Weltordnungskrieg

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Die Ökonomie der Selbstzerstörung: Globalisierung und „Ausbeutungsunfähigkeit“ des Kapitals

Hans Magnus Enzensberger hat im direkten Anschluss an Hannah Arendt versucht, den gemeinsamen Nenner der Selbstlosigkeit in den flächendeckenden wie in den „molekularen“ Bürgerkriegen des neuen Krisenzeitalters zu beschreiben: „Was hier wie dort auffällt, ist zum einen der autistische Charakter der Täter, und zum anderen ihre Unfähigkeit, zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden. In den Bürgerkriegen der Gegenwart ist jede Legitimation verdampft… Der einzig mögliche Schluss ist, dass die kollektive Selbstverstümmelung nicht ein Nebeneffekt ist, der in Kauf genommen wird, sondern das eigentliche Ziel. Die Kämpfer wissen sehr wohl, dass sie nur verlieren können, dass es keinen Sieg gibt. Sie tun alles, was in ihrer Macht steht, um ihre Lage bis ins Extrem zu verschärfen. Sie wollen nicht nur die anderen, auch sich selber in den ‚letzten Dreck‘ verwandeln. Ein französischer Sozialarbeiter berichtet aus der Banlieu von Paris: ‚Sie haben schon alles kaputtgemacht, die Briefkästen, die Türen, die Treppenhäuser. Die Poliklinik, wo ihre kleinen Brüder und Schwestern gratis behandelt wurden, haben sie demoliert und geplündert. Sie erkennen keinerlei Regeln an. Sie schlagen Arzt- und Zahnarztpraxen kurz und klein und zerstören ihre Schulen. Wenn man ihnen einen Fußballplatz einrichtet, sägen sie die Torpfosten ab.' Die Bilder vom molekularen und vom makroskopischen Bürgerkrieg gleichen sich bis ins Detail. Ein Augenzeuge gibt wieder, was er in Mogadiscio gesehen hat. Der Berichterstatter war dabei, wie eine Bande von Bewaffneten ein Hospital zertrümmerte. Das war keine militärische Aktion. Niemand bedrohte die Männer; Schüsse waren in der Stadt nicht zu hören. Das Krankenhaus war bereits schwer beschädigt und nur noch mit dem Nötigsten ausgestattet. Die Täter gingen mit wütender Gründlichkeit vor. Betten wurden aufgeschlitzt, Flaschen mit Blutserum und mit Medikamenten zerschmettert; dann machten sich die Bewaffneten in ihren verdreckten Tarnanzügen über die wenigen Apparate her. Sie waren erst zufrieden, als sie das einzige Röntgengerät, den Sterilisator und den Sauerstoffapparat unbrauchbar gemacht hatten. Jeder von diesen Zombies wusste, dass ein Ende der Kämpfe nicht in Sicht war; jeder wusste, dass schon am nächsten Tag sein Leben davon abhängen konnte, ob ein Arzt da wäre, der ihn zusammenflicken würde. Es ging ihnen offenbar darum, jede, auch nur die geringste Überlebenschance zu vernichten. Man könnte das die reductio ad insanitatem nennen. Im kollektiven Amoklauf ist die Kategorie der Zukunft verschwunden. Es gibt nur noch die Gegenwart. Konsequenzen existieren nicht mehr. Das Regulativ der Selbsterhaltung ist außer Kraft gesetzt“ (Enzensberger 1993,20,31 ff.).

Die Beschreibung ist zutreffend, die Tatsachen werden scharfsinnig analysiert; selbst der Hinweis auf den geschlechtlichen Charakter dieser Täterschaft fehlt nicht. Aber wie in anderer Weise bei Hannah Arendt bleibt der Grund auch bei Enzensberger unausgelotet. Das Bemühen wird erkennbar, die Phänomenologie des Schreckens von Selbstverlust und Selbstzerstörung irgendwie in ihrer Fremdheit einzugrenzen und damit aus der eigenen Lebenswelt auszugrenzen, um selber nichts damit zu tun haben zu müssen. Immerhin benennt Enzensberger (allerdings eher nebenbei) durchaus den äußeren sozialen Zusammenhang von kapitalistischer Globalisierung, neuen Bürgerkriegen und Selbstverlust der marodierenden Individuen: „Unstrittig produziert der Weltmarkt, seitdem er keine Zukunftsvision mehr ist, sondern eine globale Realität, mit jedem Jahr weniger Gewinner und mehr Verlierer, und zwar nicht nur in der Zweiten und Dritten Welt, sondern auch in den Kernländern des Kapitalismus. Fallen dort ganze Länder, ja Kontinente aus den internationalen Tauschbeziehungen heraus, so sind es hier wachsende Teile der Bevölkerung, die im Wettbewerb der Qualifikationen, der sich rapide verschärft, nicht mehr mithalten können“ (Enzensberger, a.a.O., 39).

Zwar hebt sich dieser Tatsachenrealismus auf den ersten Blick angenehm ab vom falschen Berufsoptimismus der offiziellen „Chancen“-Rhetorik, wie sie die akademische Volkswirtschaftslehre oder etwa die „spin doctors“ von „New Labour“ und „Neuer Mitte“ repräsentieren. Aber Enzensberger verdreht die Anerkennung der negativen Tatsachen in einer affirmativen Volte; das soziale Zerstörungspotential der kapitalistischen Globalisierung verwandelt sich ihm unter der Hand in eine dürftige Apologetik des Westens: „Die politischen Folgen, die von den marxistischen Theoretikern prophezeit wurden, sind jedoch ausgeblieben. Insofern sind ihre Thesen falsifiziert. Der internationale Klassenkampf findet nicht statt… Die Verlierer, weit davon entfernt, sich unter einem Banner zu versammeln, arbeiten an ihrer Selbstzerstörung, und das Kapital zieht sich, wo immer es kann, von den Kriegsschauplätzen zurück. In diesem Zusammenhang ist es nötig,… dem hartnäckigen Glauben einen Dämpfer zu versetzen, dass sich Ausbeutungsverhältnisse auf ein reines Verteilungsproblem reduzieren ließen, so als ginge es um die gerechte oder ungerechte Distribution eines Kuchens von gegebener Größe… Vorgetragen wird (dieses Klischee) am liebsten in Form der Behauptung, ‚wir‘ lebten auf Kosten der Dritten Welt; weil wir, das heißt, die Industrieländer, sie ausbeuteten, seien wir so reich. Wer sich auf diese Weise an die Brust schlägt, kann mit Tatsachen nicht viel im Sinn haben. Ein einziger Indikator genügt: der Anteil Afrikas an den Weltexporten liegt bei 1,3 %, der lateinamerikanische bei 4,3 %. Ökonomen, die der Frage nachgegangen sind, bezweifeln, ob die Bevölkerung der reicheren Länder es merken würde, wenn die ärmsten Kontinente von der Landkarte verschwänden… Theorien, welche die Armut der Armen ausschließlich durch externe Faktoren erklären, bieten nicht nur der moralischen Empörung wohlfeile Nahrung, sie haben noch einen anderen Vorzug: sie entlasten die Herrscher der armen Welt und schieben die alleinige Verantwortung für die Misere dem Westen zu… Von Afrikanern, die diesen Trick durchschaut haben, kann man unterdessen hören, dass es nur eines gebe, was schlimmer sei, als von Multis ausgebeutet zu werden, nämlich: nicht von ihnen ausgebeutet zu werden…“ (Enzensberger, a.a.O., 40 ff.).

Enzensberger möchte sich aus der Affäre ziehen, indem er die Problematik des neuen universellen Krisenkapitalismus, der absoluten inneren Grenze der planetarisch gewordenen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, auf die vergangene aufsteigende Linie des Kapitalismus, auf seine Durchsetzungsgeschichte und deren innere Kämpfe zurückprojiziert. Der zentrale Konflikt in diesem Sinne war in der Tat der sogenannte Klassenkampf, der jedoch seinem Wesen und seiner Natur nach nichts anderes war als erstens der „Kampf um Anerkennung“ der Lohnarbeit in den Rechts- und Politikformen des Kapitals (einschließlich des kapitalistischen Geschlechterverhältnisses), und zweitens der ökonomische Verteilungskampf um „Anteile“ innerhalb der Verwertungsbewegung des Kapitals.

In beiden Fällen handelte es sich um die Auseinandersetzung von kapitalistisch konstituierten Subjekten innerhalb der überhaupt nicht in Frage gestellten Formen des warenproduzierenden Systems. Mit anderen Worten: Es handelte sich um eine „Immanenz“ der sozialen Auseinandersetzung, die gerade aufgrund der anhaltenden Aufstiegs- und Ausdehnungsbewegung der kapitalistischen Form im „eisernen Gehäuse“ (Max Weber) dieser Form sich entfalten konnte, ohne darüber hinauszugehen; also eben (noch) nicht um eine „Immanenz“, die aufgrund der eigenen inneren Krisendynamik des Weltsystems über dessen Grenzen hinausgetrieben und dazu gezwungen worden wäre, dieses „eiserne Gehäuse“ der Form (und damit der eigenen Subjektform) selber aufzusprengen.

Dass der immanent bleibende „Klassenkampf‘ auf dem neuen Krisenterrain nicht mehr stattfinden kann, wird für Enzensberger zum Argument, sich am Problem der sozialen Beziehungsform und der Subjektform vorbeizumogeln, statt darin die Grenze, Krise und Unhaltbarkeit dieser Form selber zu erkennen. Denn warum kann denn der „Klassenkampf“ innerhalb der bürgerlichen Kategorien nicht mehr stattfinden, warum arbeiten denn speziell die männlichen Verlierer (und eben nicht nur die augenfälligen Verlierer!) nur noch an ihrer Selbstzerstörung? Eben deshalb, weil in den kategorialen Formen der warenproduzierenden Moderne keine tragfähige Entwicklung mehr stattfindet, weil nicht einmal mehr eine illusionäre zivilisatorische Perspektive gewonnen werden kann. Was heißt es denn, dass wachsende Teile der Weltbevölkerung nicht einmal mehr ausgebeutet, dass sie „überflüssig“ werden, dass ganze Kontinente weitgehend von der kapital-ökonomischen Landkarte verschwinden? Doch nichts anderes, als dass die kapitalistische Form, die Gesellschaftsform der Moderne, das warenproduzierende System also, für die globale Mehrheit (und letzten Endes für alle) reproduktionsunfähig wird; dass somit die Kritik und Überwindung des Form-Gehäuses selber ansteht, in dem sich der vergangene „Klassenkampf“ noch bewegen konnte.

Enzensberger jedoch macht aus der Tatsache, dass die Menschen zunehmend „nicht einmal mehr ausgebeutet“ werden, absurderweise ein Argument für den Kapitalismus bzw. für das westliche Zentrum des Kapitalismus. Dass es sich in der Tat um kein bloßes Verteilungsproblem innerhalb der kapitalistisch produzierten Form des Reichtums mehr handelt, gerät ihm zur Rechtfertigung dieser Form, was natürlich nichts anderes heißt, als dass er darin eine unüberwindbare ontologische Grundbedingung menschlicher Existenz überhaupt statt eine begrenzte historische Formation sehen will. Die Armut der Armen ist aber nur insofern nicht auf „externe Faktoren“ zurückzuführen (dies war das falsche, verkürzte Paradigma der bloß antikolonialen, nationalen Befreiungsbewegungen der Vergangenheit), als sich der Kapitalismus aus einem kolonialen Verhältnis von Zentrum und Peripherie zu einem unmittelbaren, negativ universellen Weltsystem gemausert hat, für das es kein „Außen“ mehr gibt.

 

Unter den Bedingungen der dritten industriellen Revolution, die diese Unmittelbarkeit des Weltmarkts hergestellt hat, werden die Produktivkräfte und Produktionsmittel im größeren Teil der Welt mangels betriebswirtschaftlicher Rentabilität stillgelegt, ohne dass jedoch gleichzeitig die Menschen aus der kapitalistischen Form (die eben längst auch ihre innere Subjektform ist) entlassen werden, wobei diese Subjektform immer auch durch das moderne Geschlechterverhältnis aufgeladen, also geschlechtlich modifiziert ist.

Soweit sie nicht gänzlich stillgelegt werden, erfahren die Produktionsmittel (nicht zuletzt fruchtbares Ackerland) eine zwangsweise Ausrichtung auf den universellen Weltmarkt, was zum Beispiel im Rahmen des globalen Agro-Business die arbeitsarme Hightech-Produktion von Luxusgütern wie Schnittblumen und Genussmitteln für die westlichen Zentren bedeutet, während die einheimische Bevölkerung von ihrem Land vertrieben und von ihren ökonomisch-wertförmig nicht oder nicht mehr darstellbaren Lebensressourcen abgeschnitten wird, ohne auf dem neuen Niveau der Produktivkräfte auch nur repressiv als „hands“ in die Weltmarktproduktion einbezogen werden zu können.

Die Waren- und Geldströme, in denen sich die marginalisierte Agro-Produktion oder punktuelle billige Lohnveredelungen etc. darstellen, sind zwar in der Tat im Verhältnis zum globalen Gesamtprodukt und insbesondere zum Volumen des inhaltsleeren Finanzkapitals vernachlässigenswert klein; aber eben in dieser relativ mikroskopischen Dimension der auf Weltniveau „gültigen“ Wertschöpfung verschwindet das Leben riesiger Bevölkerungsmassen von „Überflüssigen“. Der (selber bloß abstrakte und destruktive) Reichtum der westlichen Kernländer beruht nicht auf der Masse an billigen Schnittblumen aus Kolumbien oder Zentralafrika, die per Jet in die Metropolen verfrachtet werden; aber für diese paar Schnittblumen werden ganze Populationen sozial hingeopfert, eben weil die Weltmarktexistenz mit eiserner Konsequenz als die einzig mögliche Existenzform gesetzt ist.

Die Argumentation von Enzensberger ist durchsichtig apologetisch, und das weiß er wohl selber am besten. Offensichtlich zieht er es vor, perspektivische Hilflosigkeit in Zynismus umzusetzen. Aus der historisch konkreten Problemlage flüchtet er sich so in vermeintliche anthropologische Unausweichlichkeiten, in einen ahistorischen Existentialismus und Nihilismus: „Alte anthropologische Fragen stellen sich in dieser Lage neu“ (a.a.O., 11). Da ist dann hinsichtlich der neuen Qualität in der Vernichtung Wehrloser die Rede vom leider autistisch gewordenen „testosteronbedingten Energiestau der Jugend“ (a.a.O., 22). Das Verhältnis von moderner Subjektform und modernem Geschlechterverhältnis wird so an der globalen Krisenschranke des Systems nicht kritisch thematisiert, sondern ideologisch anthropologisiert, um sich dieser Krise nicht stellen zu müssen. Als die „eigentlich Schuldigen“ erscheinen dann die barbarischen „Herrscher der armen Welt“ (a.a.O., 41) usw. Der Westen, Zentrum der weltzerstörenden universellen Form des Kapitalverhältnisses, soll sich für sein eigenes Weltsystem unzuständig erklären, das westliche Publikum nicht länger mit den „unverständlichen Beweggründen“ (a.a.O., 78) der verrückten Mordfraktionen in exotischen Gegenden belästigt werden.

Der positive Eurozentrismus westlicher Allzuständigkeit im Namen des abstrakten Universalismus, der für die kapitalistische Ausbeutbarkeit der Welt stand, schlägt bei Enzensberger um in einen negativen Eurozentrismus der Ignoranz, der die inneren weltsystemischen Katastrophen veräußerlichen und verdrängen möchte, eben weil die Welt kapitalistisch ausbeutungsunfähig wird. Der Abschied von „moralischen Allmachtsphantasien“ (a.a.O., 86) gerät so zur alten Spießerweisheit einer Kirchturmspolitik: „Doch insgeheim weiß jeder, dass er sich zuallererst um seine Kinder, seine Nachbarn, seine unmittelbare Umgebung kümmern muss“ (a.a.O., 87). Das ist bloß die Umkehrung der westlichen militärischen Interventionspolitik, aber keine Kritik der zugrunde liegenden Verhältnisse. So konnte Enzensberger von einem fanatischen Interventionsphilosophen wie André Glucksmann „Flucht aus der Verantwortung“ vorgeworfen werden, wobei dann die „Verantwortung“ für Glucksmann eben darin besteht, auf die unkontrollierbaren Krisengebiete Bomben regnen zu lassen.

So oder so erscheint nicht eine weitergehende, auf die Form des modernen Systems und seiner Subjektivität zielende radikale Kritik angesagt, sondern, wie Enzensberger meint, die „Triage“, die Notlagen-Selektion als „Zwangslage“ (a.a.O., 88 f.) unter unveränderlichen ontologischen Existenzbedingungen des warenproduzierenden Systems. „Was aus Angola werden soll, darüber müssen in erster Linie die Angolaner entscheiden“ (a.a.O., 90) - als würde die Globalisierung die angolanischen Mordbanden nicht zu ebenso direkten „Nachbarn“ machen wie die deutschen jugendlichen Mordbanden in „Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen“ (a.a.O., 90). Das universelle „Innen“ lässt sich nicht externalisieren und partikularisieren.

Die Metaphysik der Moderne und der Todestrieb des entgrenzten Subjekts

Natürlich fragt sich, wie Enzensberger aus einer durchaus hellsichtigen Analyse in eine derart gewollte Ignoranz und friedliche Koexistenz mit der Unbewältigbarkeit von „Zwangslagen“ abstürzen kann. Die Alternative zur westlichen Militärintervention gegen die vom globalen Kapitalverhältnis selbst induzierten Barbarisierungsprozesse ist schließlich nicht der aussichtslose Rückzug auf die vermeintliche Bewältigungskompetenz im eigenen Vorgarten, sondern eben die Erweiterung der nur noch im globalen Kontext zu formulierenden Gesellschaftskritik auf die unhaltbar gewordenen Formen des modernen warenproduzierenden Systems und seiner (strukturell „männlichen“) Subjektivität. Das Paradigma des form-immanenten Klassenkampfs ist abzulösen durch das Paradigma einer Kritik des gemeinsamen, klassen-übergreifenden Formzusammenhangs moderner, auf anonymer Monetarisierung und Konkurrenz wie auf dem geschlechtlichen Abspaltungsverhältnis beruhender negativer Gesellschaftlichkeit.

Woher also die Scheu nicht nur Enzensbergers, zu dieser Formkritik überzugehen? Der Grund dürfte darin liegen, dass eine solche weitergehende, kategoriale Kritik der Moderne alles vertraute Gelände verlassen müsste. Alle bisherige Gesellschaftskritik, nicht nur diejenige der Arbeiterbewegung im engeren Sinne, hatte sich im Zuge der kapitalistischen Aufstiegs- und Ausdehnungsbewegung positiv auf das Ideensystem der bürgerlichen Aufklärung im 18. Jahrhundert und damit auf die Konstitution des bürgerlichen Subjekts bezogen. Dieses immer schon primär männlich gedachte Subjekt sollte gerade qua seiner Form emanzipativ handeln, in welcher ideologischen Verkleidung auch immer. Diese kategorial in der warenförmigen Vergesellschaftung befangene Vorstellungswelt hat nicht nur die sogenannte Neue Linke von der alten Arbeiterbewegung geerbt, sondern auch speziell die deutsche Nachkriegs-Intelligentsia gegen das Verhängnis der deutschen Geschichte geltend gemacht. Aufklärung, Subjekt, Politik, Demokratie: das waren Marx und die Propheten.

Umso schwerer fällt jetzt die Einsicht, dass die deutsche Geschichte unter Einschluss des Nationalsozialismus integraler Bestandteil der weltkapitalistischen Geschichte war, dass es keine positiv zu besetzende Alternative innerhalb dieser Form mehr gibt und dass im Zentrum der heutigen Weltmisere die ausweglos gewordene Form des modernen bürgerlichen Subjekts selber steht. Jetzt, an den Grenzen von bürgerlicher Aufklärung und warenförmiger Reproduktion, zeigt sich die reale Metaphysik der Moderne in ihrer abstoßendsten Weise. Nachdem das bürgerliche, aufgeklärte Subjekt alle seine Hüllen abgestreift hat, wird deutlich, dass sich unter diesen Hüllen NICHTS verbirgt: dass der Kern dieses Subjekts ein Vakuum ist; dass es sich um eine Form handelt, die „an sich“ keinen Inhalt hat. Was Enzensberger exotisieren möchte, ist sein eigenes gesellschaftliches Wesen als bürgerliches (und natürlich männliches) Aufklärungssubjekt. Wenn er meint, die Exotik des „Unverständlichen“ zu beschreiben, beschreibt er die Metaphysik der westlichen Moderne selbst: „Was dem Bürgerkrieg der Gegenwart eine neue, unheimliche Qualität verleiht, ist die Tatsache, dass er ohne jeden Einsatz geführt wird, dass es buchstäblich um nichts geht“ (a.a.O., 35). Aber genau dieses Unheimliche ist nicht das Fremde, Äußerliche, sondern es kommt nur das innerste Selbst des Waren-, Geld- und Konkurrenzsubjekts, das Wesen des demokratischen Staatsbürgers zum Vorschein. Das Nichts, um das es geht, ist die vollkommene Leere des sich verwertenden „automatischen Subjekts“ (Marx) der Moderne.

Denn die im Geld sich ausdrückende Form des Werts, der als objektivierte metaphysische Realabstraktion das moderne Dasein als „säkularisierter“ und verdinglichter Gott beherrscht und dessen Kehrseite die Metaphysik demokratischer Staatsbürgerlichkeit nur ist, hat „an sich“ keinerlei sinnlichen oder sozialen Inhalt; sie ist als negative Kraft in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Das metaphysische Vakuum des Werts ist es, das hinter den scheinbar so rationalen Interessenkämpfen und dem scheinbaren Selbstbehauptungswillen der abstrakten Individuen steht. Dieses Gorgonenhaupt der weltlosen Leere im Zentrum der Moderne möchten Leute wie Beck und Enzensberger lieber nicht zur Kenntnis nehmen. Aber es ist eben diese metaphysische Monstrosität, die hinter dem fröhlichen individualisierten „Selbstmanager“ der Postmoderne zum Vorschein kommt.

In einem Weltklima der wechselseitigen Vernichtungskonkurrenz, der permanenten Gefährdung der sozialen Existenz und gleichzeitig eines prekären spekulativen Geldreichtums, der sich jeden Moment in Luft auflösen kann, gedeiht so ein diffuser Vernichtungswille, der jenseits äußerlicher „Risikoverhältnisse“ agiert und der ebenso abstrakt und inhaltsleer ist wie die gesellschaftliche Form, die dem Verwertungsprozess des Kapitals zugrunde liegt. Die Form „Wert“ und damit die Form „Subjekt“ (Geld und Staat) ist sich ihrem metaphysischen Wesen nach selbst genug und muss sich doch in die wirkliche Welt „entäußern“; aber nur, um stets zu sich selbst zurückzukehren. Dieser metaphysische Ausdruck der scheinbar banalen (und in sinnlich-sozialer Hinsicht tatsächlich grauenhaft banalen) Verwertungsbewegung bildet das eigentliche Thema der gesamten Aufklärungsphilosophie, sehr deutlich bei Kant und insbesondere bei Hegel, der die dialektische Bewegungsform dieses „Entäußerungsprozesses“ eines metaphysischen Vakuums in die wirkliche Welt präzise und affirmativ nachgezeichnet hat.

In dieser Selbstgenügsamkeit, dennoch nötigen Entäußerungsbewegung und letztlichen Selbstbezüglichkeit der leeren metaphysischen Form „Wert“ und „Subjekt“ gründet ein Potential der Weltvernichtung, weil nur im Nichts und damit in der Vernichtung der Widerspruch zwischen metaphysischer Leere und „Darstellungszwang“ des Werts in der sinnlichen Welt zu lösen ist. Die Inhaltsleere von Wert, Geld und Staat muss sich in ausnahmslos alle Dinge dieser Welt entäußern, um sich als real darstellen zu können: von der Zahnbürste bis zur subtilsten seelischen Regung, vom einfachsten Gebrauchsgegenstand bis zur philosophischen Reflexion oder zur Umgestaltung ganzer Landschaften und Kontinente. Leben und Tod, das gesamte menschliche Dasein und das gesamte Dasein der Natur dienen einzig dieser proteusartigen Selbst-Darstellungsfähigkeit des gesellschaftlichen metaphysischen Vakuums von Kapital und Staat.

In dieser unaufhörlichen metaphysischen Selbstzweckbewegung (die Zwecke des Begehrens der konkurrierenden Individuen sind in diesen übergeordneten Selbst-Reflexionsprozess des „automatischen Subjekts“ eingeschlossen) werden die Dinge dieser Welt und das Begehren der Individuen nicht in ihrer Eigenqualität anerkannt, sondern diese wird ihnen vielmehr genommen, um sie in bloße „Gallerten“ (Marx) der metaphysischen Leere zu verwandeln und sie damit der immergleichen Wertform anzuverwandeln (oberflächlich betrachtet: sie zu „ökonomisieren“, also zum bloßen und gleich-gültigen Material der Verwertungsbewegung zu machen).

Daraus entsteht ein doppeltes Potential der Vernichtung: ein „gewöhnliches“, gewissermaßen alltägliches, wie es sich schon immer aus dem Reproduktionsprozess des Kapitals ergibt, und ein gewissermaßen finales, wenn der „Entäußerungsprozess“ an absolute Grenzen stößt. Die Realmetaphysik des modernen warenproduzierenden Systems zerstört die Welt partiell als „Nebenwirkung“ ihrer „gelingenden“ Entäußerung; und sie wird zum absoluten Weltvernichtungswillen, sobald sie sich nicht mehr in den Weltdingen selbst-darstellen kann. Insofern könnte man von einem Todestrieb der kapitalistisch verfassten modernen Menschheit sprechen, der eben auch einen geschlechtsspezifischen Ursprung hat. Im Zentrum der Aufklärungsphilosophie steht der ideelle Ausdruck dafür, die Anbetung der leeren Abstraktion „einer Form überhaupt“ (Kant).

 

Diese Vemichtungslogik kann sich auf schleichende Weise im ganz normalen Gang der Geschäfte äußern, etwa in der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen durch die betriebswirtschaftliche Externalisierung von „Kosten“, in der mangelnden Versorgung ganzer Bevölkerungsgruppen mit Lebensmitteln und medizinischer Hilfe qua mangelnder „Finanzierungsfähigkeit“, im unnötigen Massensterben von Säuglingen und Kleinkindern in den globalen Armutsregionen usw.

Dieselbe Vernichtungslogik kann aber auch unmittelbar als Gewaltexplosion in Erscheinung treten und dabei jene Entgrenzung des Selbst-Bewusstseins auslösen, wie sie nicht erst an den Fronten der kapitalistischen Kriege zu beobachten war, sondern auch binnengesellschaftlich in den großen Krisenschüben des 20. Jahrhunderts. Heute scheint diese Entselbstung zum Weltprinzip zu werden. Der finale Vernichtungswille des metaphysisch konstituierten Subjekts richtet sich schließlich gegen dieses Subjekt selbst, soweit es von dieser Welt, also sinnlich existent ist. Und keineswegs zufällig bricht bei dieser Orgie der Selbstzerstörung das „männliche“ Wesen dieses Subjekts wieder ganz unverhüllt an die Oberfläche durch.

Natürlich ist es nicht unmittelbar das realmetaphysische Vakuum des Werts, der gesellschaftlichen Form der Kapitalbewegung, das „am“ oder „im“ Subjekt handelt, sondern dieses Krisenhandeln, dieser Übergang zur entgrenzten Gewalt findet über die Transmission von Sozialisationsformen und psychischen Mechanismen statt. Dabei erweist sich gerade die vielbejubelte postmoderne Individualisierung, die in Wahrheit nur die äußerste Steigerung der abstrakten (getrennten) Subjektivität des kapitalistisch konstituierten Menschen bis zum Grad vollkommener Verlassenheit ist, als die Übergangsform zur absoluten Entselbstung, in der sich die psychischen Mechanismen des Todestriebs bis zur unmittelbaren Manifestation entfalten, wie es der Sozialwissenschaftler und Gefängnispsychologe Götz Eisenberg eindringlich beschreibt: „Gesellschaftliche Konflikte werden reprivatisiert und stauen sich in einem seelischen Innenraum, der für das Austragen solcher Energien ungeeignet ist. Er ist zu eng. Das eingekapselte Unglück kann nicht stillstehen, sucht nach einem Ausweg… Hinter den Bildern aktuell erfahrener Kränkungen tauchen Bilder aus der lebensgeschichtlichen Vergangenheit auf, die in der Kindheit belichtet wurden, aber erst jetzt aus dem Entwickler gezogen werden. Wie ein Verstärker schließen sich uralte Kränkungs- und Zurückweisungserfahrungen an die aktuellen Demütigungen an und verleihen diesen so erst ihre Wucht… Die ins Innere zurückgenommene emotionale Energie diffundiert, setzt sich an anderer Stelle neu zusammen, verschiebt sich und geht neue Legierungen ein… Die Innenwelt verwandelt sich in ein Kaleidoskop durcheinanderwirbelnder Fragmente, die sich zu immer skurrileren und ängstigenderen Bildern zusammenfügen. Psychotische Persönlichkeitsanteile, die wir als nur ‚partial Sozialisierte‘ (Mitscherlich) alle in uns tragen, schieben sich in den Vordergrund und erringen eine Art von psychischer Hegemonie. Ein archaischer Hass auf verfolgende innere und äußere Objekte macht sich breit, die Wahrnehmung trübt sich ein, die Welt verdunkelt sich, bis schließlich alles zum ‚bösen, verfolgenden‘ Objekt wird. Jetzt funktionieren Ruhe und Selbstbeherrschung nur noch mühsam; sie brüten etwas aus. Paranoide Phantasien beginnen, das gesamte innere Blickfeld auszufüllen. Jetzt bedarf es nur noch eines letzten Anstoßes, und die Unglücksmechanik kommt ins Rollen“ (Eisenberg 2002, 24 f.).

Die Abstraktheit dieses Vernichtungswillens spiegelt die Selbstwidersprüchlichkeit des Kapitalverhältnisses in doppelter Weise: Einerseits zielt er auf die Vernichtung der „anderen“ zwecks scheinbarer Selbsterhaltung um jeden Preis, andererseits ist es gleichzeitig auch ein Wille zur Selbstvernichtung, der die Sinnlosigkeit der eigenen marktwirtschaftlichen Existenz exekutiert. Mit anderen Worten: Die Grenze zwischen Mord und Selbstmord verschwimmt. Es geht über das „Risiko“ der Konkurrenz hinaus um eine derart entgrenzte Vernichtungswut, dass die Unterscheidung des eigenen Selbst von dem der anderen zu verschwinden beginnt, was sich wiederum als psychischer Mechanismus darstellen lässt: „Um der eigenen narzisstischen Katastrophe zu entgehen und unerträgliche Gefühle von Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit abzuwehren, wird das eigene Innere nach außen gestülpt und mörderisch-selbstmörderisch in Szene gesetzt. Der Erhalt des Selbstwerts und der Integrität der Persönlichkeit kann ein Motiv menschlichen Handelns sein, das höher wiegt als die Sicherung des eigenen reduzierten Überlebens. Bevor innere Spannungen das Selbst sprengen, sprengt der Täter in einer Art von Vorwärtsverteidigung Teile der Außenwelt in die Luft… Die Zerstörungswut des Kleinkindes, das sich verlassen, missachtet und verzweifelt fühlt und deshalb am liebsten alles in Stücke schlagen möchte, ist durch seine mangelnde Körperkraft begrenzt; jetzt steckt dieselbe raptusartige Wut im Körper eines Erwachsenen, der sich Zugang zu Waffen, Autos oder gar Flugzeugen verschaffen kann“ (Eisenberg, a.a.O., 25 f.).

Das abstrakte Selbst des Geldsubjekts löst sich in der finalen Krisenkonkurrenz auf und bringt den in seinem Inneren schon immer lauernden Kern, das mit Selbstzerstörung identische Vakuum seiner Existenz zum Vorschein. In den sich häufenden Zusammenbrüchen der sozialökonomischen Beziehungen, wie sie vom Weltmarkt der Globalisierung induziert werden, im Zersetzungsprozess ganzer Gesellschaften ist keine Selbstdefinition der Individuen mehr möglich, solange sie sich in der herrschenden gesellschaftlichen Form weiter bewegen (was sie bis jetzt spontan auch tun). Die demokratische Phrase kann die Wut nur steigern und anfachen, weil sie ja selber ein bloß heuchlerischer und frömmlerischer Ausdruck derselben Vernichtungslogik gegen Mensch und Natur ist.

Die Erscheinungen der Selbstverlorenheit und Selbstzerstörung, wie sie Enzensberger an der männlichen Jugend beschreibt, sind heute in mehrfacher Weise universell geworden. Zum einen sind es nicht nur die (von Jahr zu Jahr zahlreicher werdenden) Täter der unmittelbaren Vernichtung und Selbstvernichtung, die dieser Selbstverlorenheit angehören. Die augenfälligen Täter bilden nur die Spitze des Eisbergs, die manifeste Erscheinung eines viel allgemeineren gesellschaftlichen Zustands. Auf jeden mörderischen und selbstmörderischen Exekutor kommen Tausende und Millionen, die ähnlich empfinden, diese Empfindung aber (noch) nicht zur Tat werden lassen, sondern in der Phantasie damit spielen oder sich mit einschlägigen medialen Produkten abreagieren (allein dass solche Produkte, sogenannte Gewaltvideos und zahlreiche andere Ausdrucksformen medialer Gewaltverherrlichung, in profitabler Massenproduktion hergestellt werden können, spricht für den gesellschaftlichen Tiefgang des Problems).