Weltordnungskrieg

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Von der politischen Ökonomie zum postmodernen Kulturalismus

Es ist bezeichnend, wie die offenkundigen Zusammenhänge von Krise und Globalisierung, von Weltmarkt und Barbarei in der verzerrten Wahrnehmung des weltdemokratisch-marktwirtschaftlichen Bewusstseins und seiner Medien erscheinen. Der dreiste Zynismus, im sich fortpflanzenden globalen Elendsunternehmertum, in den traurigen Flohmärkten, auf denen Rentner ihre letzte Habe verscherbeln, oder in den Secondhand-Märkten der globalen Plünderungsökonomie eine Art zukunftsfreudige marktwirtschaftliche Folklore erblicken zu wollen („alles so schön bunt hier“), korrespondiert mit der ideologischen Veräußerlichung der gewaltsamen und zersetzenden Erscheinungen, als gehörten sie gar nicht eigentlich dazu.

So hat sich eine weltdemokratische Leier eingespielt, von der die Existenz der Krisenpotentaten, der Banden und Milizen etc. regelmäßig so dargestellt wird, als wären es diese Erscheinungen, die das eigentlich notwendige und mögliche Funktionieren der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Produktionsweise und deren segensreiche Prosperität verhindern. Die Frage, woher denn eigentlich all diese negativen und destruktiven Gespenster ihrerseits kommen, bleibt entweder im Dunkeln oder wird so beantwortet, dass die vom Weltmarkt ausgehende sozialökonomische Zerstörungskraft systematisch ausgeblendet bleibt. Aber irgendwie muss die fortschwelende Krise ja beim Namen genannt und einer Deutung zugeführt werden.

Dabei hat sich während des vergangenen Jahrzehnts ein deutlicher Wandel in den Erklärungsmustern vollzogen. Anfang der 90er Jahre, als die Welt noch ganz unter dem Eindruck des Kalten Krieges und des Systemkonflikts zwischen Staatskapitalismus und Konkurrenzkapitalismus seit der Mitte des 20. Jahrhunderts stand, war in den Deutungen die politökonomische Auseinandersetzung zwischen Staatsorientierung und Marktorientierung bestimmend. An den westlichen Universitäten hatten bis zur Mitte der 80er Jahre politische Wissenschaften und politische Ökonomie Konjunktur gehabt wie selten zuvor. Dementsprechend wurde der Zusammenbruch des Staatskapitalismus am Ende dieses Jahrzehnts vor allem in politisch-ökonomischen Kategorien wahrgenommen. Das vom oberflächlichen Schein der Ereignisse geblendete Urteil lautete daher: ökonomische Staatsorientierung ist Todsünde. Plötzlich waren alle glühende Marktwirtschaftler, selbst die meisten ehemaligen Neomarxisten. In seinem Siegesrausch verkündete der Neoliberalismus für alle Krisen- und Zusammenbruchsregionen die alleinseligmachende Doktrin der „marktwirtschaftlichen Reformen“: bekanntlich Abbau des Sozialstaats, Deregulierung, Privatisierung, Freihandel, Entfesselung der Konkurrenz.

Diese Interpretation musste die Wirklichkeit verfehlen, weil sie nicht begreifen wollte, dass Staat und Markt nur die beiden Pole kapitalistischer Vergesellschaftung darstellen und nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Es wurde ganz in der Manier des klassischen Wirtschaftsliberalismus quer durch das ideologische Spektrum so getan, als wäre der Staat eine Art Fremdkörper im kapitalistischen Mechanismus, statt ihn als logische Kehrseite des Marktes zu erkennen. Der Gegensatz von Markt und Staat ist nicht der von Kapitalismus und Nicht-Kapitalismus, sondern ein Gegensatz innerhalb des Kapitalismus selbst. In seinem Wahn konnte der marktwirtschaftliche Triumphalismus die ökonomische Staatsorientierung nur als ideologisches Feindbild wahrnehmen, statt sie in ihrer historischen Bedingtheit zu verstehen. Aus dieser verkürzten Sicht waren Staatseigentum und Staatseingriffe nichts als „Fehler und Irrtümer“, die notwendig zum Scheitern führen mussten.

Damit wurde jedoch Ursache und Wirkung verwechselt. Überblickt man die Geschichte des 20. Jahrhunderts als Ganzes, dann hat nicht die Staatsökonomie die Krise hervorgebracht, sondern sie war ihrerseits schon eine Antwort auf vorhergehende Krisen. Das Gefälle der globalen kapitalistischen Entwicklung, das mit den Mitteln marktwirtschaftlicher Konkurrenz nicht zu überwinden war, hatte seit dem Ende des Ersten Weltkriegs im Osten und Süden als Idee und Praxis jener „nachholenden Modernisierung“ den Staat als „nationalen Gesamtunternehmer“ hervorgebracht; ebenso war der westliche keynesianische Staatsinterventionismus eine Reaktion auf die katastrophale Erfahrung der Weltwirtschaftskrise gewesen.

Als Summe könnte man daher die Schlussfolgerung ziehen: Nicht eine bestimmte wirtschaftspolitische Orientierung innerhalb des Systems von Markt und Staat bringt die Krise hervor, sondern die basale Logik des Systems selbst, der betriebswirtschaftliche Verwertungsprozess. Deshalb konnten östlicher Staatskapitalismus und westlicher Keynesianismus Krise und „Unterentwicklung“ letzten Endes nicht besiegen, sondern mussten nach einer Inkubationszeit von mehreren Jahrzehnten an den Systemkriterien scheitern. Noch viel schneller scheitert nun der neoliberale Marktradikalismus, dessen Rezepte die Krise in großen Weltregionen eher verschlimmert als überwunden haben. Wie etwa der jugoslawische Bürgerkrieg seit Anfang der 90er Jahre bereits ein Resultat „marktwirtschaftlicher Reformen“ innerhalb des Tito-Staatskapitalismus gewesen war, so wird nun ein Jahrzehnt später deutlich, dass die weitergehenden „marktwirtschaftlichen Reformen“ unter neoliberaler Ägide ganze Weltteile vollends ins Chaos stürzen und die Milizen, Warlords, Terroristen, Fundamentalisten usw. umso mehr wie die Pilze aus dem Boden schießen lassen.

Statt sich jedoch die Paralyse des modernen warenproduzierenden Weltsystems in allen seinen Variationen einzugestehen, haben es die demokratischen Ideologen und wissenschaftlichen Mandarine im Laufe der 90er Jahre vorgezogen, die im globalen Maßstab unbewältigbar gewordenen Probleme der politischen Ökonomie einfach zu ignorieren und auf ein ganz anderes Feld auszuweichen, um dennoch den Anschein einer konformistischen Erklärung und einer Perspektive der Bewältigung erwecken zu können. Diese neuerliche Wende des intellektuellen Mainstreams, die inzwischen weltweit von Politik und Medien aufgenommen worden ist, hat sich aus verschiedenen Momenten oder Triebkräften heraus gebildet, die zu einem neuen Muster der Interpretation zusammengeflossen sind.

Zunächst haben wir es dabei mit einem lange vorbereiteten und grundlegenden Wechsel der intellektuellen und akademischen Mode in den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften zu tun. Seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre ist der von Frankreich ausgehende Siegeszug der so genannten postmodernen und poststrukturalistischen Theorien von Philosophen wie Lyotard, Derrida, Baudrillard, Foucault und anderen bis in die Proseminare und an die Mensatische vorgedrungen. Trotz aller Unterschiede und Gegensätze im Einzelnen lässt sich ein gemeinsamer Wesenszug dieser Theorien erkennen: Das Paradigma der politischen Ökonomie ist durch das Paradigma des Kulturalismus ersetzt worden. Mit derselben Inbrunst, wie man in den 70er Jahren Klassenkämpfe und Krisentheorien studierte, wurden nun kulturelle Formen, „kulturelles Kapital“ (Bourdieu), Lebensstile, Identitätsformen usw. studiert.

Keineswegs zufällig und keineswegs bloß zeitlich schließt diese intellektuelle Wende komplementär an die sozial- und wirtschaftspolitische Wende des Neoliberalismus an. Die Gesellschaft wird nicht mehr wesentlich als Produkt der politischen Ökonomie, sondern als Produkt eines „kulturellen Diskurses“ begriffen, statt das kulturelle Moment zur Dynamik der Kapitalakkumulation und ihrer Krisen in Beziehung zu setzen (Pierre Bourdieu, der dies nur äußerlich und daher verkürzt auf die soziologische Phänomenologie versucht, würde sich selbst nicht als „postmodern“ verstehen, eher im Gegenteil, aber er hat mit seiner Begrifflichkeit vom „kulturellen Kapital“ ungewollt dem postmodernen Affen Zucker gegeben). Soziale Bewegungen, gesellschaftliche Eingriffe und Veränderungen setzen den postmodernen Theorien zufolge nicht an den „harten“ Strukturen an, sondern „performativ“ am „Diskurs“ im weitesten Sinne, am kulturellen Habitus, an sozialem Design und symbolischer Selbstdarstellung.

Demzufolge ist die politische Ökonomie als solche kein Gegenstand der Reflexion mehr, schon gar nicht der Kritik (höchstens wird noch von „ökonomischen Stilen“ gesprochen, die das kategoriale Gerüst der kapitalistischen Verwertung gar nicht berühren, sondern nur dessen kulturelle Einkleidung darstellen). Die politisch-ökonomischen Kategorien und Prozesse bilden nur noch das leise, unreflektierte Hintergrundrauschen des „Diskurses“. In dieser Wahrnehmung findet eine merkwürdige Verkehrung statt: Je mehr in der gesellschaftlichen Realität der 80er und 90er Jahre die Kultur ökonomisiert wurde, desto mehr wurde umgekehrt im ideologischen Denken die Ökonomie kulturalisiert. In diesem paradoxen Vorgang wird deutlich, dass wir es mit einer kollektiven Verdrängungsleistung des gesellschaftlichen Bewusstseins zu tun haben, die im Lauf der 90er Jahre in die Interpretation von Weltkrise und Weltordnungskriegen eingegangen ist.

Der zu kurz greifende intellektuelle Ökonomismus innerhalb der Grenzen des Systems wurde also bloß durch einen erst recht defizitären intellektuellen Kulturalismus vor dem nicht mehr thematisierten Hintergrund der Formen des Systems ausgetauscht, just während dieses seinen totalitären Realökonomismus zu offenbaren begann. Einerseits drückt sich in der oberflächlichen Beliebigkeit und im schnellen Wechsel der kulturalistischen Orientierung die Beliebigkeit des Warenkonsums aus; andererseits ist diese Orientierung aber auch bestens dafür geeignet, sich vor den ungelösten und unlösbaren Problemen der politischen Ökonomie davonzustehlen.

Für große Teile der linken Intelligentsia bot der postmoderne Kulturalismus eine intellektuelle Entlastung: Man konnte mit dem Zeitgeist schwimmen und sich trotzdem auf einer symbolisch-performativen Ebene weiterhin als „radikal kritisch“ gerieren. Für die Ideologen des totalen Marktes selbst war die Möglichkeit einer intellektuellen Entlastung durch Elemente des postmodernen Denkens sogar noch verlockender: Nachdem sie das Staatsversagen durch den puren Markt kurieren wollten, können sie nun das prompte Marktversagen durch das Umschalten auf kulturalistische Interpretationen abermals, nur in anderer Weise, unter Verweis auf angeblich „außerökonomische Ursachen“ kaschieren und wegerklären.

 

Die „kulturalistische Wende“ wurde so zum gefundenen Fressen für die weltdemokratische Heuchelei und Ignoranz, die sich nun umso mehr auf verkürzte „ethnische“ oder „religiöse“ Zuschreibungen und Scheinerklärungen der global sich voranfressenden Gewaltstrukturen versteifen kann, je offenkundiger der Zusammenhang von Weltmarkt und Globalisierung, ökonomischer Krise, Terrorismus und Plünderungsökonomie wird. Als Grund für den Krieg in Jugoslawien fiel der westlichen Presse nichts anderes ein, als einen volkstümlichen und kulturell vermittelten „tiefsitzenden Hass“ der diversen Völkerschaften anzunehmen, der vom Tito-Regime nur künstlich unter dem Deckel gehalten worden sei: „Der Kommunismus hielt die zerstrittenen Völkerschaften Südslawiens mit eiserner Faust zusammen“, so das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ im Frühjahr 1999.

Kein Ton über die sozialökonomische Leidens- und Zusammenbruchsgeschichte der jugoslawischen Volkswirtschaft schon seit den 70er Jahren, obwohl darüber ausführliche kritische Analysen nachzulesen gewesen wären (vgl. vor allem Lohoff 1996). Aber solche Analysen will man eben nicht zur Kenntnis nehmen, weil sie immer nur auf die verheerenden Destruktionsmechanismen der geheiligten Weltmarktwirtschaft selber zurückverweisen.

So waren es in den 90er Jahren nur vereinzelte Stimmen, die sich vom weltdemokratischen Konsens nicht völlig irremachen ließen und sogar aus akademisch fachspezifischer Sicht die platten kulturalistischen Erklärungsmuster in Frage stellten, um den wirklichen sozialökonomischen Hintergrund aufzuhellen, auch wenn sie nicht auf eine kritische politisch-ökonomische Analyse der Weltmarktprozesse zurückgreifen konnten.

Der Berliner Ethnologe Georg Elwert etwa entwickelte Mitte der 90er Jahre einen historisch-empirischen Begriff der „Gewaltmärkte“, in denen er eine Wiederkehr katastrophischer Transformationsprozesse früherer Modernisierungsschübe (etwa in China, Afrika etc.) sieht: „Emotionen, Hass und Stammessolidarität seien es, die zur Gewalt führen, hören wir beständig. Selbst Wissenschaftler begeben sich auf diese Fährte der Erklärung. Strategisches Handeln und militärische Logistik setzen jedoch kühlen Kopf und langfristige Planung voraus. Daher möchte ich eine andere Deutung vorschlagen. Rational nachvollziehbares ökonomisches Handeln bestimmt die langfristig stabilen Grundmuster dieser Gewaltmärkte. Emotionen wie Hass und vor allem Angst werden in diesem Rahmen genutzt, sind aber nicht selbst strukturbildend… Es fällt uns schwer, in Handeln und Strukturen, welche uns zuwider sind, Arbeit oder Märkte zu sehen. Doch damit verraten wir nur, dass wir diese Begriffe jenseits unserer fachlichen Definition emotional positiv besetzen… Das ‚Marodieren‘, der systematische Raub durch Soldaten, ist… eine naheliegende Form der Reproduktion der Arbeitskraft. Wir finden es sogar, dass ein Markt für das Marodieren entsteht. Das heißt, man bezahlt eine Gefahr, um an organisierten Raubzügen teilnehmen zu können… In gewaltoffenen Räumen bildet sich eine völlig deregulierte Marktwirtschaft, eben eine radikalfreie Marktwirtschaft. Die kulturalistische Brille führt zum Missverstehen dieser Struktur. Nicht Ethnien und Clans, sondern wirtschaftliche Interessen (vom Profit über Sold, vom Erlös aus Raubesgut bis zur einfachen Subsistenz) stehen in diesen Bürgerkriegen gegeneinander...“ (Elwert 1996).

Elwert sieht die „Gewaltmärkte“ direkt als „eine Form von Modernisierung“ und stellt damit halbwegs diesen demokratischen Modebegriff in Frage, obwohl er selbst noch in der demokratischen Ideologie befangen ist: „Die Gewaltmärkte als Teil von Modernisierung anzusprechen, unterstreicht die Fragilität unseres eigenen Projektes von ‚Moderne‘ und erinnert daran, dass sich in Bosnien nicht die von Atavismen besessenen Relikte vergangener Zeiten schlagen, sondern Menschen aus einem bürokratischen Industriestaat, dessen führende Akteure fast durchgängig als Industriearbeiter oder Intellektuelle ins hochindustrialisierte Westeuropa migriert waren“ (Elwert 1996).

Diese Argumentation ist sachlich-empirisch zutreffend und hebt sich positiv vom ideologischen Rechtfertigungsschema der Weltdemokraten ab. Sie bleibt aber insofern inkohärent, als sie die Phänomenologie der „Gewaltmärkte“ nur vage als eine mögliche (vielleicht falsche, durch eine bessere Alternative innerhalb desselben Horizonts ersetzbare) Version der Modernisierung identifiziert, ohne sie systematisch in Beziehung zur Entwicklung und Krise des warenproduzierenden Weltsystems zu setzen. Diese Inkohärenz kann nur durch eine zureichende krisentheoretische Fundierung überwunden werden, in der die „Modernisierung“ endgültig ihren falschen Heiligenschein verliert: Aus einer solchen weiter reichenden Sicht handelt es sich bei den heutigen „Gewaltmärkten“ nicht etwa um einen bedauerlichen Nebenpfad dieser ewigen „Modernisierung“ und auch nicht um eine bloße Analogie zu ähnlichen Versionen anderswo und zu anderen Zeiten, sondern um ihre Konsequenz und ihr desaströses Ende; denn die gegenwärtige globale Plünderungsökonomie steht nicht mehr wie die frühmodernen Transformationskrisen am Anfang, sondern am Ende der Modernisierungsgeschichte. Sie bildet heute im größeren Teil der Welt das Resultat der gescheiterten „nachholenden Modernisierung“ und verweist auf die Grenzen des modernen warenproduzierenden Systems überhaupt.

Deshalb wäre es an der Zeit, die Begriffe von „Arbeit“ und „Markt“ nicht nur ihrer positiven emotionalen Besetzung verlustig gehen zu lassen und sie auch nicht mehr als neutrale, beliebig zu füllende ontologische Begriffe zu akzeptieren, sondern ihre grundsätzliche Negativität und ihren repressiven, zerstörerischen Charakter auf einer Meta-Ebene jenseits der alten staatssozialistisch-staatskapitalistischen Orientierung neu zu bestimmen.

Um den wahren Charakter der Weltkrise weiter verdrängen zu können, hat der weltdemokratische Konsens in den letzten Jahren das ethno-religiöse Erklärungsmuster mit seinen falschen Zuschreibungen gewissermaßen ökonomietheoretisch erweitert und flankiert. Zu diesem Zweck wird der postmoderne Kulturalismus mit einer bestimmten Richtung innerhalb der Volkswirtschaftslehre verbunden, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts als sogenannter „Institutionalismus“ bzw. als „Institutionenökonomie“ firmiert und lange Zeit eher ein Schattendasein geführt hatte. Ursprünglich verstand sich dieser von Thorstein Veblen begründete Ansatz als eine pragmatische Kritik am Ökonomismus der klassischen Volkswirtschaftslehre: Der Mensch sollte nicht einseitig als „homo öconomicus“ verstanden werden, sondern in einem umfassenderen Sinne als soziales Wesen; und demzufolge erschien es als notwendig, die ökonomische Theorie mit anderen Sozialwissenschaften anzureichern, um das ökonomische Handeln und seine Institutionen in der Wechselwirkung mit anderen sozialen Organisationsformen, Motiven und Handlungsmustern (Recht, Traditionen, Ideologien, Religionen, außerökonomischen Normen, Lebens- und Verhaltensweisen etc. - und eben „Kultur“ im weitesten Sinne) zu untersuchen.

So richtig diese Kritik am eindimensionalen Ökonomismus im Prinzip auch war, sie griff insofern zu kurz, als sie keinen kritischen Begriff des Gesamtsystems entwickelte, sondern die verschiedenen sozialen Handlungsformen und ihre jeweiligen Institutionen nur äußerlich nebeneinander stellte. Deshalb wurde der von Veblen kritisch gemeinte Institutionalismus auch anfällig für eine system-konformistische Instrumentalisierung.

Diese apologetische Wende besorgte die so genannte „Neue Institutionenökonomik“ nach dem Zweiten Weltkrieg, vertreten vor allem durch den Hardcore-Neoliberalen James M. Buchanan, der dafür 1986 den Nobelpreis erhielt - gerade rechtzeitig, um den umfrisierten Institutionalismus als Waffe von hohem Renommée (und im Verbund mit dem kulturalistischen Ansatz) im politökonomischen Erklärungsnotstand der 90er Jahre einsetzen zu können. Buchanan und andere Ökonomen seiner Richtung interpretierten das Problem der außerökonomischen Institutionen im Gegensatz zu Veblen ganz im Sinne des ökonomischen Totalitarismus: Rechtsformen, Traditionen, Regeln, Lebenseinstellungen und kulturelle Muster etc. werden nicht neutral in ihrem Wechselverhältnis zur kapitalistischen Ökonomie betrachtet, sondern normativ unter dem Aspekt bewertet, ob sie dem „homo öconomicus“ als dem „eigentlichen Menschen“ freie Bahn geben oder nicht.

Mit anderen Worten: Die Beachtung außerökonomischer Handlungsformen dient allein dem Zweck, optimale institutionelle Rahmenbedingungen für die Entfesselung des totalen Marktes zu bestimmen. Dazu gehören laut Buchanan vor allem verfassungsrechtliche Regeln zum Schutz der betuchten Individuen gegen den „öffentlichen Sektor“, die juristische Sicherheit kapitalistischer Transaktionen und die Garantie der privaten Eigentumsrechte (Property-Rights), also die Möglichkeit der Besitzenden, andere Personen von der Nutzung angeblich „knapper Güter“ auszuschließen.

Aus dieser Sicht des „neuen Institutionalismus“ kann es gar kein Marktversagen geben, sondern nur mangelnde juristische, kulturelle und sonstige institutionelle Rahmenbedingungen, sprich: eine mangelnde kulturelle Ausrichtung des gesamten Lebens auf den ökonomischen Totalitarismus. In Verbindung mit dem postmodernen Kulturalismus wurde nun daraus im Laufe der 90er Jahre das neue Paradigma einer größeren oder geringeren Höhe der „ökonomischen und politischen Kultur“ zusammengeschustert.

Neben dem Rückgriff auf Buchanan spielt dabei die einschlägige Theorie des Ökonomen Mancur Oison eine herausragende Rolle. Oisons spezifische Weiterentwicklung des Institutionalismus kapriziert sich auf das Modell der größeren oder geringeren Möglichkeit von kapitalistischen „Interessenkoalitionen“, Kompromiss-Strukturen und Aushandlungen etc., die vor dem Hintergrund des Marktmechanismus eine Art „zweite unsichtbare Hand“ konstituieren sollen; in diesem Sinne sei die unproduktivste Wirtschaftsform die „instabile Diktatur“, einigermaßen produktiver die „stabile Diktatur“ und am produktivsten natürlich die wunderbare Demokratie kapitalistischer Wirtschaftssubjekte, weil sie am wenigsten „marktwidriges Verhalten“ impliziere. Neben den Property-Rights und anderen institutionellen Voraussetzungen sei es also die Rahmenbedingung demokratisch verhandelbarer Interessenstrukturen, die den größeren oder geringeren Erfolg des an sich richtigen und „natürlichen“ Marktmechanismus ausmache (vgl. Olson 2000).

Im Zusammenhang mit diesen Konstrukten der institutionalistischen ökonomischen Theorie konnte das neue Paradigma kapitalistischer Rechtfertigungsideologie angesichts der weitergehenden Weltkrise entfaltet werden, ohne sich dem Versagen des globalen Marktmechanismus stellen zu müssen. Es wurde Mode, von einer betriebswirtschaftlichen „Unternehmenskultur“ oder von einer nationalen „Kultur des Unternehmerischen“ zu reden, von der „Aktienkultur“ oder der „Kultur der Rechtssicherheit“ eines Landes, von einer „Kultur des Aushandelns“ und schließlich von der „demokratischen Kultur“ schlechthin nicht nur als weltweit zu verankerndem Leitbild, sondern als institutioneller Voraussetzung ökonomischen Wachstums, ohne die der segensreiche Marktmechanismus leider nicht funktionieren könne.

Und alsbald konnte man dieses ideologische Amalgam von Institutionenökonomie und Kulturalismus mit dem neuen globalen Feindbild des Westens verbinden; Huntington lieferte mit seinem Schlagwort vom „Kampf der Kulturen“ den passenden Rahmen der Interpretation. Wie sehr Huntington sich vom postmodernen Kulturalismus nährt, zeigt seine einschlägige Definition von Gesellschaft und Geschichte, die dem Konstrukt des Feindbilds als Axiom zugrunde liegt: „Die menschliche Geschichte ist die Geschichte von Kulturen. Es ist unmöglich, die Entwicklung der Menschheit in anderen Begriffen zu denken (!)… Zu allen Zeiten waren Kulturen für die Menschen Gegenstand ihrer umfassendsten Identifikation“ (Huntington, a.a.O., 49). Der Begriff der „Kultur“ oder „Zivilisation“ wird von seinem materiellen reproduktiven Zusammenhang gelöst, um einerseits die (ursprünglich vom Westen ausgegangene) kapitalistische Reproduktionsform ahistorisch auf die Ebene von Naturprozessen und Naturgesetzlichkeiten zu bringen und andererseits die kulturellen Muster an ihrer Kompatibilität mit dieser kapitalistischen angeblichen „Naturform“ der Gesellschaft zu messen.

 

Man brauchte diesen Kontext nur auf die Frage der institutionellen und ökonomischen „Kultur“ zu erweitern, um das lästige Problem der trotz aller „marktwirtschaftlichen Reformen“ immer dichter aufeinander folgenden Krisen und Zusammenbrüche aus dem Bereich der politischen Ökonomie zu eskamotieren: Nicht die segensreiche kapitalistische Produktionsweise und die ungefilterte Öffnung zum Weltmarkt könne die Ursache sein, so der Tenor, sondern den ökonomie-kulturell ungesitteten „Barbaren“ im Osten und Süden mangle es eben noch an institutionellen Rahmenbedingungen, an marktwirtschaftlichem Bewusstsein, an demokratischem Prozedere, „Property Rights“ und überhaupt an „unternehmerischer Kultur“.

Diese jüngste westliche Rechtfertigungsideologie will sogar im krisengeschüttelten Japan und in den am Boden liegenden asiatischen Tigerländern, soeben noch als beeindruckende Leitbilder eines erfolgreichen,,asiatischen“ oder,,konfuzianischen“ Kapitalismus gefeiert, plötzlich nur noch „unmoderne“ Strukturen der Loyalität, dysfunktionalen Autoritarismus, Korruption, Kleptokratie, Clanwirtschaft und Nepotismus erkennen. Diese Mängel der institutionellen Struktur, des nationalen Bewusstseins und der „ökonomischen Kultur“ sollen es angeblich sein, die den Nährboden für „Wirren“ und Fundamentalismen, Mafia, Warlords usw. bilden, während es in Wirklichkeit der objektive und kapitalistisch-systembedingte (also durch keinerlei bloß kulturelle bzw. institutionelle Reform herbeizuholende) Mangel an Kapitalkraft ist, der in der Weltkrise der dritten industriellen Revolution die Gesellschaften reihenweise auseinanderbrechen lässt.

In der neuen Ideologie des ökonomischen Kulturalismus wird das Verhältnis von Ursache und Wirkung ebenso auf den Kopf gestellt wie schon vorher beim Verhältnis von Krise und Staatsökonomie. In Wirklichkeit bringen nicht Korruption, Mafia-Herrschaft, Terrorismus, schlechthin „marktwidriges Verhalten“ und einschlägige kulturelle Muster etc. die Krise hervor, so wenig wie die frühere ökonomische Staatsorientierung, sondern genau umgekehrt ist es die vom Scheitern des jeweiligen Landes am Weltmarkt ausgehende sozialökonomische Krise, die den institutionellen Zusammenhang bürgerlicher „Rechtssicherheit“ und „Kultur“ zerstört oder gar nicht erst entstehen lässt.

Aber weil zusammen mit dem staatskapitalistischen Paradigma der „nachholenden Modernisierung“ jedwede Ökonomiekritik gleich mit entsorgt wurde, darf der wahre Ursachenkomplex der Krise nicht mehr benannt werden. So flüchten sich nicht zuletzt die Ideologen der „Zivilgesellschaft“, die zu Stichwortgebern von Rot-Grün, New Labour etc. und der entsprechenden „links-neoliberalen“ Regierungen geworden sind, in das schwache Argument der kulturalistisch mobilisierten „Institutionenökonomie“, um den ökonomischen Kern der Krise wegzuerklären, nunmehr demokratisch-institutionelle Rahmenreformen zu beschwören und im Verein mit Huntingtons Konstrukt die Legitimation für das weltdemokratische Feindbild zu liefern.

Dieses den Sachverhalt auf den Kopf stellende Billigargument ist zum Credo sogar vieler ehemaliger Kritiker der kapitalistischen Weltmarkt-Vergesellschaftung geworden: „Ohne Rechtssicherheit ist wirtschaftliche Entwicklung nun mal nicht zu haben“ (Cremer 2001), so tönt es nun auch bei den ehemals antikapitalistischen Initiativen zur Misere der Dritten Welt.

Sowohl die „Zivilgesellschafts“-Ideologie der Realos als auch die von Konformismus getriebene „institutionalistische“ Wende großer Teile der Dritte-Welt-Solidaritätsbewegung stehen in einem Kontext, dem auch die so genannte „Regulationstheorie“ angehört; ebenfalls ein Produkt linker und ex-linker Rückzugsgefechte und Ausweichbewegungen. In diesem seit Anfang der 80er Jahre von Frankreich ausgehenden und in der BRD-Linken rezipierten Theorem werden unter „Regulation“ die institutionellen, kulturellen, politischen usw. Modi der Kapitalakkumulation verstanden.

Statt vom staatskapitalistisch verkürzten positivistischen Verständnis der politischen Ökonomie zur unausweichlich gewordenen Kritik an den Grundkategorien des modernen warenproduzierenden Systems überzugehen, also zur Kritik von „Arbeit“, Wertform, Geld, Markt, betriebswirtschaftlicher Rationalität und Staat, bleiben gerade diese Grundkategorien weitgehend außerhalb der Betrachtung, um stattdessen bloß den jeweils spezifischen Modus ihrer Gültigkeit in den Mittelpunkt zu rücken: Nicht um die Sache selber geht es, sondern gewissermaßen nur um ihre Begleitmusik. Demzufolge handelt es sich der „Regulationstheorie“ zufolge bei den globalen Verwerfungen seit Ende der 80er Jahre nicht um eine kategoriale Krise der warenproduzierenden Moderne, sondern lediglich um die Krise eines bestimmten „Akkumulations“- und damit „Regulationsmodells“ - woraus dann wiederum geschlussfolgert wird, dass es nicht um die kategoriale Kritik des Kapitalismus ginge, sondern bloß um das „kritische Mitmischen“ bei der Herausbildung des hoffnungsvollen nächsten „Regulationsmodells“ (von dem nirgends eine Spur zu sehen ist), seiner institutionellen und politischen Modi, also gewissermaßen seiner „Regulationskultur“.

Es ist leicht erkennbar, dass auch die „Regulationstheorie“ Bestandteil jener großen, weltweiten Wende in theoretischer und gesellschaftspolitischer Hinsicht ist, wie sie durch den Neoliberalismus einerseits und den postmodernen Kulturalismus andererseits gekennzeichnet wird. Im Grunde genommen handelt es sich um eine „linke“ Variante jenes „neuen Institutionalismus“ von Buchanan und Olson. Die Paradoxie eines „links-neoliberalen“ Amalgams findet sich also nicht nur bei Rotgrün und New Labour, sondern zieht sich in vielfältigen Mischformen von Kulturalismus, Institutionenökonomie und Zivilitätsduselei quer durch das Spektrum der lediglich graduell verschieden kapitulierenden Gesellschaftskritik. Kein Wunder, dass heute große Teile der vom marktwirtschaftlichen „Realismus“ durchseuchten früheren Solidaritätsbewegungen in Gestalt sogenannter Nichtregierungsorganisationen Seite an Seite mit der Weltbank an der Front lächerlich harmloser Anti-Korruptions-Kampagnen stehen.

Im Sinne institutionalistisch-kulturalistischer Scheinanalysen will die vereinigte Weltdemokratie nun allenthalben auch die ökonomische Misere Restjugoslawiens erklären und sie allein dem Milosevic-Regime in die Schuhe schieben: „Die Serben sehen sich von ihm bestohlen. 13 Jahre Lebensarbeit sind von seinem Mafiaregime verpulvert und als Devisenmillionen ins Ausland verschoben worden“ (Schmidt-Häuer 2001). Demgegenüber kann gar nicht oft genug betont werden, dass es der Weltmarkt war, der die „Lebensarbeit“ der serbischen Warensubjekte längst vorher durch den Finanzkollaps in Rauch aufgelöst hatte - und dass ein Milosevic das Produkt dieser Krise war, nicht ihr Urheber.

Wie sehr die billige Lösung Konjunktur hat, Korruption und „Mafiaregimes“ - als wären sie vom Himmel gefallen - zur Letztursache der Misere zu erklären, zeigt die Karriere der einschlägigen Anti-Korruptions-Initiative „Transparency International“ (TI): „Im Laufe der neunziger Jahre ist aus der kleinen Initiative eine mächtige Bewegung gewachsen, auf deren Veranstaltungen sich Staatspräsidenten, Minister, Banker, Industrielle und sogar der Generalsekretär von Interpol die Ehre geben. Der alljährliche Korruptionsindex von Transparency wird von Konzernchefs studiert, und manche Regierung fürchtet ihn aus gutem Grunde - er beeinflusst Investitionsströme, Kreditvergaben und Entwicklungszuschüsse. In diesem Jahr wird erstmals auch eine Weltrangliste der bestehenden Staaten veröffentlicht“ (Grill 1999). Der Kongress von TI ist zum Großereignis mit Delegierten aus 135 Ländern geworden. Es hat Züge einer Groteske, wie sich da Offizielle und Inoffizielle, Linke und Rechte zusammenfinden, um zu beschwören, dass Aids von den roten Flecken auf der Haut komme.