Weltordnungskrieg

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Der „Kampf der Kulturen“ als Kriegsideologie

Die neue Weltpolizei und ihre Hightech-Eingreiftruppen werden definiert durch die „politische Weltkriminalität“, wie sie sich für das Verständnis kapitalistischer Logik darstellt und in vieler Hinsicht an die Stelle des bisherigen staatskapitalistischen „Reichs des Bösen“ im Osten tritt: Wieder gibt es, nur in anderer Weise, einen gemeinsamen Gegner, dem gegenüber die Differenzen innerhalb des kapitalistischen Zentrums (soweit sie nicht ohnehin durch den Status der USA gegenstandslos gemacht wurden) weiter verblassen. Dabei geht es angesichts der Warlords und plünderungsökonomischen Strukturen um eine manifeste oder befürchtete Störung kapitalistischer Funktionsgesetze, die niemals aus dem Inneren dieser Logik selbst abgeleitet wird, sondern immer aus dem äußerlichen subjektiven Fehlverhalten von moralisch zu verurteilenden Personen, Institutionen und „Mächten“ aller Art. Diese werden in bestimmten Fällen zu Feinden erklärt, die man auch militärisch-weltpolizeilich bekämpfen muss.

Aber im Unterschied zur imperialen Konkurrenz auf gleicher Ebene ist der Konflikt in der neuen Konstellation gar nicht eindeutig darzustellen. Weil sich die demokratischen Weltpolizisten im Vergleich zur politisch-militärischen „Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln“ in den vergangenen Epochen schwer damit tun, ein kohärentes Feindbild hinsichtlich der „Störer“ des kapitalistischen Weltsystems aufzubauen, schleicht sich eine seltsame Willkür in den Definitionen ein. Je schwankender die Bestimmungen, desto erbärmlicher der doppelzüngige demokratische Moralismus. Kunststück, handelt es sich doch um die eigenen Krisengespenster, die verjagt werden sollen, gerade um die dieser Krise zu Grunde liegende Produktionsweise unter allen Umständen zu erhalten: Ein weiterer Hinweis darauf, dass die kapitalistische Irrationalität eine neue und zusätzliche Dimension gewonnen hat.

In der Not der absoluten Definitionsmacht, die dennoch nichts mehr definieren kann, gibt es Versuche wie den des Harvard-Professors Samuel P. Huntington, den demokratischen Weltordnungskrieg des Westens gegen seine eigenen Dämonen zum „Kampf der Kulturen“ (The Clash of Civilizations) zu überhöhen (Huntington 1996), um dem „ideellen Gesamtimperialismus“ ein neues Feindbild zu bescheren; insbesondere gegenüber dem „islamischen Krisenbogen“ von Pakistan bis Nordafrika. Huntington versucht, den negativ universalisierten totalen Raum des einheitlichen real-ökonomistischen Weltsystems als stummen Hintergrund wegzublenden, um die aus diesem Raum aufsteigenden Barbarisierungsprozesse in ein Ringen von einander ganz äußerlichen und fremden „Kulturen“ oder „Zivilisationen“ umzudeuten. Während der westliche „ideelle Gesamtimperialismus“ mit harter Hand eine in ihrer materiellen Reproduktion durch und durch nach seinem Bilde geformte Welt beherrscht, mit der er großenteils gar nichts mehr anfangen kann, beschwört Huntington kontrafaktisch eine angeblich „wachsende Macht nichtwestlicher Kulturkreise“ (Huntington 1996, 507).

Da sich außer dem als „konfuzianisch“ ausgemalten China zum Beleg dieser dreisten Behauptung nur die (untereinander verfeindeten, keineswegs einheitlichen) islamischen Sektenbewegungen, Terrorgruppen, Massenstimmungen etc. und die einigermaßen klägliche und rückständige Aufrüstung einiger islamischer „Schurkenstaaten“ anführen lassen, muss Huntington eine historische Erbfeindschaft zwischen Abendland und Islam konstruieren, die für die heutige Weltlage ungefähr so erhellend ist wie die im Alten Testament beschriebenen Konflikte, die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern oder die Kreuzzüge des 11. und 12. Jahrhunderts.

Dass es bei diesem anachronistischen Bezug nicht bloß um die weltpolizeiliche Eindämmung terroristischer Attacken geht, sondern tatsächlich um die Konstruktion eines umfassenden, vermeintlich globalstrategischen Feindbilds, daran lässt Huntington keinerlei Zweifel; wettert er doch ausdrücklich gegen alle westlichen „Weicheier“ und Multikultis: „Manche Westler, unter ihnen auch Präsident Bill Clinton, haben den Standpunkt vertreten, dass der Westen Probleme nicht mit dem Islam, sondern mit gewalttätigen islamistischen Fundamentalisten habe. Die Geschichte der letzten 1400 Jahre (!) lehrt etwas anderes. Die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Christentum - dem orthodoxen wie dem westlichen - sind häufig stürmisch gewesen. Sie betrachten sich gegenseitig als den Anderen. Der Konflikt zwischen liberaler Demokratie und Marxismus-Leninismus im 20. Jahrhundert war ein flüchtiges und vordergründiges Phänomen, verglichen mit dem kontinuierlichen und konfliktreichen historischen Verhältnis zwischen Islam und Christentum. Manchmal stand friedliche Koexistenz im Vordergrund; häufiger war das Verhältnis eine heftige Rivalität oder ein heißer Krieg unterschiedlicher Intensität… Die Ursachen für den erneuten Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen sind … in grundlegenden Fragen der Macht und Kultur zu suchen… Wer (beherrscht) wen? Diese zentrale Frage jeder Politik, wie sie Lenin definiert hat (!), ist die Wurzel des Ringens zwischen dem Islam und dem Westen… Solange der Islam der Islam bleibt (und er wird es bleiben) und der Westen der Westen bleibt (was fraglicher ist), wird dieser fundamentale Konflikt zwischen zwei großen Kulturkreisen und Lebensformen ihre Beziehungen zueinander weiterhin und auch in Zukunft definieren, so wie er sie 1400 Jahre lang definiert hat… Das tiefere Problem für den Westen ist nicht der islamische Fundamentalismus. Das tiefere Problem ist der Islam, eine andere Kultur, deren Menschen von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt und von der Unterlegenheit ihrer Macht besessen sind. Das Problem für den Islam sind nicht die CIA oder das US-amerikanische Verteidigungsministerium. Das Problem ist der Westen, ein anderer Kulturkreis, dessen Menschen von der Universalität ihrer Kultur überzeugt sind und glauben, dass ihre überlegene, wenngleich schwindende Macht ihnen die Verpflichtung auferlegt, diese Kultur über die ganze Erde zu verbreiten. Das sind die wesentlichen Ingredienzien, die den Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen anheizen“ (Huntington, a.a.O., 334 f., 339).

Solche Ausführungen hätte man noch bis vor kurzem normalerweise keinem Erstsemester in Geschichtswissenschaft durchgehen lassen. Dass Huntington überhaupt ernst genommen wird, zeigt an, wie tief das intellektuelle Niveau der westlich-demokratischen Ideologen gesunken ist. Es gehört schon einiges dazu, sich derart wilde und willkürliche Gleichsetzungen und Zuordnungen zu erlauben, deren rein phantasmatischer Charakter offensichtlich ist. War der Konflikt zwischen westlicher Marktdemokratie und östlicher Parteidiktatur, zwischen Privatkapitalismus und Staatskapitalismus, Konkurrenzsystem und bürokratischer Planung noch ein wirklicher Modernisierungskonflikt gewesen, nämlich derjenige zwischen dem westlichen kapitalistischen Zentrum und den historischen Nachzüglern der Peripherie, so hat Huntingtons Konstrukt keinerlei Realitätsbezug mehr. Es handelt sich vielmehr um den Versuch, die in den Kategorien des modernen warenproduzierenden Systems nicht mehr fassbaren Zersetzungsprozesse dieses Systems selbst in den Rahmen eines herkömmlichen Konflikts von „Mächten“ zu bannen und sie in Konflikte einer weitergehenden „Modernisierung“ umzudeuten, der sich der Islam angeblich verweigert - obwohl der größere Teil der Welt (nicht nur die moslemischen Länder) das völlige Scheitern der „Modernisierung“ bereits hinter sich hat und es gar keine weitere „Modernisierung“ mehr gibt.

Die daraus entstehenden Potentiale der Entmenschung und deren gewaltsame Entladungen als die Pseudo-Kontinuität eines 1400-jährigen Ringens zweier Religionen oder „Kulturkreise“ zu deuten, gehört in die Rubrik irrationaler Weltanschauungspolitik; vergleichbar allenfalls dem synthetischen Mythos von der „arischen Rasse“ und ihrem Äonenkampf gegen die „semitische“ Fremdrassigkeit etc. In Wirklichkeit ähnelt der ideelle Gegensatz von Osama bin Laden und US-Präsident Bush eher noch dem „unternehmenskulturellen“ Konflikt zwischen Coca Cola und Pepsi Cola als den religiösen Konfliktformulierungen vormoderner agrarischer Zivilisationen.

Die identitätspolitische Aufrüstung, wie Huntington sie empfiehlt und betreibt, hat keinerlei intellektuelle Stringenz aufzuweisen; sie ist theoretisch irrelevant und haltlos. Darauf kommt es freilich auch gar nicht an. Es geht allein um eine medial aufzubereitende Legitimation, und sei sie noch so absurd, für die Militärschläge der westlich-kapitalistischen Weltpolizei gegen die „Störpotentiale“ und „Unruheherde“, denen irgendwie eine Feindbezeichnung gegeben werden muss. Dass es ums Zuschlagen und um sonst gar nichts geht, auch daran lässt der neue Gobineau oder Chamberlain keinerlei Zweifel: „Die militärische Bedrohung aus dem Osten ist praktisch verschwunden, und nun richtet sich die Planung der NATO zunehmend auf potentielle Bedrohung aus dem Süden. Ein Analytiker der U.S.Army bemerkte 1992, die ‚Südliche Reihe‘ ersetze heute die Mittlere Front und werde ‚sehr rasch zur neuen Frontlinie der NATO‘… Diese Bedrohungen sind auch die Grundlage für das Verbleiben einer gewichtigen militärischen Präsenz der USA in Europa… Angesichts der Meinung, die Muslime und Westler derzeit voneinander haben, und angesichts des Aufstiegs des islamistischen Extremismus ist es kaum verwunderlich, dass im Anschluss an die iranische Revolution 1979 ein interkultureller Quasi-Krieg zwischen dem Islam und dem Westen ausbrach… Außerdem haben beide Seiten eingeräumt, dass dieser Konflikt ein Krieg ist… Auf westlicher Seite haben die USA sieben Länder als terroristische Staaten‘ eingestuft, von denen fünf muslimisch sind…“ (Huntington, a.a.O., 346 ff.).

 

Nun mag aber die Weltpolizei noch so hart zuschlagen, sie wird den Feind nicht wirklich treffen, weil sie ihm seinen richtigen Namen nicht geben kann. Versuche wie der von Huntington (der trotz oder gerade wegen seiner Flachheit eine gewisse Prominenz erhalten hat) können die Kohärenz des Feindbildes nicht zurückbringen. Diese ist mit dem Ende des bipolaren Weltkonflikts für immer entschwunden, da das praktisch universalisierte, monozentrische Weltsystem der Globalisierung eben kein „Außen“ mehr hat und damit auch keine Veräußerlichung des Feindbilds mehr ermöglicht.

Ideologie und Logik der Menschenrechte

Was denn nun eigentlich das neue „Böse“ ist (nicht im Sinne bloß gewaltsamer oder sonst wie inakzeptabler Handlungen, sondern seinem gesellschaftlichen, sozialen Wesen nach), lässt sich aus der verblendeten demokratischen Sicht nicht mehr an ihm selber eindeutig bestimmen, sondern es kann nur noch ein diffuses Erscheinungsbild barbarischer Tatbestände ex negativo durch Gegenüberstellung mit der Idealisierung „westlicher Werte“ benannt werden. Denn selbstverständlich ist es das unhinterfragbare Axiom dieser Ideologie, dass „Marktwirtschaft-und-Demokratie“ das an sich immer schon „Gute“ (oder jedenfalls für die Menschheit Bestmögliche) darstellen.

Zu der damit einhergehenden Begriffsheuchelei gehört auch die inzwischen bis zum Überdruss strapazierte Kategorie der „Menschenrechte“, die als Antidot zum Krisenfundamentalismus der Herausgefallenen und der Selbstverlorenen verkauft wird. Nachdem der Kapitalismus mit seiner stummen Funktionslogik große Teile der Welt ökonomisch in die Barbarei gebombt hat, erregt er sich „menschenrechtlich“ über eben diese von ihm selbst verursachte Barbarei und möchte sie nunmehr militärisch wegbomben, weil ihm nichts anderes mehr einfällt.

Tatsächlich machen jedoch die so genannten Menschenrechte schon ihrer bürgerlich-aufklärerischen Herkunft nach allein unter der Bedingung der „funktionierenden“ kapitalistischen Reproduktions- und Subjektform überhaupt Sinn - wenn auch nur einen ideologischen, der die zugrunde liegende negative und zwanghafte gesellschaftliche Beziehung mit Formeln einer Orwellschen Sprache verhüllt: „Mensch“ in diesem Sinne ist in Wahrheit nichts anderes als ein warenproduzierendes und geldverdienendes Wesen, das elementare „Rechte“ seiner Existenz, sogar das auf „Leben und körperliche Unversehrtheit“, überhaupt nur besitzen kann, soweit es etwas oder wenigstens sich selbst (und im äußersten Fall seine Organe) zu verkaufen hat, also seinerseits zahlungsfähig ist.

Nur in dem Sinne ist ein Mensch überhaupt rechtsfähig, also auch menschenrechtsfähig, dass er in den kapitalistischen Funktionsgesetzen funktionieren kann, die zum Naturgesetz der Gesellschaft erklärt worden sind. Man muss sich nur einmal die seit 200 Jahren immer wiederholten Essentials von Aufklärung, Liberalismus, Volkswirtschaftslehre und demokratischer Politik ansehen, um zu begreifen, dass „Menschsein“ hier nicht als leibliche Existenz von Individuen verstanden wird, sondern einzig und allein als Existenz von Subjekten der abstrakten „Arbeit“ in betriebswirtschaftlichen Funktionsräumen und des Warentauschs (sprich: der Realisationssphäre der Kapitalverwertung). Es wird unterstellt, „der Mensch“ sei in dieser Form zur Welt gekommen, die sich im Lauf der Geschichte nur systemisch „ausdifferenziert“ hätte. Und es wird unterstellt, dass sich „der Mensch“ als Mensch überhaupt nur in dieser Form darstellen könne, die ein Optimum seiner Entwicklungsmöglichkeiten garantiere.

Der Fall ist gar nicht vorgesehen, dass Menschen überhaupt als Menschen aus diesen Voraussetzungen herausfallen könnten. Genau dieser Fall ist aber im Zuge der dritten industriellen Revolution im Weltmaßstab massenhaft eingetreten. Der größere Teil der Weltbevölkerung kann beim besten Willen nicht mehr nach kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten funktionieren und ist schlicht „überflüssig“ geworden. Es wird zwar unterstellt, dass dieses Herausfallen nur vorübergehend sei. Aber selbst die dümmsten Ideologen der Menschenrechte wissen ganz genau, dass sich angesichts der erreichten Produktivitätsstandards des elektronisch aufgerüsteten Sachkapitals für die Mehrheit der „Überflüssigen“ in den Zusammenbruchsregionen die kapitalistische Funktionsfähigkeit nie wieder herstellen lässt. Das ist schließlich die Kehrseite der neuen Militärdoktrin im Namen der „Menschenrechte“.

Damit aber trifft auf diese Menschen die Voraussetzung nicht mehr zu, die in der aufklärerisch-kapitalistischen Definition des Menschen gemacht worden ist. Bei ihnen handelt es sich demzufolge nach der stummen kapitalistischen Logik auch nicht mehr um die Kategorie „Mensch“, auch wenn das selten offen gesagt wird, sondern nur implizit in der Definition selbst enthalten ist. Im Sinne dieser stummen Voraussetzung führen sich deshalb die „Menschenrechte“ in den globalen Zusammenbruchsregionen selber ad absurdum. Die Exekutoren der Krisenkonkurrenz führen eindrücklich diese Wahrheit vor, die das weltdemokratische Räsonnement bloß nicht zur Kenntnis nehmen will.

Es widerspricht in diesem Sinne durchaus nicht dem Begriff der Menschenrechte, wenn die Verfolgung, Folterung, Ausplünderung und Ermordung von Bevölkerungsgruppen dort weltpolizeilich bewusst hingenommen wird, wo sich die Machthaber, Warlords usw. durch Wohlverhalten auszeichnen und auf ihrem Territorium etwa US-Kampfbomber stationieren lassen (wie die Türkei oder Saudi-Arabien). Dieses Vorgehen, das sich schon bei den diversen „Stellvertreterkriegen“ in der Epoche der bipolaren Supermachtstruktur bewährt hatte, setzt sich im Kontext der monozentrischen Weltordnungskriege umso hemmungsloser fort, gerade weil das Feindbild immer schwammiger, unschärfer und bizarrer wird.

Da die Definition des „Menschen“ praktisch auf die Kompatibilität mit kapitalistischen Kriterien eingeengt ist, heißt das im Zweifelsfall: Interventionsrecht bricht physisches Existenzrecht, und dabei dürfen dann eben die menschlichen Späne beim Hobeln fallen. Schon im Vietnamkrieg und bei ähnlichen, kleineren Interventionen hatten die aufgeklärten USA derart barbarisch gemetzelt, dass Dschingis Khan vor Neid hätte erblassen müssen; und die angeblichen „chirurgischen Präzisionsschläge“ der neuen Weltordnungskriege, die gewohnheitsmäßige Bombardierung des Irak, die diversen Interventionen in Ex-Jugoslawien usw. haben ebenfalls locker in Kauf genommene mörderische Auswirkungen. Allein im Irak sind durch westliche Hightech-Waffen mehr als 100.000 Menschen umgekommen; die demokratische Bombergemeinschaft hat nur die steigenden Kosten des Vemichtungs-Sachkapitals zu beklagen.

Peinlicherweise macht sich der perfide Charakter der Menschenrechts-Legitimation gelegentlich sogar durch diplomatische Reibungsverluste innerhalb der institutionellen Trägersubjekte bemerkbar, wie sich etwa während des Kosovo-Krieges zeigte: „Die UNO-Menschenrechtskommissarin, Mary Robinson, hat nach ihrer Rückkehr aus Jugoslawien und anderen Staaten der Region die NATO-Kriegführung scharf kritisiert. In einem Interview mit der BBC sprach sie von nahezu wahllosen Angriffen auf militärische und zivile Ziele“ (Neue Zürcher Zeitung, 15.5.1999). Aber solche Äußerungen machen eine Offizielle, die sich einen Blick auf die Realität erlaubt, bei den zentralen weltdemokratischen Machtinstanzen nicht anders als in jeder Diktatur schnell zur persona non grata, die sich nur durch umso heftigeres Wohlverhalten rehabilitieren kann. Selbstverständlich bleibt ein solcher Ausrutscher medial im Kleingedruckten verborgen und völlig folgenlos. Weder das legitimatorische Konstrukt noch das tatsächliche Vorgehen werden davon berührt.

Im Unterschied zu den heißen „Stellvertreterschlachten“ des Kalten Krieges wie in Korea, Vietnam etc. gibt es dabei allerdings auf westlicher Seite keine Kriegshelden mehr, weil es auch keinen ebenbürtigen (auf derselben imperialen Ebene agierenden) und ideologisch eindeutig definierbaren Feind mehr gibt, dessen Bekämpfung Lorbeeren eintragen könnte. Die Polizeikriege unter Führung der letzten Weltmacht erwecken vielmehr den sachlichen Anschein einer Art chemisch-elektronischen Schädlings- und Ungeziefervertilgung oder gleichen im öffentlichen Bewusstsein Waldbrand- und Erdbebeneinsätzen von dafür ausgebildeten Spezialisten. Diese Versachlichung des Tötens ist im Begriff der Menschenrechte insofern enthalten, als der kapitalistisch versachlichte Mensch in der Gestalt des Herausgefallenen eben sogar weniger als eine Sache ist.

Wie dunkel das Bewusstsein dieses Zusammenhangs auch immer sein mag, es äußert sich in ebenjener Selbstverlorenheit der Individuen, die schon immer im Kern moderner Subjektivität enthalten ist und umso heftiger hervorbricht, je deutlicher das sachliche Herausfallen aus dem demokratischen Menschsein wird. Die Menschenrechte münden schließlich ihrer eigenen inneren Logik nach in das einzige und totale „Recht auf Selbstlosigkeit“ und Entselbstung, das jetzt massenhaft wahrgenommen wird als letzte und einzige Option.

Damit wird zwar die offizielle Legitimation unglaubwürdig, die natürlich den Begriff des Menschenrechts rein positiv interpretiert; aber auf Glaubwürdigkeit kommt es ja auch sonst nicht mehr an. Entscheidend ist allein die medial durchzusetzende „Akzeptanzfähigkeit“, die Erzeugung von passenden „Stimmungen“ und deren Inszenierung. Obwohl die gesellschaftliche Militarisierung im großen Maßstab praktisch nicht mehr über den ideologisch-medialen Bereich hinausgreifen kann, arbeiten die militärischen Medienstrategen bereits mit Hochdruck daran, die sachliche Kälte und Gleichgültigkeit der Gesellschaft hinsichtlich der mörderischen Weltpolizei zu überwinden und die medial beschränkte Militarisierung dennoch in eine heiße Herzensangelegenheit zu verwandeln.

Vielleicht erleben wir es noch, dass für die namentlich herausgestellten Leistungsträger bei den High-tech-Schlachtfesten Fanclubs gegründet und Devotionalien vermarktet werden, um die weltpolizeilichen Einsätze begeisterungsfähig zu machen wie die durchkommerzialisierte Fußballweltmeisterschaft, den Ski- und Tenniszirkus oder die Formel 1. Jetzt schon werden die elektronischen Bombenwerfer als die „guten Jungs“ mit menschenrechtlichem Fairness-Potential herausgestellt, während der konstruierte „Feind“ als monströses Alien erscheint.

Während die demokratische Feigheit dabei jeden Kratzer am Leib eines Kampfpiloten zur Schlagzeile macht und bange Fragen nach dem „Sinn“ von Blutvergießen aufwirft, erscheinen die ebenso namenlosen wie massenhaften Opfer der Bombardements unter dem Stichwort der „Kollateralschäden“ eher als Nebenwirkung beim Einsatz einer Reinigungsfirma (und dieser Sachlichkeitsgeruch lässt sich in der Tat schwer zu einem sportlichen Flair der demokratischen Menschenjagd umdeuten). Nichts könnte deutlicher machen, was „Menschenrecht“ letzten Endes heißt: die buchstäbliche Wertlosigkeit der Unverkäuflichen, die noch als verbrannte Kadaver „stören“, nämlich das „zivile“ Bild der demokratischen Weltgemeinschaft. Sie sind tatsächlich nicht mehr als Ungeziefer, dessen Menschenantlitz vom demokratischen Prozedere ungültig gestempelt worden ist.

Daraus erhellt schon, wie hoffnungslos naiv es ist, wenn wohlwollend moralisierende demokratische Friedens- und Menschenfreunde die barbarischen Weltpolizeikriege ihrerseits unter Berufung auf die Menschenrechte zu kritisieren suchen oder die Opfer ausgerechnet im Namen des Prinzips verteidigen, das sie zu Opfern gemacht hat.

Sicherlich wäre es ganz falsch, die Tätigkeit der verschiedenen zivilen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International usw. einfach unter die kapitalistische Menschenrechtsideologie zu subsumieren und deswegen abzulehnen. Mit ihrem unmittelbaren Einsatz für die Opfer von Krieg und Verfolgung, ihrer Unbestechlichkeit und ihrem oft gezeigten Mut gegen die herrschenden Gewalten bilden sie eine wichtige Instanz der praktischen Hilfe und auch der empirischen Kritik und Anklage. Aber darauf sind sie eben auch beschränkt. Sie können die notwendige Gesellschaftskritik nicht ersetzen; ihre Tätigkeit kann die Ursachen von Gewalt und Verfolgung so wenig berühren, wie das Rote Kreuz den Ersten Weltkrieg verhindern konnte. Vor allem aber macht der ideologische Titel ihrer Selbstbenennung zwar nicht ihre empirische Tätigkeit selber, aber doch deren Legitimation äußerst zweischneidig. Sie kritisieren die Wirkungen gewissermaßen im ideologischen Namen der Ursache. Dadurch geraten sie in die Gefahr, dass sogar ihre Existenz und ihr Wirken noch zur Legitimierung des westlichen Gesamtimperialismus beigezogen und dafür instrumentalisiert wird.

 

Die Menschenrechtsideologen „der anderen Seite“, der immerhin helfenden und kritischen, haben den Charakter der bürgerlichen Rechtsform im allgemeinen und der Menschenrechte im besonderen nicht begriffen. Diese Rechte sind kein Versprechen, sondern eine Drohung: Wenn du nicht mehr funktionsfähig bist, bist du auch nicht mehr rechtsfähig, und wenn du nicht mehr rechtsfähig bist, bist du auch kein Mensch mehr.

Deshalb ist abzusehen, dass das Vorgehen gegen die „störenden“ Gotteskrieger, Warlords, Banden und Paten der Plünderungsökonomie usw. mehr und mehr umschlägt in einen heimlichen und zuletzt gar nicht mehr so heimlichen Ausrottungsfeldzug gegen die „Überflüssigen“ dieser Erde. Der Feldzug für die Menschenrechte ist seiner Natur nach ein Feldzug für die kapitalistische Form des Menschen, die als die einzig und allein gültige definiert ist, und damit zwangsläufig implizit ein Vernichtungsfeldzug gegen alle Menschen (perspektivisch gegen die globale Mehrheit), die als Folge der kapitalistischen Entwicklung selber aus dieser Definition herausfallen und damit nicht erst als Gotteskrieger oder Krisenbanditen, sondern schon durch ihre schiere leibliche Existenz „stören“.