Weltordnungskrieg

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Von den Krisenpotentaten und lokalen Warlords bis zu derartigen Niederungen des unmittelbarsten Mundraubs hat sich ein ganzes Spektrum von Erscheinungen und Verkettungszusammenhängen der globalen Plünderungsökonomie herausgebildet, die dem Prozess der betriebswirtschaftlichen, krisenhaften Globalisierung des Kapitals folgen wie ein Schatten. Auf beiden Seiten verflüchtigen sich die traditionellen politischen und ideologischen Motive, denn die postmoderne Sekundärbarbarei, wie sie aus dem Zerfall des modernen warenproduzierenden Systems hervorgeht, ist nicht weniger „realökonomistisch“ als der transnational über seine eigenen Kategorien hinausschießende Kapitalismus selbst.

Der Begriff des „Ökonomismus“ bezeichnet hier nicht etwa eine fehlerhafte oder unzureichende Art der gesellschaftstheoretischen Reflexion, die etwa andere Lebensbereiche, Ursachenkomplexe und Motivzusammenhänge nicht genügend berücksichtigen würde - inzwischen ein billiges Allzweckargument linker wie rechter und liberaler Ignoranten, die bloß bequem in den herrschenden Kategorien weiterdenken wollen und deshalb vor lauter angeblicher Multikausalität und Kontingenz etc. den harten und weltzerstörenden logischen Kern des Systems nicht mehr wahrnehmen wollen. Vielmehr ist es gerade dieser harte Kern, dem ein nicht bloß subjektiver oder theoretischer, sondern objektiver und praktischer Ökonomismus als strukturbildendes Wesen innewohnt; eben ein „Realökonomismus“ unduldsamer kapitalistischer Kriterien, der in seiner Eindimensionalität alle anderen „Bereichslogiken“, die er aus sich herausgesetzt hat, systematisch übergreift und schließlich überrollt - und der in alle Motivzusammenhänge auf allen Ebenen einsickert.

Keimhaft und latent immer schon ein Wesensmerkmal der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, ist dieser „Realökonomismus“ in der Aufstiegs- und Durchsetzungsgeschichte des warenproduzierenden Weltsystems immer deutlicher hervorgetreten, gedämpft und vermeintlich konterkariert nur durch die scheinbar „außerökonomischen“ ideologischen und politischen Formierungsprozesse, wie sie sich aus der Zersetzung und Transformation agrarischer Lebensweisen, traditioneller Loyalitäten, vormoderner Relikte etc. ergaben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, an den Grenzen des Systems, tritt der dem Kapital Verhältnis inhärente ökonomische Reduktionismus bis in die Intimität hinein so grell wie nie zuvor in Erscheinung; nicht nur in den Hightech-Klitschen der New Economy und ihrer zum westlichen Leitbild erhobenen Denkweise (falls man hier noch von „Denken“ sprechen kann), sondern eben auch und erst recht in den Strukturen und Motiven der globalen Plünderungsökonomie, die als Kehrseite des abgehobenen Finanzkapitalismus selber eine „New Economy“ darstellt.

Risikogesellschaft, Sachzwang und Gewaltverhältnisse

Es mag für das gewöhnliche bürgerliche Bewusstsein vielleicht so erscheinen, dass der Realökonomismus des warenproduzierenden Systems, die damit verbundene Art der Verfolgung von „Interessen“ und der darin eingelagerte spezifische (von der destruktiven gesellschaftlichen Form bestimmte) Selbsterhaltungstrieb schlecht zu den Gewalt- und Risikostrukturen einer Plünderungsökonomie passen, weil das „Geschäftsrisiko“ dabei ja auch die Möglichkeit der eigenen physischen Vernichtung einschließt. So war es wohl nicht gemeint, als der deutsche Soziologe Ulrich Beck in den 80er Jahren sein phänomenologisch beschränktes Theorem einer fröhlichen „Risikogesellschaft“ in die Welt setzte.

Da die kapitalistische Produktionsweise ein System universeller Konkurrenz darstellt, ist damit natürlich auch prinzipiell die Logik des „Risikos“ impliziert, und der drohende Verlust bezieht sich nicht nur auf konjunkturelle oder persönliche Schwankungen des Einkommens, sondern auf die soziale oder sogar die physische Existenz überhaupt. Für die Mehrzahl der unter dem kapitalistischen Joch lebenden Menschen war das „Risiko“ schon immer ein Armuts- und Elendsrisiko. Und schon immer sorgte die gewaltsame „Fortsetzung der Konkurrenz mit anderen Mitteln“ dafür, dass als letzte Instanz periodisch das unmittelbare Todesrisiko in Erscheinung trat.

Die Vorstellung vom an sich friedlichen Charakter der „Geschäfte“ im Namen des systemischen Verwertungszwangs war nie etwas anderes als eine fromme Lüge der großen und kleinen Bürger in den Schönwetter-Zonen der Besserverdienenden, in denen die Bestie der Gewaltkonkurrenz nur so lange schlummert, wie sie die Blut- und Schmutzarbeit an ihre Spezialtruppen und an ihre Gewaltkreaturen in den weniger glücklichen Zonen des Planeten delegieren können. Zwar sah sich Ulrich Beck schon vor mehr als fünfzehn Jahren „auf dem zivilisatorischen Vulkan“ (Beck 1986, 23), aber offensichtlich aus der Perspektive eines immer noch komfortablen weltgesellschaftlichen Logenplatzes.

Die oberflächliche Wahrnehmung einer neuen Entwicklungsstufe des Kapitalverhältnisses, auf der die aus sozial, kulturell und politisch formierten „Klassenstrukturen“ entbundenen abstrakten und atomisierten Individuen sich einem anonymen, technologisch verselbständigten gesellschaftlichen Risiko-Apparat gegenüber sehen (damals manifestiert in der Atom-Katastrophe von Tschernobyl), war zwar in mancher Hinsicht durchaus zutreffend. Aber weil die Reflexion von Beck auf die Erscheinungsebene beschränkt blieb, zog er daraus nicht die Konsequenz einer auf höherem Abstraktionsniveau erneuerten und radikaleren Kapitalismuskritik, sondern wollte ganz im Gegenteil „neben vielen Risiken und Gefährdungen“ jede Menge „Chancen“ in seiner wunderbaren „Risikogesellschaft“ entsolidarisierter abstrakter Individuen erkennen. Aus dieser Sicht sollte die kapitalistische Modernisierung in „reflexiver“ Form weitergehen und das Risikopotential durch eine erweiterte sogenannte Sub- und Bürgerpolitik, durch „universalisierte Bürgerwiderständigkeit im Sinne von aktiver Mit- und Gegenwirkung“ (Beck 1986,371) beherrschbar bleiben. Beck beschwor so „die bewusste Gestaltung und Wahrnehmung der Handlungsspielräume, die die Moderne inzwischen erschlossen hat“ (a.a.O., 372) und behauptete: „Es herrschen keine Sachzwänge mehr, es sei denn, wir lassen und machen sie herrschen“ (ebda).

Gründlicher kann man den Kapitalismus im allgemeinen und die zeitgenössische Entwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht missverstehen und fehldeuten. Beck, der seine berufsoptimistische Chancen-Phänomenologie seither nur noch soziologie-feuilletonistisch breitgetreten hat, beschränkt seine Analyse nicht nur in falscher Weise auf das kapitalistische Zentrum hauptsächlich am Beispiel der BRD, wobei er kontrafaktisch eine Irreversibilität sozialstaatlicher Sicherungssysteme voraussetzt; und er verengt den Risiko-Begriff nicht nur in erster Linie auf technologische Gefährdungspotentiale. Vielmehr verfehlt er schon im Ansatz das Wesen des Kapitalverhältnisses, indem er die „Sachzwänge“ auf der Erscheinungsebene als demokratisch, „subpolitisch“ usw. verhandelbar und damit im Prinzip als überwunden darstellt, während sie sich in Wirklichkeit auf einer den Individuen immer schon vorausgesetzten subjektlosen Ebene blinder Systemprozesse abspielen und heute mehr denn je überwältigend geworden sind.

Wenn Kapitalismus, dann gnadenloser Sachzwang der objektivierten Verwertungs- und Konkurrenzlogik, und sonst gar nichts. Die falschen Sachzwänge können nur dann aufhören, wenn sich die Gesellschaft in einer umwälzenden Bewegung von der kapitalistischen Form der Reproduktion, das heißt vom Zwang zur „Verwertung des Werts“ emanzipiert. Was inzwischen aus eigener bitterer Erfahrung jedes Kind weiß und jeder Sachzwangverwalter des ökonomischen Terrors als demokratische Schicksalsfrage der „Konkurrenzfähigkeit“ und „Finanzierungsfähigkeit“ im Standardrepertoire hat, daran möchten sich die Schwadroneure einer „Neuerfindung des Politischen“ (Beck) und akademischen Souffleure von „Neuer Mitte“ oder „New Labour“ pfeifend vorbeimogeln.

Beck setzt frei entscheidungsfähige Subjekte voraus, ohne (wie alle Demokraten) zu begreifen, dass der „Sachzwang“ schon in der apriorischen Form des Geld- und Konkurrenzsubjekts selber gesetzt ist. Sein Krisenbegriff bleibt ebenso oberflächlich wie seine Analyse auf kunterbunte und vermeintlich einzeln bewältigbare „kontingente“ Erscheinungen beschränkt, während die tatsächliche Weltkrise als innerer Selbstwiderspruch des Kapitals die bürgerliche Subjektform selber erfasst. In der Verwilderung der globalen Krisenkonkurrenz auf allen Ebenen verwildern auch die Subjekte, deren Form zerfällt und ihren Gewaltkern auf neue Weise offenbart.

Gewalt, Blut und Angst zeigen sich nicht als dem ökonomischen Reduktionismus äußerlich hinzutretende Erscheinungen, sondern als dessen integrale Bestandteile. Die postmoderne Plünderungsökonomie und ihre Greueltaten verweisen am Ende des Kapitalismus verräterisch auf seine Anfänge und seine Gründungsverbrechen; denn entgegen ihren legitimatorischen Legenden entsprang die moderne Geldmaschine keinem friedlichen Handel und Wandel, sondern der frühmodernen Feuerwaffen-Ökonomie und deren Militärdespotien. Die Konstitution und Durchsetzung der Moderne war nicht äußerlich, sondern wesentlich geprägt von Terror, Massakern und Zwangsgewalt, von Plünderung und Zwangsarbeit als dem Urgrund von „freier“ Lohnarbeit und kapitalistischer Individualisierung, die das Zwangsverhältnis bloß verinnerlicht haben.

Die Logik der Abspaltung und die Krise des Geschlechterverhältnisses

Das aus solchen Gründungsverbrechen entstandene gesellschaftliche Zwangsverhältnis war immer gleichzeitig auch ein entsprechendes Geschlechterverhältnis: Wiederum entgegen allen aufklärerischen Legenden hat die warenproduzierende Moderne die Unterdrückung der Frau nicht gemildert oder gar dem Anspruch nach überwunden, sondern vielmehr als systematisches „Abspaltungsverhältnis“ (Roswitha Scholz) zugespitzt, was sich aus den Ursprüngen der modernen militärischen Revolution erklärt. Im Kern ist Kapitalismus nichts anderes als die Militarisierung der gesellschaftlichen Reproduktion; nicht allein im äußeren Bezug auf die ökonomischen Erfordernisse der ursprünglichen Feuerwaffenproduktion, sondern auch als quasi-militärische Formierung der gesamten Produktionsweise, in der Form von „Armeen der Arbeit“, in der Form der universellen Konkurrenz als eines permanenten ökonomischen Krieges aller gegen alle usw. Alle Momente der Reproduktion und des Lebens, die nicht in diesen Formen aufgehen, werden als „weiblich“ konnotiert, abgespalten, „inoffiziell“ gemacht, als minderwertig gesetzt und ausgegrenzt. Das Warensubjekt ist also seinem Wesen nach „männlich“ und latentes oder manifestes Gewaltsubjekt, auch wenn es partiell Frauen in sich einbegreift. Und in diesem Sinne enthält die kapitalistische Gesellschaft das Moment der Gewaltbereitschaft bis in die Poren des Alltags.

 

Dieser Gewaltkern des Kapitals, wie er manifest die äußere und innere Kolonisierungsgeschichte bestimmt hat, ist durch alle Formen des kapitalistischen Regimes hindurch bis heute präsent geblieben. Nicht umsonst sind die westlichen Demokratien der Gegenwart in einem historisch beispiellosen Maße militärisch aufgerüstet und mit Vernichtungskapazitäten ausgestattet, während der nach innen gerichtete ebenso beispiellose Apparat der kapitalistischen Menschenverwaltung polizeilich bis an die Zähne bewaffnet und jederzeit auf „innere Unruhen“ oder auch nur Opposition gegen kapitalistische Entscheidungsprozesse gewalttätig zu reagieren bereit ist.

Das Gewaltverhältnis, das die Menschen zu fremdbestimmter, in vieler Hinsicht irrationaler Tätigkeit zwingt, das sie aber gleichzeitig längst in ihrer eigenen bürgerlichen Subjektform mit sich herumschleppen und es selber „sind“, auch im abgespaltenen „weiblichen“ Moment der Reproduktion, ist in stummen ökonomischen und juristischen Formen erstarrt, aber auch in seiner Latenz als direkte männliche Gewalt alltäglich spürbar. Es hat sich in den kapitalistischen Zentren bloß verpuppt und (auch hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses) mit der typisch demokratischen Karikatur von Teilhabe maskiert, die in Wahrheit nichts als eine Nötigung zur Selbstverhöhnung darstellt, während die wirklichen Entscheidungen immer schon durch den blinden Gang der Markt- und Konkurrenzprozesse vorprogrammiert sind. In den Zusammenbruchsregionen bricht der latent vorhandene Gewaltcharakter des Kapitalismus offen hervor, weil er nicht mehr juristisch, sozialstaatlich usw. kaschiert und notdürftig pazifiziert werden kann. Die Gewalt der Ökonomie und die Ökonomie der Gewalt sind nur die beiden Seiten derselben Medaille.

Noch in den gebrochensten postmodernen Formen macht sich der männlich-patriarchale und gewaltsame Charakter von Ökonomie wieder unmittelbar geltend, so domestiziert er den blauäugigen postmodernen Demokratietrommlerinnen erschienen war. Noch während die abgerüsteten (Ex-)Feministinnen der „neuen Mitte“ die vermeintliche neue Geschlechtergleichheit als kapitalistische Chancengleichheit feierten, kam in den Strukturen der globalen Plünderungsökonomie stattdessen eben jene „Verwilderung des Patriarchats“ zum Vorschein.

In den prekären Sekundärökonomien am Rande des Weltmarkts, die sich inzwischen auch in den kapitalistischen Zentren breit machen, und die in der Peripherie eng mit der Plünderungsökonomie verzahnt sind, erscheint der abspaltende Charakter des modernen Geschlechterverhältnisses auch dort wieder, wo scheinbar Frauen zunehmend sozial „männlich“ und Männer durch Depravierung sozial „verweiblicht“ werden: „Das Gesamtresultat dieser unaufgehobenen, in der Zersetzung und im Gestaltwandel begriffenen Abspaltung ist prinzipiell gesehen nach wie vor eine Zurücksetzung von Frauen im Gegensatz zu Männern, gerade auch in der epochalen Krise… Dabei sind Frauen heute für ‚Geld und (Über-)leben‘ gleichermaßen zuständig. Dass Frauen nun Funktionen übernehmen, die traditionell Männersache waren, trifft nicht bloß auf,Drittweltländer‘ etwa infolge von Migrationsbewegungen zu, sondern ebenso für die hochindustrialisierten Länder. So müssen zum Beispiel alleinerziehende Mütter auch hierzulande nicht selten im Alltag Mutter und Vater zugleich sein… Dabei treibt selbst dann, wenn … die Erosion des warenproduzierenden Patriarchats sichtbar wird, der Androzentrismus als ‚psychogenetisches Unterbauphänomen‘… immer noch sein Unwesen, auch in modifizierten Leitbildern, emotionalen Befindlichkeiten und Codes, wie sie mit einer veränderten ökonomischen Lage einhergehen“ (Scholz 2000, 132 f.).

Wenn etwa Frauen fast zu 100 Prozent die diversen Selbsthilfeinitiativen in den peripheren Krisen- und Zusammenbruchsregionen tragen (vgl. Scholz, a.a.O., 125), dann geht dies nicht mit einer „politischen“ Aufwertung einher, sondern ist bloß Ausdruck der Abwertung und Auflösung des Politischen, in der die abgespaltene „Weiblichkeit“ die Kastanien aus dem Feuer holen soll. Dasselbe gilt für die Übernahme „männlicher“ ökonomischer und sozialer Funktionen durch alleinerziehende Frauen sowohl in den Zentren wie in der Peripherie: Auch in diesem Sinne gibt es keine Aufwertung des abgespaltenen „Weiblichen“, sondern die Abwertung der sozialökonomischen Reproduktion überhaupt zugunsten der unmittelbaren männlichen Gewaltmenschlichkeit. Der Mann ist jetzt kein pater familias mehr, aber eben nicht zugunsten der Frauen, sondern als völlig entwurzeltes monadisches Konkurrenzsubjekt, das als Gewaltsubjekt die absolute Grenze der modernen gesellschaftlichen Konstitution erscheinen lässt. Es sind fast ausschließlich Männer, von denen die „Armeen“ der Plünderungsökonomie gebildet werden; total verantwortungslose „Streuner“, oft noch halbe Kinder, die durch den Lauf der Kalaschnikow die ältesten Codes des warenproduzierenden Patriarchats in einem absurden Alptraum reproduzieren. Das männliche bewaffnete Kind als letzte misogyne Horrorgestalt der Moderne ist schon mehr als ein Menetekel.

Vielleicht in keinem Punkt hat sich die postmoderne „Chancen“-Ideologie so grausam blamiert wie hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses. Die viel beschworene Individualisierung in der globalen „Risikogesellschaft“ sieht eben für Frauen und Männer durchaus verschieden aus, soweit sie sich nicht auf den Karriere-Etagen des neuen Finanzkapitalismus und seiner bizarren Sekundärformen tummeln. Der Kern des ökonomischen Subjekts der Moderne entpuppt sich als männlicher Gewalttäter wie in den frühesten Anfängen dieser Subjektform. Die prekäre „Feminisierung der Beschäftigung“ oder überhaupt der völlige Zusammenbruch der kapitalistischen Re-Produktion wird von einem postmodernen männlichen Realökonomismus anti-emanzipatorisch beantwortet durch zunehmende Gewalt gegen Frauen und Kinder, durch Vergewaltigung, Raub und Mord.

Die Kälte gegen das eigene Selbst

Der marodierende Realökonomismus darf als Motivzusammenhang freilich nicht in falscher Unmittelbarkeit verstanden werden. Das nicht mehr anders als gewaltsam geltend zu machende Geld- und Konkurrenzmotiv bildet den Hintergrund und die Triebkraft der (männlichen) Plünderungsökonomie. Trotzdem bedarf es dafür der nicht unmittelbar ökonomischen „Feinddefinition“, selbst wenn diese inhaltlich beliebig bleibt und sich die Gewaltsamkeit keineswegs auf die mehr oder weniger willkürlich definierte Feindpopulation beschränkt. Die Ideologie welcher Couleur auch immer verwildert und verwahrlost ebenso wie die Konkurrenz und ihre Subjektform, aber sie verschwindet nicht.

Außerdem besteht nicht nur ein direktes Verhältnis von Verelendung und Macht der Banden. Das Elend bildet den gesellschaftlichen Humus der Gewalt, aber es äußert sich nicht unbedingt selber gewaltsam oder jedenfalls nicht allein. Die eigentlichen Lazarus-Schichten sind meist gar nicht mehr fähig, zur Waffe zu greifen. Sie dienen nur noch als Opfermasse oder bleiben überhaupt einem kraftlosen Vegetieren überlassen. Die Milizen rekrutieren sich eher aus der perspektivlos gewordenen männlichen Jugend der bis vor kurzem noch mit einer Fassade der Normalität ausgestatteten Industriearbeiterschaft oder des Mittelstands. Gerade auch viele Angehörige der „Jeunesse dorée“, der trotz Krise noch Bessergestellten, der Reichen und Superreichen, der Krisen- und Globalisierungsgewinnler finden sich darunter.

Das Elend macht eben auch denen Angst, die noch nicht direkt davon erfasst sind, weil es eine Drohung für die eigene Zukunft darstellt. Es erzeugt nicht notwendig Mitleid und emanzipatorische Gesellschaftskritik, sondern auch Wut auf die Elenden und Verwahrlosung der Sitten gerade bei denen, die noch oben schwimmen in der Elendsgesellschaft. Zur „verlorenen Generation“ gehören nicht nur die jungen Dauerarbeitslosen und „Überflüssigen“, sondern auch die davon nicht oder noch nicht unmittelbar betroffenen (männlichen) Jugendlichen werden vom Klima der gesellschaftlichen Krise geprägt und verwildern moralisch. Die meisten Milizen und Banden in den Krisen- und Zusammenbruchsregionen stellen so eine merkwürdige Mischung aus barbarisierten Arbeitslosen und einer ebenso barbarisierten „Jeunesse dorée“ dar (deren Väter oft als Paten und Unterpaten fungieren).

Wenn die gesellschaftliche Reproduktion als Ganzes nicht mehr funktioniert, wenn die Quantität von Armut, Elend und Verzweiflung ein bestimmtes Maß überschreitet, dann kann es keine Insel der Wohlanständigkeit mehr geben. Das Fluidum der Angst und des Hasses durchdringt mühelos alle Hochsicherheitszäune, hinter denen sich die Obszönität des Krisenreichtums verschanzt hat. Die Ankoppelung von „erfolgreichen“ Minderheiten an die Globalisierung selbst noch in den Zusammenbruchsregionen konstituiert keinen sozialen Raum, der sich geistig und psychisch exterritorial halten könnte. Die Gesellschaft ist eben doch unteilbar. Geschäft und Gewalt, noch nie grundsätzlich geschieden, beginnen zu verschmelzen - und diese Kernschmelze der kapitalistischen Vernunft greift mit Windeseile auf die Weltzonen der vermeintlichen Normalität und Legalität über.

Die Konkurrenz wird in der Weltkrise zur ökonomischen Vernichtungskonkurrenz, somit zur sozialen Existenzkonkurrenz, und diese schlägt um in die unmittelbare „maskulinistische“ Gewaltkonkurrenz. Wenn dabei das Risiko des eigenen gewaltsamen Todes zum Alltag wird, jetzt im Mikrobereich der Lebenswelt wie einst an den Fronten der Weltkriege, steht dies nicht unbedingt im Widerspruch zum „egoistischen Interesse“ und zu den Begierden des Warenkonsums. Was dabei zum Vorschein kommt, ist die buchstäblich mörderische Selbstwidersprüchlichkeit des Konkurrenzsubjekts, indem sich - durch die Krise verschärft - die Selbstwidersprüchlichkeit der kapitalistischen Logik auch in den Individuen reproduziert; aufgrund ihrer Sozialisation vor allem in den männlichen. Die Ausweglosigkeit der kapitalistischen Form zerreißt die Motive, Gedanken und Empfindungen in gegensätzliche, unvereinbare und unlebbare Widersprüche. Die Gier nach Erfolg, Konsum usw. in dieser Form wird konterkariert durch die vollkommene Trostlosigkeit und geistige Ödnis des ökonomischen Imperativs, dessen Inhalte sich als immer alberner und gleichzeitig immer destruktiver darstellen.

Im schwülen Klima dieser zugespitzten Widersprüche gleitet das Konkurrenzbewusstsein leicht in einen Zustand, der über den Begriff des bloßen „Risikos“ oder „Interesses“ hinausweist: Die Gleichgültigkeit gegenüber allen anderen schlägt um in die Gleichgültigkeit gegen das eigene Selbst. Ansätze dieser neuen Qualität sozialer Kälte als „Kälte gegen sich selbst“ zeigten sich schon in den großen Krisenschüben der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch wenn diese Erfahrungen vorübergehend zu sein schienen. Hannah Arendt hat in ihrem berühmten Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ für die Zwischenkriegszeit eine „Atmosphäre allgemeiner Zersetzung“ konstatiert, in der eine Kultur der „Selbstverlorenheit“ entstanden sei (Arendt 1986/1951). Und auch damals schon waren es in erster Linie Männer und vor allem sehr junge Männer, die davon erfasst wurden.

Es war also viel mehr als bloß der Verlust beruflicher und materieller Sicherheit, so Arendt, der diese Individuen innerlich zum blinden Selbstopfer bereit machte: „Aber selbst diese egozentrische Bitterkeit, die individuell psychologisch gesehen das Kennzeichen einer ganzen Generation wurde, war nicht etwas, was sie gemeinsam hatten, obwohl alle individuellen Unterschiede schließlich in einem allgemeinen Ressentiment untergingen; der Egozentrismus konnte keine gemeinsamen Interessen entstehen lassen, und er war daher sehr oft mit einer typischen Schwächung des Instinkts der Selbsterhaltung verbunden. Selbstlosigkeit, nicht als Güte, sondern als Gefühl, dass es auf einen selbst nicht ankommt, dass das eigene Selbst jederzeit und überall durch ein anderes ersetzt werden kann, wurde ein allgemeines Massenphänomen, das wohl den einzelnen dazu bewegen konnte, sein Leben in die Schanze zu schlagen, aber mit dem, was wir gewöhnlich unter Idealismus verstehen, nicht das geringste zu tun hatte. Diese Menschen … hatten bereits sehr viel mehr verloren als die Kette des Elends und der Ausbeutung, als das Interesse an sich selbst ihnen aus der Hand geschlagen wurde… Mit ihrer Weltlosigkeit verglichen waren die christlichen Mönche weltverhaftet, voller Interesse für weltliche Angelegenheiten… Seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts haben viele bedeutende Historiker und Staatsmänner das Herannahen eines Massenzeitalters prophezeit… Alle diese Prophezeiungen sind nun in der Tat eingetroffen, aber, wie es mit Prophezeiungen meist zu gehen pflegt, in einer Art und Weise, die doch von den Propheten nicht vorhergesehen war. Was sie kaum vorausgesehen oder doch in seinen eigentlichen Folgen nicht richtig eingeschätzt hatten, war dies ganz unerwartete Phänomen eines radikalen Selbstverlusts, diese zynische oder gelangweilte Gleichgültigkeit, mit der die Massen dem eigenen Tod begegneten oder anderen persönlichen Katastrophen, und ihre überraschende Neigung für die abstraktesten Vorstellungen, diese leidenschaftliche Vorliebe, ihr Leben nach sinnlosen Begriffen zu gestalten, wenn sie dadurch nur dem Alltag und dem gesunden Menschenverstand, den sie mehr verachteten als irgend etwas sonst, entgehen konnten… Der Mangel an wirklicher Urteilskraft geht hier Hand in Hand mit der eigentümlichen, modernen Selbstlosigkeit, und beides findet nur zu sehr seine Entsprechung in dem Drang der Massen in eine fiktive Welt…“ (Arendt 1986/1951, 510 ff., 539).

 

Ebenso wie bei zahlreichen anderen Momenten ihrer Analyse des Totalitarismus entgeht es Hannah Arendt, dass sie hier weit mehr und Grundsätzlicheres beschreibt als bloß eine bestimmte historische Entwicklung des politischen Totalitarismus nach dem Ersten Weltkrieg, der bürgerlichen „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Das totalitäre Moment wohnte dem modernen warenproduzierenden System von Anfang an inne; es bildet seinen Kern, der ein Gewaltkern ist: die vollständige Unterwerfung des Menschen mit Haut und Haar, mit Leib und Seele, mit Kind und Kegel unter das abstrakte, an sich völlig inhaltslose Prinzip der Kapitalverwertung, deren sekundärer Ausdruck die moderne Staatlichkeit (das Souveränitätsprinzip) nur ist. Indem die Imperative dieser irrationalen Logik die Gesellschaft in eine sekundäre Naturwüste des Überlebenskampfes verwandelt haben, hat sich nur scheinbar die abstrakte Selbstbehauptung als oberstes Prinzip der Individuen (in ihrer modernen Form als strukturell „männliche“ Subjekte) konstituiert. Dahinter lauert vielmehr die ebenso abstrakte Selbstverleugnung; genauer gesagt: Selbstbehauptung und Selbstverleugnung sind in ihrer völligen Trennung von jeder sozialen Gemeinsamkeit an sich identisch, und diese Identität erscheint auch praktisch in den großen kapitalistischen Gesellschaftskatastrophen.

Elemente davon finden sich eben schon in der Urgeschichte moderner bürgerlicher und männlicher Subjektivität zu Beginn der sogenannten Neuzeit, bei den marodierenden Banden des Dreißigjährigen Kriegs und bei den Protagonisten jener zahlreichen Bürgerkriege, in denen sich das moderne Gesellschaftssystem herausbildete. Die Selbstlosigkeit und Selbstverlorenheit der Massen in der Durchgangsepoche des politischen Totalitarismus manifestierte auf hohem Entwicklungsniveau denselben Kern moderner Subjektivität, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in jenem zu sich kommenden Realökonomismus des Weltsystems, das heißt im ökonomischen Totalitarismus, entpuppte.

Wie sich alle allgemeinen Eigenschaften des Totalitären, die Hannah Arendt vermeintlich (ihrem Selbstverständnis nach) ausschließlich auf die politische Durchsetzungs- oder Verpuppungsform der totalitären Regimes bezog, in viel reinerer Form im ökonomischen Totalitarismus des sich globalisierenden Kapitalverhältnisses wiederfinden lassen, so auch und nicht zuletzt jene Kultur der Selbstlosigkeit, Selbstverlorenheit und Selbstvergessenheit, jener völlige Verlust der Urteilsfähigkeit. Dieser im totalen ökonomischen Imperativ angelegte totale Selbstverlust der abstrakten Individuen entfaltet sich am Ende des 20. Jahrhunderts, in der neuen Weltkrise an der absoluten inneren Schranke des Kapitalverhältnisses, mit einer nie dagewesenen Wucht und Ausdehnung. Was in der Vergangenheit nur temporärer Zustand war, wird zum Normal- und Dauerzustand; der „zivile“ Alltag selbst geht in die totale Selbstverlorenheit der Menschen über.

Wem wäre jemals mehr „das Interesse an sich selbst aus der Hand geschlagen“ worden, wer hätte jemals mehr das Gefühl haben müssen, dass es „auf einen selbst nicht ankommt“, dass alle Individuen jederzeit durch andere ebenso gleichgültige Charaktermasken der totalitären Verwertungsbewegung ausgetauscht werden können - als es den „überflüssigen“ Massen der dritten industriellen Revolution ebenso wie den ökonomischen Charaktermasken des globalisierten Finanzkapitals heute widerfährt? Und davon wird erneut in erster Linie ein männliches Selbstverständnis getroffen, auch wenn diese Verlorenheit in bestimmten Bereichen der Ökonomie empirisch Frauen nicht weniger betrifft. Es ist ein identischer Selbstverlust, der Schlägerbanden, Plünderer und Vergewaltiger ebenso kennzeichnet wie die Selbstausbeuter der New Economy oder die Bildschirmarbeiter des Investmentbanking.