Weltordnungskrieg

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Auf dieser Welle des Zeitgeistes schwimmend, hat es der greise US-amerikanische Wirtschaftshistoriker David Landes fertiggebracht, Ende der 90er Jahre mit seinem Werk „Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind“ (Landes 1999) einen weltweiten Bestseller zu landen. Landes entblödet sich nicht, in einer unglaublich rohen Geschichtsklitterung, die anachronistisch die modernen kapitalistischen Kriterien bis in die Antike und ins Mittelalter zurückprojiziert, sämtliche Schweinereien der europäischen Geschichte in ebenso viele kulturelle Vorteilfaktoren für die allgemeine Reichtumsproduktion umzudefinieren und die blutige Konstitution des Kapitalismus als „Kultur“ einer kommerziellen Idylle darzustellen: „Als die Europäer sich endlich einigermaßen sicher vor Angriffen von außen sahen (ab dem elften Jahrhundert), waren sie in der Lage, wie nie zuvor und wie nirgends sonst ihren eigenen Nutzen zu verfolgen… Auch dass sich Gelegenheit bot, die Raufbolde an ferne Fronten abzuschieben (man denke an die Kreuzzüge), trug zur Befriedung bei… Die ökonomische Entfaltung des mittelalterlichen Europas wurde … durch eine Folge von organisatorischen Neuerungen und Anpassungen befördert… Die Herrscher, sogar regionale Machthaber, wetteiferten in dem Bemühen, mit der Entwicklung Schritt zu halten, Aufgeschlossenheit zu beweisen, Arbeitskräfte verfügbar zu machen (!), Unternehmungen anzulocken und die Steuern einzustreichen, die sie abwarfen. Gleichzeitig erfand die Geschäftswelt neue Gesellschafts-, Vertrags- und Austauschformen, um Investitionen zu ermöglichen und Zahlungsvorgänge zu erleichtern… Diese kommerzielle Revolution‘ ging fast zur Gänze von den Kreisen der Handeltreibenden selbst aus… Dadurch erreichten sie einen wesentlichen Zuwachs an Sicherheit … und eine Ausdehnung des Marktes, die der Spezialisierung und Arbeitsteilung Vorschub leistete. Es war die Welt von Adam Smith, die bereits fünfhundert Jahre vor ihm Gestalt anzunehmen begann“ (Landes 1999, 55, 59 f.).



Diese Geschichtsklitterung ist ein simples Produkt der Paradigmen von Institutionenökonomie und Kulturalismus, nach deren Muster völlig divergente historische Erscheinungen anachronistisch eingeebnet werden, sodass das Resultat kaum noch überraschen kann: „Wenn wir aus der Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung etwas lernen, dann dies: Kultur macht den entscheidenden Unterschied… Die ökonomischen Erfolge Japans und Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man durch eine Betrachtung der Kultur durchaus vorhersehen. Dasselbe gilt für Südkorea im Vergleich zur Türkei und für Indonesien im Vergleich zu Nigeria… Auch die entgegengesetzte Reaktion ist möglich: Kultur kann sich unternehmerischen Initiativen entgegenstellen. Diesen Fall haben wir in Russland, wo 75 Jahre markt- und profitfeindlicher Ideologie und Privilegienwirtschaft unternehmensfeindliche Haltungen zementiert und verankert haben… Besonders dringlich stellt sich das Problem in Ländern, in denen unternehmerische Aktivitäten rar sind. In einer Welt des raschen Wandels und der internationalen Konkurrenz kann es sich eine Gesellschaft kaum leisten, auf Privatinitiative zu warten…“ (Landes 1999, 517 ff.).



Landes macht sich einer doppelten intellektuellen Sünde schuldig, die einem identischen ideologischen Denkfehler entspringt. Zum einen misst er die Geschichte von Jahrtausenden an den Kriterien des irrationalen kapitalistischen Selbstzwecks der Verwertung des Werts und beurteilt so vom alten Griechenland und dem alten China bis zur heutigen Staatenwelt sämtliche Länder und Kulturen danach, ob sie (seiner Meinung nach) der Herausbildung kapitalistischer Strukturen förderlich waren oder nicht. Was die gegenwärtige kapitalistische Peripherie angeht, wurden seine Kriterien sogar rein immanent betrachtet schon zum Zeitpunkt des Erscheinens seines Buches blamiert, denn nach dem Zusammenbruch der Tigerstaaten hat sich in ökonomischer Hinsicht Südkorea der Türkei und Indonesien Nigeria ziemlich angenähert. Dieses Desaster allerdings war durch keinerlei „Betrachtung der Kultur“ vorauszusehen.



Zum anderen entwickelt Landes die peinlich zirkuläre Argumentation, dass unter der blinden Voraussetzung kapitalistischer Produktionsbedingungen eine den kapitalistischen Motiven förderliche Kultur, wer hätte das gedacht, „erfolgreicher“ ist als andere, wobei er nicht einmal vergisst, hinzuzufügen, dass sogar der Erfolg Gewinner und Verlierer auf einer ganz existentiellen Ebene impliziert. Die Unverschämtheit der Argumentation besteht wie überhaupt in der bürgerlichen Ideologie darin, dass der Kapitalismus nicht mehr als historische Gesellschaftsformation, sondern als überhistorische Menschheitsbedingung schlechthin dargestellt wird. So kann Landes den postmodernen Kulturalismus prononciert wenden, indem er ihn (wiederum parallel zu Huntington!) zum Vehikel eines expliziten neuen Eurozentrismus macht, wobei er sich darin „tabubrecherisch“ gefällt und sozusagen genüsslich wälzt: Die westliche Version des Menschseins erscheint abermals als überlegene im Zeichen der totalitären Marktwirtschaft.



Dieser neue, gewissermaßen sekundäre Eurozentrismus überschwemmt nun die viel zu kurz greifende kulturalistische Kritik am alten (kolonialistischen) Eurozentrismus. Der linke Postmodernismus wird mit seinen eigenen Waffen geschlagen und apologetisch instrumentalisiert. Auch in den Krisen- und Zusammenbruchsregionen selbst macht sich der antikritische neoliberal-postmoderne Geist als Scheinalternative zur Barbarei der korrupten Warlords und Plünderungsökonomien breit. Es sind meist im Westen und dessen Zeitgeist erzogene intellektuelle Musterschüler, die nun die Ursache der Misere nicht mehr im kapitalistischen „Terror der Ökonomie“, sondern in der institutionellen und kulturellen Rückständigkeit der vom Weltmarkt ausgespuckten Menschenmassen suchen wollen. So behauptet etwa die Afrikanerin Axelle Kabou unter dem tosenden Beifall der westlichen Legitimationsideologen und der kapitalistischen Leitmedien: „Afrika liegt nicht im Sterben, sondern es begeht in einer Art kulturellem Rausch (!), der lediglich moralische Befriedigung hervorbringt, Selbstmord. Die umfangreichen Kapitalspritzen werden daran nichts ändern können. Man müsste zunächst die afrikanische Mentalität entgiften (!), die Uhren richtig stellen (!) und die Menschen in Afrika mit ihrer Verantwortung konfrontieren (!)…“ (Kabou 1993,40).



Es hat etwas Trauriges, wie hier vom kapitalistischen Zeitgeist „mental vergiftete“ afrikanische Intellektuelle restlos die alte kolonialistische Matrix in einer postmodern reformulierten Weise übernehmen, um die „faulen Neger“ endlich zu einer kapitalistischen „Kultur der Selbstverantwortung“ zu nötigen, obwohl Afrika bereits das Gros der im Weltsystem „Überflüssigen“ stellt.



In dieselbe Kerbe schlägt der berüchtigte peruanische „Entwicklungsökonom“ Hemando de Soto, der schon früher durch seine Verherrlichung der Elendsökonomie als „Marktwirtschaft von unten“ aufgefallen war, indem er nun ebenfalls auf der Welle der „Institutionen-Ökonomie“ reitend „Freiheit für das Kapital!“ (de Soto 2002) fordert, um die nunmehr bereits durchgekaute Ideologie vom „Mangel an verlässlichen Institutionen“ noch einmal wiederzukäuen und entsprechend hochtrabend zu „warnen“.



Damit entpuppt sich die kulturalistische Ideologie der „political correctness“, die vor allem in den USA formal emanzipatorisch interpretiert wurde, als neues Herrschaftsinstrument, ganz im Sinne von Landes. Der gesellschaftskritisch viel zu oberflächliche postmoderne Impuls, die „Identitäten“ und Traditionen der farbigen Menschen und der nichteuropäischen Kulturen offiziell anzuerkennen, in den akademischen Kanon aufzunehmen und mit Quotengarantien zu versehen, wird nun umgedreht und richtet sich gegen seine vermeintlichen Nutznießer: Die Marktwirtschaftsfrömmler nageln sie pejorativ auf ihre „ethnischen“ und kulturellen Identitäten fest, die sich plötzlich als Makel und Stigma mangelnder Kompatibilität mit dem allherrschenden ökonomischen Totalitarismus erweisen. Also sind sie an ihrer Armut und an ihren Krisen selber schuld, weil sie nicht genügend „Kapitalkultur“ in ihren Köpfen und Institutionen haben.



Die soll ihnen nun wie gehabt der glorreiche Westen gnädig als eine „Entwicklungshilfe“ verabreichen, die rein ideologisch ist und deshalb gar nichts mehr kostet. Der kapitalste aller Böcke, eben das kapitalistische Weltsystem samt seinen ehrenwerten Repräsentanten, wird zum globalen Menschengärtner geadelt, und damit lassen sich die Wirkungen der Systemkrise zu äußerlichen Ursachen umdefinieren. Man hat Schuldige, und man hat seine sozialökonomische Ignoranz gerettet.



Zuletzt landet die jeweils neueste Mode der kapitalistischen Legitimationsideologie dann bei den großen institutionellen Wiederkäuern, und so ist denn inzwischen auch die Weltbank auf den postmodern-kulturalistischen und institutionen-ökonomischen Trip gekommen: „Institutionen für Märkte schaffen“ (Weltbank 2002) hat sie einen ihrer jüngsten Weltentwicklungsberichte betitelt, um darin treu und brav „das Verständnis für die Rolle marktunterstützender Institutionen“ (Wolfensohn 2002) einzuklagen und ihren „Auftrag“ entsprechend zu reinterpretieren: „Für den Auftrag der Weltbank, die Armut zu bekämpfen, ist die Schaffung wirksamer Institutionen eine entscheidende Herausforderung. Da wir uns der zentralen Bedeutung von Institutionen im Entwicklungsprozess bewusst sind, haben wir einen ‚Umfassenden Entwicklungsrahmen‘ (Comprehensive Development Framework) geschaffen, der die enge Verknüpfung zwischen Institutionen und den menschlichen, physischen und makroökonomischen Aspekten der Entwicklung hervorhebt“ (Wolfensohn, a.a.O.).



So ist denn glücklich das Verhältnis von Krise und institutioneller Verwahrlosung kausal auf den Kopf gestellt und die kapitalistische Ignoranz ideologisch wasserdicht gemacht, was natürlich am Fortschreiten der realen Krisen- und Zusammenbruchsprozesse nicht das geringste ändert. Während der ökonomische Terror den Horizont für eine wachsende Mehrzahl der Menschen und nicht zuletzt der Jugend zubetoniert, darf ein deutscher Sprachkünstler und Meisterdenker liberaldemokratischer Ausgewogenheit über „offene Horizonte“ fabulieren, „in die die heute Jungen hineinwachsen“, und unberührt von den Welttatsachen eine „zweite Phase“ der glorreichen Globalisierung des Kapitals verkünden: „So wird in der zweiten Phase der Globalisierung eine doppelte Erkenntnis an Boden gewinnen: Die Welt insgesamt, und vor allem die alten Industriestaaten werden insgesamt und ökonomisch reicher werden… (Der) wachsende wirtschaftliche Reichtum der Nationen kommt gleichsam sponte sua, wie von selbst, den Gesetzen der Ökonomie, des technologischen Fortschritts und der internationalen Arbeitsteilung folgend“ (Dettling 2001). Aber natürlich nur, wenn die Menschen sich „kulturell“ und institutionell dem Liebreiz des Kapitals und seiner Zumutungen öffnen.

 



„Sponte sua“ bringt die Weltdemokratie eben immer wieder ihr Generalmotto zum Ausdruck, und das lautet ganz schlicht: Frechheit siegt! Für die unpassenden Tatsachen ist nunmehr das aus Kulturalismus und Institutionenökonomie destillierte Feindbild einer der an sich „guten“ Marktwirtschaft als fremd und äußerlich gegenübergestellten Weltkorruption, Weltkriminalität, Weltbarbarei usw. zuständig. Diese in ihrer Genesis völlig unerklärten Phänomene gelten als die niederzuringenden Kräfte, die angeblich irgendwie aus dem „Bösen“ an sich aufgestiegen sind, wobei das so gewonnene völlig verzerrte und auf den Kopf gestellte Bild der kapitalistischen Krisenwelt mit einer ebenso kulturalistischen Frontstellung des „Abendlands“ gegen die fiktiv zurechtkonstruierten afrikanischen, asiatischen, islamischen usw. Gegenwelten angereichert wird. Und dieses dreist-verlogene Erklärungsmuster ist in den zunächst marktwirtschaftsfromm gewordenen und dann zum Bellizismus bekehrten demokratischen „Gutmenschen“-Idealismus eingeflossen, der so erst interventionstauglich wird.








Sicherheitsimperialismus





Es erhebt sich natürlich die Frage: Wozu all der Aufwand? Warum will der „ideelle Gesamtimperialismus“ der NATO unter unanfechtbarer Führung der USA mit derart brüchiger ideologischer Legitimation unbedingt eine Welt militärisch befrieden, mit der er sowieso größtenteils territorial nichts mehr anfangen kann? Warum überlässt er die Masse der „Herausgefallenen“ nicht einfach ihrem Schicksal und ihrem dunklen Drang, in der Fortsetzung kapitalistischer Konkurrenz mit anderen Mitteln sich gegenseitig umzubringen?



Im Einzelfall kann dies durchaus auch eine Option sein. So wurde die noch mit UNO-Mandat 1993 durchgeführte Intervention in Somalia jämmerlich abgebrochen, nachdem die aus vielen UNO-Staaten bunt zusammengewürfelten Interventionstruppen in peinlich erfolglosen Gefechten mit einheimischen Clan-Milizen aufgerieben zu werden drohten und sich aus den undurchsichtigen Zusammenhängen eines bereits weit fortgeschrittenen Staatszerfalls nicht einmal andeutungsweise so etwas wie ein „politischer“ Ansprechpartner herausdestillieren ließ. Dass der damalige deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe beim pompösen Truppenbesuch vor laufenden Kameras im Wüstensand stolperte und der Länge nach hinschlug, hatte symbolischen Charakter.



Der Rückzug war einer der kläglichsten und von unmissverständlichen Erscheinungen am Flughafen von Mogadischu begleitet: „Die Schützenpanzer der pakistanischen Blauhelme waren im Morgengrauen noch nicht abgerückt, da strömte die Menge auf das Gelände und trug in fliegender Hast Möbel, Teppiche, Elektroeinrichtungen und alles irgendwie Verwertbare fort. Die abrückenden 1500 Pakistaner, die letzten Blauhelme in Somalia, zogen sich in den Seehafen Mogadischus hinter die Linien der amerikanischen und italienischen Marinesoldaten zurück, die die Evakuierung der Blauhelme absichern. Bewaffnete Anhänger des somalischen Milizenführers Mohammed Farah Aidid vertrieben die Plünderer schließlich mit Schüssen vom Flughafen und übernahmen die Kontrolle des Geländes“ (dpa, März 1995). Das einzige Resultat der ganzen Operation bestand also darin, dass die unorganisierte Plünderungsökonomie wieder von der organisierten Bandenherrschaft abgelöst wurde.



Nicht zuletzt aus dieser Erfahrung heraus zog man die Schlussfolgerung, sich bei weltpolizeilichen Aktionen mehr auf die NATO, auf Hightech-Militär und auf gezielte Luftschläge zu konzentrieren, wie sie dann vor allem gegen Jugoslawien und im endlosen Folgekonflikt mit dem Irak zum Einsatz kamen. Damit ist allerdings der Aktionsradius der kapitalistischen Weltpolizei bereits arg reduziert: Einerseits gibt es Länder und Regionen wie Russland, China, Pakistan, Indien etc., an die man sich selbst bei kapitalistischem Befriedungsbedarf kaum heranwagen kann; andererseits hat die Somalia-Erfahrung dazu geführt, dass andere Länder und Regionen wie ganz Zentralafrika etc. als zu unbedeutend eingestuft und tatsächlich vorerst ihrem Schicksal der inneren Zerfleischung in der barbarisierten Krisenkonkurrenz überlassen wurden.



Aber der weltpolizeiliche Herrschaftsanspruch kann dennoch nicht fallengelassen werden. Es stimmt nicht, wenn Enzensberger behauptet, dass sich das Kapital und seine Gewalt-Repräsentanz „von den Kriegsschauplätzen zurückzieht“. Der Kontrollanspruch muss sich weiterhin und sogar verstärkt dort manifest äußern, wo die Einstufung von Risiko und „Interventionswert“ es zulässt; und er muss als grundsätzliche Drohung auch dem Rest der Welt gegenüber latent bleiben. Wie in kapitalistischen Verhältnissen nicht anders zu erwarten, lässt sich auch dieser „Interventionswert“ letztlich als ökonomische Bestimmung erklären.



Dabei sind zwei Dinge in Erinnerung zu rufen. Zum einen hat die Krise der dritten industriellen Revolution ja längst auch die Staaten des kapitalistischen Zentrums selbst erfasst. Zwar ist die Weltkrise dort noch nicht so weit fortgeschritten wie in den großen Räumen der Peripherie, aber durchaus bereits präsent genug, um weit gehende Handlungszwänge zu setzen. Auch im Westen schrumpft die Kaufkraft großer Massen, auch im Westen hat sich bereits ein Menschensockel von „Überflüssigen“ gebildet, auch im Westen ist letzten Endes die Reproduktionsfähigkeit des Kapitals gefährdet.



Zum andern hat die Globalisierung als Reaktion auf dieses Problem dazu geführt, dass sich die einzelnen Kapitalien betriebswirtschaftlich über den Globus zerstreuen. An die Stelle territorialer Reproduktionsräume des Kapitals treten deterritorialisierte Profit- und Produktivitäts-Inseln: weltweite betriebswirtschaftliche Wertschöpfungsketten, die quer zu den austrocknenden nationalökonomischen Territorien verlaufen. Die deterritorialisierte Betriebswirtschaft simuliert eine reproduktionsfähige Welt des Kapitals, die mit den Territorien der „Überflüssigen“ nichts mehr zu tun haben und diese doch an der Kandare halten soll.



Natürlich verteilt sich diese Betriebswirtschaft des transnationalen Kapitals mit unterschiedlicher Dichte über den Globus. In der Triade des kapitalistischen Zentrums (Japan, Nordamerika, Westeuropa) findet sich auch die größte Dichte des transnationalen Kapitals; der Löwenanteil globalisierter Wertschöpfungsketten und der dazugehörigen transnationalen Investitionen und Ströme des Finanzkapitals konzentriert sich auf diese verhältnismäßig kleinen Weltregionen, während die Dichte der Globalisierung in der Peripherie immer mehr abnimmt und gegenwärtig vor allem in Afrika nur noch als gewissermaßen homöopathische Dosis zu verzeichnen ist.



Aber Kleinvieh macht eben auch Mist. Will sagen: Je deutlicher die inneren Schranken der kapitalistischen Produktionsweise in Erscheinung treten, desto größer wird auch das Bedürfnis des transnationalen Kapitals, selbst noch die kleinste Insel von Kosten-Rentabilität, Kaufkraft und Profitmöglichkeit ausnutzen zu können. Deterritorialisierung verlangt punktuelle Omnipräsenz in allen Zonen kapitalistischer Reproduktionsfähigkeit, um überall abschöpfen zu können, wo es noch irgendetwas abzuschöpfen gibt.



Dieses punktuelle Interesse kann in den riesigen, ökonomisch größtenteils unverwertbaren Räumen der Peripherie verschiedene Formen annehmen. Noch das kleinste Rinnsal der abnehmenden Kaufkraft, und sei es eine plünderungsökonomisch vermittelte, soll auf die Mühlen des transnationalen Kapitals gelenkt werden. Dasselbe gilt für kleine und kleinste Produktivitäts-Inseln, wo sich (oft nur vorübergehend) Prozesse der Lohn Veredelung im Rahmen transnationaler Wertschöpfungsketten rechnen, auch wenn die große Masse der jeweiligen Bevölkerung unbrauchbar bleibt.



Vor allem aber müssen die Räume der Peripherie dem Kapitalismus als Rohstoffreservoirs erhalten werden; von seltenen Metallen bis hin zu den pharmakologischen Reserven der tropischen Wälder, deren Ausbeutbarkeit im Zeitwettlauf mit der kapitalistischen Vernichtung dieser Wälder garantiert bleiben soll, solange es sie noch gibt. Und schließlich besteht ein Interesse daran, die klimatische und landschaftliche Erbaulichkeit der peripheren Weltregionen, solange auch diese noch nicht kapitalistisch ruiniert ist, für einen ebenso punktuellen Tourismus der Besserverdienenden aus den Zentren (allerdings gilt auch hier: solange es sie noch gibt!) zur Verfügung zu halten.



Die kapitalistische Weltdemokratie verlangt also von einer größtenteils unverwertbar gewordenen Welt, dass der Verwertungs- und Verwüstungsprozess dort ungestört weiterlaufen kann, wo er auch nur im Miniaturmaßstab noch möglich ist. Die Unbrauchbaren sollen sich in ihr Schicksal fügen und „standortpolitisch“ zu Billigstbedingungen um die Aufmerksamkeit der „Investoren“ betteln; „frei“ und ungehindert soll der Zugang zu den Inseln der Profitabilität in den Ozeanen des Elends sein; die guten Dinge der ansonsten unbrauchbaren Welt sollen zu Elendspreisen ohne Ende in den kapitalistischen Reproduktionskreislauf eingespeist werden oder verrotten. Auf dem Weg zum Strand sind gefälligst die Jammergestalten wegzuräumen, damit ihr Anblick das Auge der Weltdemokraten nicht beleidigt und die ausgestreckten Hände das Entspannungsvergnügen der hart arbeitenden Marktwirtschaftsmenschen nicht belästigen. Wer in einem Hungergebiet einen Delikatessenladen für die restlichen Zahlungsfähigen eröffnet, soll unbeeinträchtigt vom „Neid“ der Unbrauchbaren seinen für die Region doch allemal segensreichen Geschäften nachgehen können; und im Prinzip sollte selbst ein Warlord vom Nachbarpotentaten nicht umgebracht werden, bevor er seine Benz-Karosse bezahlt hat. Mit einem Wort: Das Interesse geht dahin, den Kapitalismus samt seiner „Marktwirtschaft-und-Demokratie“ auch dort als die einzig „gültige“ Reproduktionsform zu erhalten, wo das Kapital kein allgemeines gesellschaftliches Verhältnis mehr sein kann.



Es geht also nicht mehr um territoriale, aber um soziale, „postpolitische“ und weltpolizeiliche Kontrolle im Sinne einer Eingrenzung der katastrophalen Folgeprozesse, wie sie aus den in dichter Folge ablaufenden ökonomischen Zusammenbrüchen herauswachsen. Der Zentralbegriff für das dabei entstehende Problem heißt „Sicherheit“. Der „ideelle Gesamtimperialismus“ der NATO ist daher im wesentlichen ein Sicherheitsimperialismus: Die Sicherheit der insularen Geschäftsabläufe transnationaler Wertschöpfungsketten, Rohstofflieferungen, Geldanlagen usw. in den ansonsten unbrauchbaren Weltterritorien soll unter Ignoranz gegenüber der jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Reproduktionsunfähigkeit gewährleistet werden.



Unerwünschte Störfaktoren dieser Sicherheit lassen sich auf einer Makro- wie auf einer Mikro-Ebene feststellen. Auf der Makroebene sind es unliebsame, „wildgewordene“, aus anderen Konstellationen übrig gebliebene oder sonst wie sich der Kontrolle etwa der internationalen Finanzinstitutionen entziehende Regimes staatlicher oder halbstaatlicher Natur, die sich in irgendeiner Weise querlegen, den freien Zugang des transnationalen Kapitals zu Naturressourcen, Restmärkten etc. verweigern oder geld- und wirtschaftspolitisch krampfhaft (und oft schon verknüpft mit plünderungsökonomischen oder rein kleptokratischen Interessen) an alten nationalökonomisch-nationalstaatlichen Regularien festhalten wollen, durch eigenmächtige binnengesellschaftliche Militäroperationen die Geschäftssicherheit gefährden, als „Unterstützer des Terrorismus“ gelten usw.



An Kandidaten für den Status des Verbrecherregimes oder Schurkenstaats in diesem weltpolizeilichen Sinne herrscht wahrlich kein Mangel. Außer dem Irak und Restjugoslawien wurden bereits der Iran, der Sudan und Libyen mit diesem Titel belehnt; Indonesien, Malaysia, die Philippinen und Mugabes Simbabwe sind zeitweilig knapp daran vorbeigeschrammt. Ein Problem bei der Somalia-Mission war wohl, dass nicht rechtzeitig und eindeutig ein Generalschurke definiert worden war.

 



Auf der Mikroebene handelt es sich um die zahllosen Terrorgruppen, Mafiabanden, lokalen Warlords, um die marodierenden Restbestände zerfallender Staatsapparate und ziellos gewordener Guerillaorganisationen, schließlich auch um die vielfältigen Erscheinungen individueller Massenkriminalität, wie sie aus den sozialökonomischen Krisen- und Zusammenbruchsprozessen notwendig hervorgehen.



Es stört den kapitalistischen Funktionszusammenhang, wenn in Lateinamerika US-Manager des transnationalen Kapitals fast schon gewohnheitsmäßig zwecks Lösegeld gekidnappt werden (dort hat sich eine regelrechte „Kidnapping-Industrie“ entwickelt), wenn jugendliche Einbrecher in der chinesischen Provinz einen deutschen Siemens-Manager samt Familie abmetzgern, wenn europäische Touristen auf den Philippinen monatelang als Geiseln von Separatisten gehalten, in Kenia von arbeitslosen Stromern ausgeraubt und vergewaltigt, in Ägypten von islamischen Fundamentalisten verbrannt und in die Luft gesprengt werden.



Das Drama der aus einem malaysischen Touristencamp von philippinischen „Moslemrebellen“ verschleppten deutschen Familie Wallert z.B. wurde zum Stoff der Regenbogenpresse und brachte selbst den vernageltsten deutschen Tourismus-Spießern aus den Provinz-Idyllen der Besserverdienenden einen Hauch von Barbarisierung der kapitalistischen Weltgesellschaft nahe. Wie bei allen anderen Krisenerscheinungen werden allerdings auch diese wieder sekundär vom kapitalistischen Bewusstsein und dem entsprechenden Geschäftssinn besetzt. Zu den Entführern auf den Philippinen pilgerten die internationalen Medien und machten eine quotenträchtige Inszenierung daraus, nicht zuletzt aus der Aufführung der Frau Wallert, die das Verhältnis von Hysterie und Verständnislosigkeit im demokratischen Hirn einer anspruchsberechtigten westlichen Urlauberin angesichts der Dritte-Welt-Realität darstellen durfte. Bei wirklichen Katastrophen werden solche Panik-Solisten, denen gar nichts fehlt, die aber ihr vorrangiges Recht auf Rettung lautstark und effektvoll inszenieren, meistens tatsächlich als erste gerettet, oft auf Kosten der stilleren Verzweiflung und der ernsthafter Verletzten. Spötter könnten sagen, dass vielleicht nicht viel daran fehlte, und die Kidnapper hätten selber die Zahlung von Lösegeld angeboten, um die Dame wieder loszuwerden, weil sie auf die Furchtbarkeit einer deutschen Mittelstandsfrau einfach nicht vorbereitet waren. Dazu passt, dass Familie Wallert ihr Abenteuer auch noch geschäftstüchtig medial vermarktet hat, wenn man einschlägigen Presseberichten trauen darf.



Solche und ähnliche Erscheinungen tauchen zunehmend im Kontext der touristischen Krisenzonen auf. Hier deutet sich allmählich ein perverser Sekundärmarkt für Abenteuertourismus an; etwa wenn junge westliche Touristen eigens in den Jemen reisen, um sich von einheimischen Clans entführen und von den jeweiligen Botschaften oder Konsulaten wieder auslösen zu lassen. Nichts ist unmöglich, was die absurde Konsumwut und Erlebnisgeilheit der geistig abgestumpften Geldverdiener angeht. Aber diese Erscheinungen bleiben sekundär. Aufs Ganze gesehen ist das wachsende Sicherheitsdefizit in den globalen Krisenregionen Sand im Getriebe des Weltsystems und die Auswirkungen schlagen negativ als Verluste und Kostenfaktoren zu Buche.



Empfindliche Störungen machen sich auch bei den maritimen Handelswegen und Versorgungsstrecken des transnationalen Kapitals bemerkbar. Denn die Plünderungsökonomie bezieht sich nicht nur darauf, dass zusammengebrochene Nationalökonomien ausgeschlachtet und als Feind definierte Ethno-Gruppen oder schlicht irgendwelche Familien und Individuen in den sozialökonomisch verödeten Regionen ausgeraubt werden. Geplündert werden auch „die Schiffe mit den Schätzen der Weltwirtschaft“ (Der Spiegel 34/2001). Es ist ein starkes Indiz für den globalen Zusammenbruchsprozess der warenproduzierenden Moderne, dass eine Erscheinung aus ihrer Frühzeit massiv zurückkehrt: die Piraterie. Im asiatischen Pazifik, im Indischen Ozean, im Arabischen Meer, im Atlantik zwischen Afrika und Südamerika „erlebt der Totenkopf eine Renaissance“ (a.a.O). Mit Macheten und Äxten wie in klassischen Zeiten