnitt, mit deren Hilfe man die verwickeltsten Aufgaben im Nu lösen kann, ohne einen Gedanken nutzlos zu verlieren; der Rechenschieber, das ist ein kleines Symbol, das man in der Brusttasche trägt und als einen harten weißen Strich über dem Herzen fühlt: wenn man einen Rechenschieber besitzt, und jemand kommt mit großen Behauptungen oder großen Gefühlen, so sagt man: Bitte einen Augenblick, wir wollen vorerst die Fehlergrenzen und den wahrscheinlichsten Wert von alledem berechnen!

Das war zweifellos eine kraftvolle Vorstellung vom Ingenieurwesen. Sie bildete den Rahmen eines reizvollen zukünftigen Selbstbildnisses, das einen Mann mit entschlossenen Zügen zeigte, der eine Shagpfeife zwischen den Zähnen hält, eine Sportmütze aufhat und in herrlichen Reitstiefeln zwischen Kapstadt und Kanada unterwegs ist, um gewaltige Entwürfe für sein Geschäftshaus zu verwirklichen. Zwischendurch hat man immer noch Zeit, gelegentlich aus dem technischen Denken einen Ratschlag für die Einrichtung und Lenkung der Welt zu nehmen oder Sprüche zu formen wie den von Emerson, der über jeder Werkstätte hängen sollte: »Die Menschen wandeln auf Erden als Weissagungen der Zukunft, und alle ihre Taten sind Versuche und Proben, denn jede Tat kann durch die nächste übertroffen werden!« – Genau genommen war dieser Satz sogar von Ulrich und aus mehreren Sätzen von Emerson zusammengestellt.

Es ist schwer zu sagen, warum Ingenieure nicht ganz so sind, wie es dem entsprechen würde. Warum tragen sie beispielsweise so oft eine Uhrkette, die in einseitigem, steilem Bogen von der Westentasche zu einem hochgelegenen Knopf führt, oder lassen sie über dem Bauch eine Hebung und zwei Senkungen bilden, als befände sie sich in einem Gedicht? Warum gefällt es ihnen, Busennadeln mit Hirschzähnen oder kleinen Hufeisen in ihre Halsbinden zu stecken? Warum sind ihre Anzüge so konstruiert wie die Anfänge des Automobils? Warum endlich sprechen sie selten von etwas anderem als ihrem Beruf; und wenn sie es doch tun, warum haben sie dann eine besondere, steife, beziehungslose, äußere Art zu sprechen, die nach innen nicht tiefer als bis zum Kehldeckel reicht? Bei weitem gilt das natürlich nicht von allen, aber es gilt von vielen, und die, welche Ulrich kennen lernte, als er zum erstenmal den Dienst in einem Fabrikbüro antrat, waren so, und die, die er beim zweitenmal kennen lernte, waren auch so. Sie zeigten sich als Männer, die mit ihren Reißbrettern fest verbunden waren, ihren Beruf liebten und in ihm eine bewundernswerte Tüchtigkeit besaßen; aber den Vorschlag, die Kühnheit ihrer Gedanken statt auf ihre Maschinen auf sich selbst anzuwenden, würden sie ähnlich empfunden haben wie die Zumutung, von einem Hammer den widernatürlichen Gebrauch eines Mörders zu machen.

So endete schnell der zweite und reifere Versuch, den Ulrich unternommen hatte, um auf dem Wege der Technik ein ungewöhnlicher Mann zu werden.

11

Der wichtigste Versuch

Über die Zeit bis dahin vermochte Ulrich heute den Kopf zu schütteln, wie wenn man ihm von seiner Seelenwanderung erzählen würde; über den dritten seiner Versuche nicht. Es läßt sich verstehen, daß ein Ingenieur in seiner Besonderheit aufgeht, statt in die Freiheit und Weite der Gedankenwelt zu münden, obgleich seine Maschinen bis an die Enden der Erde geliefert werden; denn er braucht ebensowenig fähig zu sein, das Kühne und Neue der Seele seiner Technik auf seine Privatseele zu übertragen, wie eine Maschine imstande ist, die ihr zugrunde liegenden Infinitesimalgleichungen auf sich selbst anzuwenden. Von der Mathematik aber läßt sich das nicht sagen; da ist die neue Denklehre selbst, der Geist selbst, liegen die Quellen der Zeit und der Ursprung einer ungeheuerlichen Umgestaltung.

Wenn es die Verwirklichung von Urträumen ist, fliegen zu können und mit den Fischen zu reisen, sich unter den Leibern von Bergriesen durchzubohren, mit göttlichen Geschwindigkeiten Botschaften zu senden, das Unsichtbare und Ferne zu sehen und sprechen zu hören, Tote sprechen zu hören, sich in wundertätigen Genesungsschlaf versenken zu lassen, mit lebenden Augen erblicken zu können, wie man zwanzig Jahre nach seinem Tode aussehen wird, in flimmernden Nächten tausend Dinge über und unter dieser Welt zu wissen, die früher niemand gewußt hat, wenn Licht, Wärme, Kraft, Genuß, Bequemlichkeit Urträume der Menschheit sind, – dann ist die heutige Forschung nicht nur Wissenschaft, sondern ein Zauber, eine Zeremonie von höchster Herzens- und Hirnkraft, vor der Gott eine Falte seines Mantels nach der anderen öffnet, eine Religion, deren Dogmatik von der harten, mutigen, beweglichen, messerkühlen und -scharfen Denklehre der Mathematik durchdrungen und getragen wird.

Allerdings, es ist nicht zu leugnen, daß alle diese Urträume nach Meinung der Nichtmathematiker mit einemmal in einer ganz anderen Weise verwirklicht waren, als man sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Münchhausens Posthorn war schöner als die fabriksmäßige Stimmkonserve, der Siebenmeilenstiefel schöner als ein Kraftwagen, Laurins Reich schöner als ein Eisenbahntunnel, die Zauberwurzel schöner als ein Bildtelegramm, vom Herz seiner Mutter zu essen und die Vögel zu verstehn, schöner als eine tierpsychologische Studie über die Ausdrucksbewegungen der Vogelstimme. Man hat Wirklichkeit gewonnen und Traum verloren. Man liegt nicht mehr unter einem Baum und guckt zwischen der großen und der zweiten Zehe hindurch in den Himmel, sondern man schafft; man darf auch nicht hungrig und verträumt sein, wenn man tüchtig sein will, sondern muß Beefsteak essen und sich rühren. Genau so ist es, wie wenn die alte untüchtige Menschheit auf einem Ameisenhaufen eingeschlafen wäre, und als die neue erwachte, waren ihr die Ameisen ins Blut gekrochen, und sie muß seither die gewaltigsten Bewegungen ausführen, ohne dieses lausige Gefühl von tierischer Arbeitsamkeit abschütteln zu können. Man braucht wirklich nicht viel darüber zu reden, es ist den meisten Menschen heute ohnehin klar, daß die Mathematik wie ein Dämon in alle Anwendungen unseres Lebens gefahren ist. Vielleicht glauben nicht alle diese Menschen an die Geschichte vom Teufel, dem man seine Seele verkaufen kann; aber alle Leute, die von der Seele etwas verstehen müssen, weil sie als Geistliche, Historiker und Künstler gute Einkünfte daraus beziehen, bezeugen es, daß sie von der Mathematik ruiniert worden sei und daß die Mathematik die Quelle eines bösen Verstandes bilde, der den Menschen zwar zum Herrn der Erde, aber zum Sklaven der Maschine mache. Die innere Dürre, die ungeheuerliche Mischung von Schärfe im Einzelnen und Gleichgültigkeit im Ganzen, das ungeheure Verlassensein des Menschen in einer Wüste von Einzelheiten, seine Unruhe, Bosheit, Herzensgleichgültigkeit ohnegleichen, Geldsucht, Kälte und Gewalttätigkeit, wie sie unsre Zeit kennzeichnen, sollen nach diesen Berichten einzig und allein die Folge der Verluste sein, die ein logisch scharfes Denken der Seele zufügt! Und so hat es auch schon damals, als Ulrich Mathematiker wurde, Leute gegeben, die den Zusammenbruch der europäischen Kultur voraussagten, weil kein Glaube, keine Liebe, keine Einfalt, keine Güte mehr im Menschen wohne, und bezeichnenderweise sind sie alle in ihrer Jugend- und Schulzeit schlechte Mathematiker gewesen. Damit war später für sie bewiesen, daß die Mathematik, Mutter der exakten Naturwissenschaft, Großmutter der Technik, auch Erzmutter jenes Geistes ist, aus dem schließlich Giftgase und Kampfflieger aufgestiegen sind.

In Unkenntnis dieser Gefahren lebten eigentlich nur die Mathematiker selbst und ihre Schüler, die Naturforscher, die von alledem so wenig in ihrer Seele verspürten wie Rennfahrer, die fleißig darauf los treten und nichts in der Welt bemerken wie das Hinterrad ihres Vordermanns. Von Ulrich dagegen konnte man mit Sicherheit das eine sagen, daß er die Mathematik liebte, wegen der Menschen, die sie nicht ausstehen mochten. Er war weniger wissenschaftlich als menschlich verliebt in die Wissenschaft. Er sah, daß sie in allen Fragen, wo sie sich für zuständig hält, anders denkt als gewöhnliche Menschen. Wenn man statt wissenschaftlicher Anschauungen Lebensanschauung setzen würde, statt Hypothese Versuch und statt Wahrheit Tat, so gäbe es kein Lebenswerk eines ansehnlichen Naturforschers oder Mathematikers, das an Mut und Umsturzkraft nicht die größten Taten der Geschichte weit übertreffen würde. Der Mann war noch nicht auf der Welt, der zu seinen Gläubigen hätte sagen können: Stehlt, mordet, treibt Unzucht – unsere Lehre ist so stark, daß sie aus der Jauche eurer Sünden schäumend helle Bergwässer macht; aber in der Wissenschaft kommt es alle paar Jahre vor, daß etwas, das bis dahin als Fehler galt, plötzlich alle Anschauungen umkehrt oder daß ein unscheinbarer und verachteter Gedanke zum Herrscher über ein neues Gedankenreich wird, und solche Vorkommnisse sind dort nicht bloß Umstürze, sondern führen wie eine Himmelsleiter in die Höhe. Es geht in der Wissenschaft so stark und unbekümmert und herrlich zu wie in einem Märchen. Und Ulrich fühlte: die Menschen wissen das bloß nicht; sie haben keine Ahnung, wie man schon denken kann; wenn man sie neu denken lehren könnte, würden sie auch anders leben.

 

Nun wird man sich freilich fragen, ob es denn auf der Welt so verkehrt zugehe, daß sie immerdar umgedreht werden müsse? Aber darauf hat die Welt längst selbst zwei Antworten gegeben. Denn seit sie besteht, sind die meisten Menschen in ihrer Jugend für das Umdrehen gewesen. Sie haben es lächerlich empfunden, daß die Älteren am Bestehenden hingen und mit dem Herzen dachten, einem Stück Fleisch, statt mit dem Gehirn. Diese jüngeren Menschen haben immer bemerkt, daß die moralische Dummheit der Älteren ebenso ein Mangel an neuer Verbindungsfähigkeit ist wie die gewöhnliche intellektuelle Dummheit, und die ihnen selbst natürliche Moral ist eine der Leistung, des Heroismus und der Veränderung gewesen. Dennoch haben sie, sobald sie in die Jahre der Verwirklichung gekommen sind, nichts mehr davon gewußt und noch weniger wissen wollen. Darum werden auch viele, denen Mathematik oder Naturwissenschaft einen Beruf bedeuten, es als einen Mißbrauch empfinden, sich aus solchen Gründen wie Ulrich für eine Wissenschaft zu entscheiden.

Trotzdem hatte er nun aber in diesem dritten Beruf, seit er ihn vor Jahren ergriffen hatte, nach fachmännischem Urteil gar nicht wenig geleistet.

12

Die Dame, deren Liebe Ulrich nach einem Gespräch über Sport und Mystik gewonnen hat

Es stellte sich heraus, daß auch Bonadea nach großen Ideen strebte.

Bonadea war die Dame, die Ulrich in seiner unglücklichen Boxnacht gerettet und am folgenden Morgen tiefverschleiert besucht hatte. Er hatte sie Bonadea getauft, die gute Göttin, weil sie so in sein Leben getreten war, und auch nach einer Göttin der Keuschheit, die im alten Rom einen Tempel besessen hat, der durch eine seltsame Umkehrung zum Mittelpunkt aller Ausschweifungen geworden ist. Sie wußte das nicht. Der klangvolle Name, den ihr Ulrich beigelegt hatte, gefiel ihr, und sie trug ihn bei ihren Besuchen wie ein prächtig gesticktes Hauskleid. »Ich bin also deine gute Göttin?« fragte sie – »deine Bona Dea?« und die richtige Aussprache dieser beiden Worte erforderte es, daß sie ihm dabei die Arme um den Hals legte und ihn mit leicht zurückgeneigtem Kopf gefühlvoll anblickte.

Sie war die Gattin eines angesehenen Mannes und die zärtliche Mutter zweier schönen Knaben. Ihr Lieblingsbegriff war »hochanständig«; sie wandte ihn auf Menschen, Dienstboten, Geschäfte und Gefühle an, wenn sie etwas Gutes von ihnen sagen wollte. Sie war imstande, »das Wahre, Gute und Schöne« so oft und natürlich auszusprechen, wie ein anderer Donnerstag sagt. Was ihr Ideenbedürfnis am tiefsten befriedigte, war die Vorstellung einer stillen, idealen Lebensführung in einem Kreis, den Gatte und Kinder bilden, während tief darunter das dunkle Reich »Führe mich nicht in Versuchung« schwebt und mit seinen Schauern das strahlende Glück zum sanften Lampenschein dämpft. Sie hatte nur einen Fehler, den, daß sie in einem ganz ungewöhnlichen Maß schon durch den Anblick von Männern erregbar war. Sie war durchaus nicht lüstern; sie war sinnlich, wie andere Menschen andere Leiden haben, zum Beispiel an den Händen schwitzen oder leicht die Farbe wechseln, es war ihr scheinbar angeboren, und sie konnte niemals dagegen aufkommen. Als sie Ulrich unter so romanhaften, die Phantasie außerordentlich erregenden Umständen kennengelernt hatte, war sie vom ersten Augenblick an zur Beute einer Leidenschaft bestimmt gewesen, die als Mitgefühl begann, nach kurzem, aber heftigem Kampfe in verbotene Heimlichkeiten überging und sich als ein Wechselspiel von Bissen der Sünde und der Reue fortsetzte.

Aber Ulrich war in ihrem Leben der weiß Gott wievielte Fall. Männer pflegen solche liebessüchtige Frauen, sobald sie den Zusammenhang heraus haben, meist nicht viel besser zu behandeln als Idioten, die man mit den dümmsten Mitteln verleiten kann, immer wieder über das gleiche zu stolpern. Denn die zarteren Gefühle der männlichen Hingabe sind ungefähr so wie das Knurren eines Jaguars über einem Stück Fleisch, und eine Störung darin wird sehr übelgenommen. Das hatte zur Folge, daß Bonadea oft ein Doppelleben führte wie nur irgend ein achtbarer Tagesbürger, der in den dunklen Zwischenräumen seines Bewußtseins Eisenbahndieb ist, und diese stille, stattliche Frau wurde, sobald sie niemand in Armen hielt, bedrückt von der Selbstverachtung, die durch die Lügen und Entehrungen hervorgerufen wurde, denen sie sich aussetzte, um in Armen gehalten zu werden. Wurden ihre Sinne erregt, so war sie melancholisch und gut, ja sie gewann in ihrer Mischung von Begeisterung und Tränen, von brutaler Natürlichkeit und unweigerlich kommender Reue, in dem Ausreißen ihrer Manie vor der schon drohend wartenden Depression einen Reiz, der ähnlich aufregend war wie das ununterbrochene Wirbeln einer dunkel umflorten Trommel. Aber in dem anfallfreien Intervall, in der Reue zwischen zwei Schwächen, die sie ihre Hilflosigkeit fühlen machte, war sie voll ehrbarer Ansprüche, die den Umgang mit ihr nicht einfach gestalteten. Man mußte wahr und gut sein, mitfühlend mit allem Unglück, das Kaiserhaus lieben, alles Geachtete achten und sich moralisch so zartfühlend benehmen wie an einem Krankenlager.

Geschah es nicht, so änderte auch das nichts am Lauf der Dinge. Sie hatte zur Entschuldigung dafür das Märchen erfunden, daß sie von ihrem Gatten in den unschuldigen ersten Jahren der Ehe in ihren bedauerlichen Zustand gebracht worden sei. Dieser Gatte, der erheblich älter und körperlich größer war als sie, erschien als ein rücksichtsloses Untier, und schon in den ersten Stunden ihrer neuen Liebe hatte sie auch zu Ulrich traurig bedeutsam davon gesprochen. Erst einiges später kam er darauf, daß dieser Mann ein bekannter und angesehener Jurist war, mit werktätigen Fähigkeiten in der Ausübung seines Berufs, harmlos tötender Jagdliebhaber dazu und gern gesehener Gast an verschiedenen Stammtischen von Jägern und Rechtskundigen, wo von Männerfragen gesprochen wurde statt von Kunst und Liebe. Die einzige Verfehlung dieses etwas namenlosen, gutmütigen und lebensfrohen Mannes bestand darin, daß er mit seiner Gattin verheiratet war und sich dadurch öfter als andere Männer in jenem Verhältnis zu ihr befand, das man in der Sprache der Delikte ein Gelegenheitsverhältnis nennt. Die seelische Wirkung jahrelangen einem Menschen Willfahrens, dessen Frau sie mehr aus Klugheit als aus Herzensverlangen geworden war, hatte in Bonadea die Täuschung ausgebildet, daß sie körperlich übererregbar sei, und hatte diese Einbildung beinahe unabhängig von ihrem Bewußtsein gemacht. Ein ihr selbst unbegreiflicher innerer Zwang kettete sie an diesen durch die Umstände begünstigten Mann; sie verachtete ihn wegen ihrer eigenen Willensschwäche und fühlte sich schwach, um ihn verachten zu können; sie betrog ihn, um ihm zu entfliehen, sprach aber dabei in den unpassendsten Augenblicken von ihm oder den Kindern, die sie von ihm hatte, und war niemals imstande, sich ganz von ihm loszumachen. Gleich vielen unglücklichen Frauen empfing sie schließlich ihre Haltung in einem sonst recht schwankenden Lebensraum von der Abneigung gegen ihren fest dastehenden Gatten und übertrug ihren Konflikt mit ihm in jedes neue Erlebnis, das sie von ihm erlösen sollte.