James Bond 15: Colonel Sun

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Z serii: James Bond #15
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Sir Ranald schnaubte erneut. »Ach ja? Um was denn genau?«

»Keine Ahnung, Sir. Wir haben keinerlei Hinweise.«

»Mm. Und vermutlich verfügen wir über ähnlich wenige Informationen, wenn es um die Frage geht, wo dieser Plan, wie immer er aussieht und wer immer ihn ausführt, zu einem Ende gebracht werden soll. Gibt es irgendwelche Berichte über ungewöhnliche Aktivitäten von Ihren Stationen im Ausland?«

»Nein, Sir. Natürlich habe ich sofort darum gebeten, dass unsere Mitarbeiter besonders wachsam sind.«

»Ja, ja. Also wissen wir nichts. So wie es aussieht, müssen wir einfach abwarten, bis die gegnerische Seite ihren Zug macht. Ich danke Ihnen allen für Ihre Hilfe. Ich bin mir sicher, dass keiner von Ihnen mehr hätte tun können, als er bereits getan hat. Es tut mir leid, wenn es den Anschein hatte, als hätte ich angedeutet, Mr Bond hätte sich in irgendeiner Weise anders verhalten können. Ich habe gesprochen, ohne nachzudenken. Ihre erfolgreiche Flucht ist das einzige positive Ergebnis dieser ganzen Angelegenheit.«

Der Minister sprach die Worte in einem Ton aus, der nach echter Aufrichtigkeit klang. Offenbar war ihm der Gedanke gekommen – ein wenig verspätet, aber er hatte schon immer dazu geneigt, seiner Ungeduld mit den Angehörigen der niederen Ränge freien Lauf zu lassen –, dass er zwar gerechterweise nicht für die Entführung des Leiters des Secret Service verantwortlich gemacht werden konnte, seine Kabinettskollegen insgesamt aber einen für Politiker typischen Gerechtigkeitssinn besaßen. Mit anderen Worten: Diese Angelegenheit könnte in den Händen eines jeden, der ihn möglicherweise aus dem Weg räumen wollte, in eine äußerst wirksame Waffe verwandelt werden. Neid, Boshaftigkeit und Ehrgeiz waren überall um ihn herum. Diese Leute hier mochten nicht die zufriedenstellendsten oder effektivsten Verbündeten sein, aber sie waren die einzigen, die ihm derzeit zur Verfügung standen. Er wandte sich an Vallance, den er in der Vergangenheit mehrfach als übertrieben gut angezogenen Lackaffen abgetan hatte, und sagte, während er unbewusst die Vorderseite seines eigenen azurblauen Rüschenhemds glatt strich, in demütigem Ton: »Was schlagen Sie in der Zwischenzeit wegen der Presse vor, stellvertretender Commissioner? Wäre eine Nachrichtensperre angebracht? Ich bin mehr als bereit, mich Ihrem Vorschlag zu fügen.«

Vallance wagte es nicht, zu Bond oder Tanner zu schauen. »Ich denke, wir sollten von einer Nachrichtensperre absehen, Sir. Der Admiral hat jede Menge Kontakte, und wir wollen schließlich nicht, dass diese Leute anfangen, Fragen zu stellen. Ich schlage einen kurzen, beiläufigen Absatz vor, in dem steht, dass seine Unpässlichkeit noch andauert und er den Rat erhalten hat, sich gründlich auszuruhen.«

»Ausgezeichnet. Ich überlasse Ihnen die Umsetzung. Also – sonst noch Vorschläge? Egal wie vage. Irgendjemand …?«

Crawford regte sich. »Nun, Sir, wenn ich vielleicht …«

»Sprechen Sie, Inspector. Bitte, sprechen Sie.« Erneut bildeten sich Lachfältchen um Sir Ranalds Augen. »Ihr Beitrag ist äußerst willkommen.«

»Es geht um dieses Stück Papier mit den Namen und Nummern, das wir uns vorhin angesehen haben. Wir fanden es zerknüllt in der Brieftasche des Mannes. Soweit ich weiß, bearbeiten die Dechiffrierungsexperten immer noch eine Kopie des Blattes, sind sich aber fast sicher, dass es Zeitverschwendung ist, weil sie über zu wenige Informationen verfügen. Ich habe mich gefragt, ob wir uns das vielleicht selbst noch mal ansehen sollten. Haben wir schon die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es sich um Telefonnummern handeln könnte?«

»Ich fürchte, diese Idee führt zu nichts, Inspector«, sagte Tanner und rieb sich müde die Augen. »›Christiana‹ sieht natürlich wie Christiania in Norwegen aus, ›Vasso‹ könnte für Vassy im Nordosten Frankreichs stehen und wir alle wissen, wo Paris liegt, aber wir brauchten nicht einmal zehn Minuten, um festzustellen, dass diese Nummern ebenso wenig zu den Fernsprechämtern in diesen drei Orten passen wie beispielsweise Whitehall 123 zu London. Falls es sich um Telefonnummern handelt, sind sie vermutlich mithilfe einer Art Substitutionssystem verschlüsselt, das wir nicht knacken können, also stehen wir wieder am Anfang. Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen.«

»Könnte es sich um Kartenbezüge handeln?«, warf der Ministerialrat ein.

Tanner schüttelte den Kopf. »Die Anzahl der Ziffern stimmt nicht.«

»Eigentlich, Sir«, fuhr der Inspector mit ruhiger Beharrlichkeit fort, »meinte ich es nicht ganz so. Nehmen Sie mal das Wort, das wir noch nicht erwähnt haben – Antigone. Welche Assoziation ruft das bei den Leuten hervor?«

»Griechische Tragödie«, sagte Tanner. »Von Sophokles, nicht wahr? Das könnte ein Codewort für weiß der Himmel was sein.«

»Das ist möglich, Sir. Aber Antigone ist nicht nur eine griechische Tragödie, richtig? Es ist auch ein griechischer Name. Ein Frauenname. Ich weiß nicht, ob er dort heutzutage noch gebräuchlich ist, aber ich weiß, dass das auf viele andere dieser klassischen Namen zutrifft. Und Christiana. Klingt das nicht auch wie ein Frauenname, so ähnlich wie Christine, Christina und so weiter? Christiana könnte die griechische Variante sein. Und Paris ist natürlich auch ein griechischer Name.«

Bill Tanner stand abrupt auf und eilte zu einem Telefon, das auf einem mit Tinten- und Zigarettenbrandflecken übersäten Tisch an der Wand stand.

»Was Vasso angeht, fürchte ich, dass ich nicht …«

»Worauf wollen Sie hinaus, Inspector?«, unterbrach ihn Sir Ranald, der nun wieder sein ursprüngliches Verhalten an den Tag legte.

»Dass unser Mann nach Griechenland reisen wollte und sich von irgendwoher ein paar Telefonnummer besorgt hat, damit er sich dort ein wenig weibliche Gesellschaft verschaffen konnte, falls er Lust darauf bekäme. Ich denke, dass diese Zahlen allesamt Telefonnummern desselben ungenannten Fernsprechamts sind. Vermutlich ein recht großes. Möglicherweise Athen. Oder zumindest sollen wir das denken.«

Sir Ranald runzelte die Stirn. »Aber Paris ist ein Männername. Ich glaube kaum …«

»Ganz richtig, Sir, der Entführer der Helena von Troja, der Mann, der den Trojanischen Krieg auslöste. Aber wenn Sie noch einmal genauer hinschauen …«

Crawford reichte ihm das kleine krumplige Blatt aus billigem liniertem Papier. Der Minister hatte noch immer die Stirn gerunzelt, setzte sich eine Brille mit einem schweren schwarzen Gestell auf die Nase und starrte auf die mit Kugelschreiber gekritzelten Wörter. Er schnaubte. »Nun?«

»Direkt über ›Paris‹, gleich dort, Sir … Es ist sehr undeutlich, aber für mich sieht es so aus, als stünde da ›Falls Angebote ausfallen‹ oder ›wegfallen‹. Falls Antigone und die anderen beiden unterwegs sein oder sie ihm nicht gefallen sollten oder sonst etwas, würde Paris in der Lage sein, ihm eine passende Dame zu besorgen.«

»Mm.« Sir Ranald nahm die Brille wieder ab und kaute auf dem Bügel herum. Seine Augen huschten kurz zu Tanner, der noch immer telefonierte. »Was sagten Sie darüber, dass wir das denken sollen?«

»Für mich sieht das nach einem absichtlich platzierten Hinweis aus, Sir. Wenn er echt ist, ist er uns aufgrund von mindestens drei Fehlern in die Hände gefallen. Sie haben die Leiche nicht weggeschafft. Sie haben die Taschen des Toten nicht geleert. Und sie haben die Taschen nicht einmal durchsucht. Nun ja …«

»Sie meinen, das ist eine falsche Fährte?«

»Nein, Sir, ganz im Gegenteil. Es ist ein direkter Fingerzeig in Richtung Griechenland, deutlich genug, aber nicht zu deutlich.«

Tanner legte auf und kehrte an seinen Platz zurück. Er warf Crawford einen Blick zu, der in seinem Ansehen soeben gestiegen war.

»Mary Kyris aus der Botschaft zufolge sind alle vier absolut gebräuchliche moderne griechische Vornamen. Und die Zifferngruppen könnten Telefonnummern in Athen, Thessaloniki und ein paar anderen Städten sein.«

»Wir sind etwas auf der Spur, meine Herren«, sagte Sir Ranald, und seine Augen verschwanden fast zwischen den Fältchen. »Wir sind etwas auf der Spur.«

»Und wir wissen genau, was.«

James Bonds Kopf ruhte auf seinen Händen, seit er vor einer Viertelstunde zum letzten Mal gesprochen hatte. Er hatte fast so gewirkt, als wäre er eingeschlafen. Und er hatte tatsächlich darum kämpfen müssen, sein erschöpftes Hirn dazu zu zwingen, den Verlauf dieser Diskussion unablässig zu analysieren und auszuwerten. Als seine Stimme durch den niedrigen, raucherfüllten Raum hallte, setzte er sich in seinem Stuhl auf und starrte Tanner an.

»Inspector Crawford hat recht. Es ist ein platzierter Hinweis. Oder nennen wir es einen Köder. Sie waren sehr erpicht darauf, mich in ihre Pläne zu involvieren. Das sind sie eindeutig immer noch. Die Namen und Nummern auf dem Papier sind eine brillante Improvisation, die geschaffen wurde, um mich dazu zu bringen, ihrer Spur mit Höchstgeschwindigkeit zu folgen. Was ich natürlich tun muss. So wie die Dinge stehen, hätten sie genauso gut GRIECHENLAND auf den Zettel schreiben und es dabei belassen können.«

Tanner nickte langsam. »Wo wollen Sie anfangen?«

»Ganz egal«, erwiderte Bond. »Sagen wir, Athen. Es spielt eigentlich keine Rolle, weil ich nicht nach ihnen suchen werden muss. Sie werden mich finden.«


NÄCHTLICHE BEOBACHTUNGEN

Die Insel Vrakonisi liegt auf halbem Weg zwischen den Küsten des südlichen Griechenlands und der südlichen Türkei. Genauer gesagt liegt sie in der Mitte des Dreiecks, das die drei größeren Inseln Naxos, Ios und Paros bilden. Wie ihre weiter entfernt liegende Nachbarinsel Santorin, fünfzig Kilometer südwestlich, ist Vrakonisi vulkanischen Ursprungs. Sie ist das Überbleibsel der Kraterwände eines riesigen Vulkans, der bereits in prähistorischen Zeiten erloschen ist. Uralte Erhebungen und Absenkungen haben ihr ein gezacktes Profil und ein missgestaltetes, halbrundes Rückgrat aus Hügeln verliehen, die an manchen Stellen eine Höhe von über dreihundertsechzig Metern erreichen. Aus der Luft sieht Vrakonisi wie die Klinge einer Sichel aus, die ein sehr betrunkener Mann gezeichnet hat. Die Spitze der Klinge ist abgebrochen, sodass einhundert Meter Ägäis zwischen dem Hauptteil der Insel und einem kleinen namenslosen Inselchen an ihrem nördlichen Ende liegen. Dieses Inselchen ist bewohnt, aber abgesehen von ein paar Fischerhütten steht dort nur ein einziges Haus, ein langes, niedriges Gebäude aus strahlend weiß getünchten Steinen zwischen Palmen und Kakteen am äußersten Ende. Der Besitzer, ein Jachtbauer aus Piräus, vermietet es in den Sommermonaten an ausländische Besucher.

 

In diesem speziellen Sommermonat wurde das Haus von zwei Männern bewohnt, die laut ihren Pässen Franzosen waren. Es handelte sich um mürrische, wortkarge Männer, deren Hautfarbe erahnen ließ, dass sie nur wenig Zeit in der Sonne verbrachten. Ihr Verhalten verstärkte diese Schlussfolgerung noch. Manchmal konnte man ihre blassen Körper in bunten Badehosen auf Liegestühlen sehen, eine Situation, in der sie sich eindeutig nicht wohlfühlten. Sie lagen dann immer über dem kleinen privaten Ankerplatz, der während ihres gesamten bisherigen Aufenthalts ungenutzt geblieben war, oder wateten mürrisch und sehr schnell hindurch. Für lange Zeit bekam man sie gar nicht zu Gesicht. Sie hatten das Auftreten von Männern, die die Zeit totschlugen, bis sie endlich anfangen konnten, das zu tun, weswegen sie den ganzen weiten Weg gekommen waren.

Ihre Identitäten, ihre Absichten und noch sehr viel mehr waren Colonel Sun Liang-tan vom Komitee für besondere Aktivitäten der Volksbefreiungsarmee bestens bekannt. Die beiden Männer auf dem Inselchen befanden sich außerhalb der Sichtweite des Colonels, als er am Fenster eines kleineren und sogar noch schlechter zugänglichen Hauses saß, das sich auf der Hauptinsel befand. Um auch nur die Chance auf einen Blick auf sie zu erhalten, hätte er nach draußen gehen und sich über eine überwucherte Hügellandschaft bis zu einem Punkt begeben müssen, der etwa fünfundsiebzig Meter über dem Meeresspiegel lag. Von dort aus hätte er dann über die weiter entfernten Abhänge, die Wasserausdehnung und das siebzig Meter lange Inselchen blicken müssen, also insgesamt etwa einen Kilometer weit. Doch seit er in der vergangenen Nacht über den Wasserweg hier eingetroffen war, hatte Colonel Sun das Haus nicht für einen Augenblick verlassen. Der sofort erkennbare asiatische Gesichtstyp an sich hat die Ausbreitung der chinesischen Infiltrierung und Spionage in den westlichen Ländern ernsthaft behindert, abgesehen von Ländern wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien, in denen Asiaten kein ungewöhnlicher Anblick sind. Auf den griechischen Inseln sind sie jedoch enorm selten anzutreffen. Niemand auf Vrakonisi und auch niemand außerhalb Chinas wäre auch nur auf die Idee gekommen, dass hier in diesem Augenblick womöglich ein Chinese anwesend sein könnte.

Und niemand, der einen kurzen Blick auf den Colonel warf, hätte Zweifel an seiner Herkunft hegen können. Für einen Chinesen war er groß, fast eins achtzig, und er zählte zu den nördlichen Typen, die mit den Khampa-Tibetanern verwandt waren und große Knochen sowie lange Köpfe hatten. Doch seine Hautfarbe war von dem vertrauten matten Hellgelb, das Haar blauschwarz und vollkommen glatt, die Epikanthus-Falte der Augenlider deutlich ausgeprägt. Nur wenn man Sun direkt in die Augen sah, schien er nicht vollständig chinesisch zu sein. Die Iris waren von einem ungewöhnlichen und wunderschönen Zinngrau, wie die Augen eines Neugeborenen, möglicherweise das Vermächtnis eines mittelalterlichen Eindringlings aus dem Volk der Kirgisen oder Naimanen. Allerdings schauten Sun nicht viele Menschen direkt in die Augen. Zumindest nicht zwei Mal.

Der Colonel saß weiterhin auf seinem harten Holzstuhl, während es draußen dunkel wurde. Normalerweise war er ein unersättlicher Leser, doch heute Nacht bereitete er seinen Geist und seine Sinne auf das vor, was vor ihm lag. Zwei Mal rauchte er eine Zigarette, inhalierte den Rauch aber nicht, sondern ließ sie einfach zwischen seinen Lippen abbrennen. Es waren britische Zigaretten der Marke Benson & Hedges. Sun teilte die oft geäußerte Verachtung seiner Kollegen – in manchen Fällen vermutete er, dass es sich eher um Gewohnheit als um aufrichtige Abscheu handelte – für alles Britische nicht. Er schätzte viele Aspekte dieser Kultur und fand es in mancher Hinsicht bedauerlich, dass ihr nur noch so wenig Zeit blieb.

Die Männer (er hatte keine ihrer Frauen kennengelernt) hatten oft seine Bewunderung geweckt. Er war den Briten zum ersten Mal im September 1951 begegnet, in einem Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Pjöngjang in Nordkorea. Dort hatte er als zwanzigjähriger Subalternoffizier in der Funktion eines stellvertretenden Verhörberaters unter Major Pak von der nordkoreanischen Armee gedient und die Gelegenheit gehabt, die britischen Soldaten sehr genau kennenzulernen. Nach dem September des Jahres 1953, als auch die Letzten von ihnen in die Heimat zurückgeschickt worden waren, beschränkte sich seine Erfahrung mit westlichen Menschen fast ausschließlich auf Franzosen, Australier und Amerikaner: in vielen Fällen interessante Persönlichkeiten, aber nichts im Vergleich zu den Briten – »seinen« Briten, wie er sie im Geiste bezeichnete. Er musste sich mit gelegentlichen Spionen begnügen, die innerhalb Chinas gefangen genommen worden waren, oder hin und wieder auf einen Gefangenen der US Army zurückgreifen, den man in Südvietnam aufgegriffen hatte und der sich dann als kürzlicher Einwanderer aus dem »Alten Land« herausstellte. Glücklicherweise war sein Ruf als Verhörführer und Experte für die Briten bei seinen Vorgesetzten bestens bekannt und hatte sogar die Ohren des Zentralkomitees erreicht, sodass es in der Tat nur selten vorkam, dass man einen britischen Gefangenen nicht an ihn weiterreichte. Doch die letzten dieser Gelegenheiten lagen nun schon fast sechs Monate zurück. Der Colonel konnte das leichte Kribbeln der Vorfreude bei dem Gedanken an die heutige nächtliche Wiedervereinigung mit seinen Briten und die zweiundsiebzig Stunden des ununterbrochenen Kontakts, die darauf folgen würden, nicht unterdrücken. In der Dunkelheit richteten sich seine zinngrauen Augen auf ihr Ziel.

Dann ertönte ein leises Klopfen an der Tür. »Ja, bitte komm herein«, rief Sun freundlich auf Englisch.

Die geöffnete Tür ließ einen Lichtstrahl herein, der die Umrisse einer jungen Frau umgab. Zögernd erwiderte eine von Natur aus barsche, aber leise Stimme: »Darf ich das Licht anschalten, Genosse Colonel?«

»Lass mich nur die Fensterläden schließen … Gut.«

Die plötzliche Helligkeit der nackten Glühbirne fiel auf einen blanken Steinboden, vier weiß getünchte Wände, einen billigen, unauffälligen Tisch und einen ebenso billigen und unauffälligen unbesetzten Stuhl. Die Verhörraumatmosphäre beruhigte den Colonel und fachte in einer Zeit wie dieser auch seinen Eifer an.

Nun blinzelten seine Augen weder aufgrund der plötzlichen Helligkeit noch angesichts des Anblicks der Frau, was sie durchaus hätten tun können, obwohl er sie seit seiner Ankunft auf der Insel schon ein Dutzend Mal gesehen hatte.

Die Albaner sind als Rasse nicht unbedingt für ihre Schönheit bekannt. Natürlich sind sie weniger eine Rasse als das Endprodukt einer Vermischung der ansässigen Völker – Römer, Slawen, Griechen, Turko-Tataren. Hin und wieder bringt dieser Vererbungscocktail allerdings ein Individuum hervor, das selbst nach den hohen Ansprüchen des östlichen Mittelmeerraums als körperlich attraktiv gilt. Die drei- undzwanzigjährige Doni Madan, Bürgerin von Korça im Südosten Albaniens und Besitzerin eines zeitlich begrenzten griechischen Passes (der dank der chinesischen Überwachung mit ungewöhnlicher Fachkenntnis in Tirana gefälscht worden war), war körperlich attraktiv.

Sie trug eine hautenge, niedrig geschnittene schlangengrüne Hose aus Thai-Seide und dazu eine einfache türkise Jacke aus dem gleichen Material sowie Ferragamo-Slipper aus besticktem Leder. Sonst nichts: Selbst in zwanzig Metern Entfernung zum offenen Meer können milde Septembernächte in diesen Breitengraden heiß und schwül sein. Obwohl diese Kleidung ausschließlich ausgewählt worden war, um deutlich zu machen, dass Doni zur standesgemäßen Hausgesellschaft eines wohlhabenden kosmopolitischen Urlaubers gehörte, hatte sie an ihr eine ganz besondere Wirkung.

Doni war etwas größer als eine durchschnittliche Frau und nur ein paar Zentimeter kleiner als Sun selbst, aber schlank und zierlich gebaut, mit einer schmalen Taille und großzügigen Rundungen an den entsprechenden Stellen. Ihre breiten Hüften und ihr ganz leicht hervortretender Bauch spannten den Stoff der Hose, und ihre üppigen Brüste sorgten dafür, dass die lässig zugeknöpfte Jacke gerade so weit reichte, dass ihre Taille frei lag. In ihren Wangenknochen und ihren stark ausgeprägten Kiefern spiegelte sich Asien, im ganzen Rest, abgesehen von den fast schwarz wirkenden dunkelbraunen Augen, Kleinasien. Der gerade, aber voluminöse Mund verriet hingegen, dass es unter ihren Vorfahren Menschen aus Venedig gegeben haben musste. Ihr hellbraunes Haar, das sie in einem einfachen Pagenschnitt trug, stellte einen seltsamen und aufregenden Kontrast zu ihrer feinen dunklen Hautfarbe dar. Sie stand in der Türöffnung des kahlen Raums und hatte eine passiv aggressive Haltung eingenommen, die Sun nicht einmal als Mann wahrnahm.

Alles noch Offensichtlichere wäre zweifellos verschwendet gewesen. Sun Liang-tan empfand nichts für Frauen, auch wenn er, falls man ihn zu diesem Thema befragt hätte, recht mechanisch geantwortet hätte, dass er sie als Ehefrauen, Mütter und Trostspenderinnen der Männer respektierte. Er schaute in Donis Richtung und fragte einfach: »Ja?«

»Ich mich frage, ob Sie essen wünschen«, erwiderte die leise, barsche Stimme.

Donis Italienisch, Serbokroatisch und Griechisch waren idiomatisch und relativ akzentfrei. Für ihr Englisch galt das nicht, aber mit ihrem derzeitigen Herrn konnte sie nicht anders kommunizieren. Gezwungen zu sein, die Sprache des Feindes zu benutzen, um mit europäischen Agenten zusammenzuarbeiten, bereitet chinesischen Staatsfeinden oft Probleme, aber die leichte Gereiztheit, die Sun nun zeigte, rührte von einem gegenteiligen Gefühl her.

Er verschränkte seine Finger hinter seinem langen Kopf und lehnte sich so weit zurück, wie der Stuhl es erlaubte. In seinem weißen T-Shirt und der ungefärbten Baumwollhose gab er ein seltsames halb verwestlichtes Bild ab. »›Ich habe mich gefragt‹«, korrigierte er langsam, »›ob Sie vielleicht etwas essen möchten. Ob Sie gerne … ob Sie Lust auf etwas zu essen hätten. Ob Sie möchten, dass ich schnell etwas zaubere.‹ Nein, das würden die Amerikaner sagen. ›Ob Sie Lust auf einen kleinen Snack hätten.‹ Versuch, nicht bei allem, was du sagst und tust, wie eine Bäuerin zu wirken, meine Liebe. Und die Antwort lautet Nein. Nein danke. Im Moment nicht. Wir sollten lieber noch ein wenig warten, bis deine Freunde zu uns stoßen, in Ordnung? Es dürfte nicht mehr lange dauern.«

Das Englisch des Colonels war durchaus korrekt – er hatte die Sprache zwei Jahre lang an der Universität von Hongkong studiert –, aber an seiner Aussprache hätte jeder Phonetiker seine helle Freude gehabt. Seine schnelle Auffassungsgabe für Sprachen und sein leidenschaftlicher Wunsch zu lernen hatten in Kombination mit einer vollkommenen Unkenntnis des britischen Dialektmusters zu einer Art Sprachsalat aus regionalen Eigentümlichkeiten geführt. Die Dialekte aus Manchester, Glasgow, Liverpool, Belfast, Newcastle, Cardiff und diversen Stadtteilen Londons wechselten sich in aufeinanderfolgenden Silben mit denen der Oberschicht ab. Das Ergebnis hätte einfach nur bizarr, ja sogar lächerlich klingen können, wäre es in Begleitung einer anderen Art von Blick aus einem anderen Mund als aus Suns gekommen.

Doni schaute seitlich an ihm vorbei. »Tut mir leid, Genosse Colonel«, sagte sie demütig. »Ich weiß, mein Englisch nicht gut.«

»Zumindest ist es besser als das der anderen«, entgegnete Sun mit einem toleranten Lächeln. Seine Lippen waren dunkel und hatten die Farbe von getrocknetem Blut, seine Zähne neigten sich vom Zahnfleisch leicht nach innen. Er fuhr fort: »Aber Schluss mit diesem ›Genosse Colonel‹. Du klingst wie jemand in einem progressiven Theaterstück. Nenn mich Colonel Sun. Das ist freundlicher. Und ich habe genug von dieser Einsamkeit – wir sollten geselliger werden, nicht wahr? Wo sind die anderen?«

 

Gefolgt von Doni verließ er den Raum, ging durch einen gepflasterten Korridor und in den Hauptwohnraum des Hauses, ein hohes luftiges Zimmer mit einem gepflasterten Boden, der leicht uneben war, und herrlichen formschönen Möbeln aus Olivenholz, die auf der Insel hergestellt worden waren. Die bunt gemusterten modernen Teppiche und Kissen sowie die beiden mittelmäßigen abstrakten Gemälde an der Rauputzwand wirkten irgendwie unpassend. Offene Doppeltüren führten auf eine schmale Terrasse mit Klappstühlen und einem niedrigen Tisch, dahinter lag nur das Meer. Es war glatt und ruhig und wurde so hell vom schnell aufgehenden Mond beleuchtet, dass es sowohl unendlich flüssig als auch unmöglich flach wirkte, ein hauchdünnes Laken aus Wasser, das sich bis zum Rand des Himmels erstreckte. Unsichtbare kleine Wellen verursachten ein leises Rauschen auf dem Kiesstreifen zwischen den beiden kurzen Molen des Ankerplatzes.

Sun stand einen Moment lang an der Tür und hielt sich bewusst im Schatten verborgen, während er auf das Wasser starrte. Er hatte das Meer seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen, und der Anblick faszinierte ihn nach wie vor. Es war das Element der Briten, auf dem sich die Männer von diesen kalten Inseln vor langer Zeit hinausgewagt hatten, um ein Viertel der Welt unter ihre Kontrolle zu bringen. Ein perfekter Schauplatz, dachte Sun begeistert und drehte sich wieder zum Raum um.

Die junge Frau, die ausgestreckt auf der quadratischen Schlafcouch lag, schaute schnell zu ihm hoch. Sie war so groß wie Doni, hatte die gleichen fast schwarzen Augen und trug die gleiche Kleidung (in ihrem Fall eine schwarze Hose und eine weiße Jacke), aber aufgrund ihrer Schlankheit wirkte die andere Frau neben ihr fast plump. Mit ihren langen Beinen und hohen Brüsten sowie dem elegant geformten kleinen dunkelhaarigen Kopf mit dem jungenhaften Kurzhaarschnitt war Luisa Tartini nicht nur dem Namen nach Italienerin. Genau wie Doni hatte jedoch auch sie die albanische Staatsangehörigkeit und besaß einen ähnlichen Pass. Aber sie wies nicht einmal ansatzweise die gleiche Unterwürfigkeit auf wie ihre Gefährtin, und in ihrem auf Sun gerichteten Blick lagen nun Abneigung und Angst.

Sun schien das nicht zu bemerken. »Was für ein schöner Abend«, sagte er freundlich. »Und wie dekorativ du dort aussiehst, meine Liebe.«

»Ist langweilig«, erwiderte Luisa schmollend und bewegte ihre schlanken Beine, damit Doni sich neben sie setzen konnte. »Was wir hier machen?«

»Wie ich dir bereits erklärt habe, besteht deine Hauptfunktion darin, unserer kleinen Gesellschaft den Anschein einer Gruppe von Freunden zu verleihen, die gemeinsam Urlaub machen. Das ist nicht sehr anspruchsvoll. Aber heute Nacht werden deine Pflichten, ähm, erweitert werden. Du und Doni werdet euch ein paar Männern zur Verfügung stellen, die bald hier eintreffen werden. Das mag sich als wesentlich anspruchsvoller erweisen.«

»Was für Männer?«, fragte Luisa und setzte sich auf, sodass ihre Schulter Donis berührte. »Wie viele?«

»Insgesamt sechs. Zwei sind Reaktionäre, um die ihr euch nicht weiter kümmern müsst. Die anderen vier sind Friedenskämpfer, die auf einer gefährlichen Mission waren. Ihr beide sollt ihnen den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich machen.«

Die jungen Frauen sahen sich an. Luisa zuckte mit den Schultern. Doni setzte ein schläfriges Lächeln auf und legte einen braunen Arm um Luisas Taille.

»Und nun … Ah, genau rechtzeitig, Jewgeni. Was für ein guter Diener du bist. Du solltest das beruflich machen!«

Das vierte Mitglied des Haushalts, ein stämmiger, grobschlächtiger Russe, schob sich mit einem Tablett voller Getränke in den Raum. Jewgeni Rjumin hatte sich in der sowjetischen Botschaft in Peking unterbezahlt und perspektivlos gefühlt und war vor zehn Jahren ohne viel Aufhebens übergelaufen. Sein neuer Herr hatte schnell festgestellt, dass er zwar fantasielos, aber durchaus fähig und außerdem recht skrupellos war. Diese Eigenschaften sowie die Tatsache, dass er Europäer war, machten ihn in Suns Gruppe zu einem wunderbaren Mädchen für alles. Er stellte das Tablett auf einen stabilen runden Tisch und drehte seinen kurzgeschorenen Kopf in Richtung der Frauen.

Der Colonel beobachtete mit einem großzügigen Lächeln, wie Luisa einen Wodka on the rocks und Doni ein Fix-Bier gereicht bekam. Er selbst lehnte den angebotenen Drink ab und bedeutete dem Russen freundlich, sich zu nehmen, was er wollte.

Mit den Händen in der Tasche wandte sich Sun ab und schlenderte in Richtung der offenen Tür. Dort hielt er inne, stand einen Augenblick lang ganz still da und schaute auf seine Uhr, ein Modell von Longines mit Stahlgehäuse, das er nun seit fast fünfzehn Jahren besaß. Ihr früherer Besitzer, ein Captain des Gloucestershire-Regiments, war im Zuge eines Verhörs so tapfer gestorben wie nur wenige Männer, die Sun in seinem Leben kennengelernt hatte. Die Uhr war ein kostbarer Besitz, ein Andenken, keine Trophäe. »Jewgeni«, rief Sun barsch über seine Schulter. »Die Lichter. Alle.«

Rjumin stellte das Fix ab, von dem er gerade getrunken hatte. »Alle?«

»Alle. Was nicht verborgen werden kann, sollte offen zur Schau gestellt werden. Dort kommen die restlichen Gäste unserer kleinen Privatparty.«

Direkt unter dem Kamm der Hügelkette über dem Haus lagen die beiden Männer von dem Inselchen unter einem verkrüppelten Feigenbaum und sahen, wie die Terrasse und der Ankerplatz in gleißendes Licht getaucht wurden. Sie beobachteten das langsam näher kommende Motorboot und warteten reglos und stumm, während die Leinen ausgeworfen und festgemacht wurden. Der Wind trug fernes Gelächter und Begrüßungsrufe an ihre Ohren. Drei Männer gingen an Land. Einer von ihnen benötigte ein wenig Hilfe, die anderen beiden sprangen vom Boot und wurden sofort von den beiden Frauen aus dem Haus in Empfang genommen. Der Diener kümmerte sich um ein paar Koffer. Die Gesellschaft zog sich ins Innere des Hauses zurück. Das Boot, dessen Motor leise tuckerte, entfernte sich vom Ufer und wandte sich nach Westen. Zweifellos bereitete es sich darauf vor, die kleine Insel zu umrunden und den öffentlichen Anlegeplatz in der Mitte der inneren Bucht Vrakonisis anzusteuern.

In den Hügeln schaute der eine Mann den anderen an und breitete seine Hände aus. Die beiden standen auf und nahmen ihre mühselige und erfolglose Patrouille wieder auf. Sie mussten in dieser Nacht noch elf weitere Häuser überprüfen.

Im Haus saß Sun Liang-tan und beäugte die drei Neuankömmlinge. Er sagte nichts.

Der schwarzhaarige bewaffnete Mann, der James Bond vor dreißig Stunden vom Sunningdale-Golfplatz zum Achterdeck gefolgt war, ergriff das Wort. »Bond«, begann er, doch seine Kehle war trocken und er musste sich räuspern. »Bond ist uns in England entwischt.«

Sun nickte. Sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos.

»Aber es wurden bereits Maßnahmen getroffen, um diesen Fehler wiedergutzumachen, und es besteht durchaus Grund zu der Hoffnung, dass er sich innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden in unserer Gewalt befinden wird«, erklärte der Mann hölzern, als würde er etwas wiedergeben, das er auswendig gelernt hatte.

Sun nickte erneut.

»HNC-16 wirkt nur dann umgehend, wenn es intravenös verabreicht wird«, ergänzte der zweite Mann. »Er hat sich so heftig gewehrt, dass mir lediglich eine intramuskuläre Injektion gelang, was bedeutet, dass er sich …«

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