Blütenträume

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Die Männer gehorchten und machten dem Jungen Platz.

Nach dem Essen verstummten die Gespräche. Die ersten legten sich zum Schlafen hin. Die Zelle war überfüllt und nicht einmal notdürftig eingerichtet. Unter der Decke baumelte eine einzelne Glühbirne. Statt einer Kloschüssel stand in der Ecke ein Eimer. Aus einer trüben Tonne konnte man sich Wasser schöpfen. Urin- und säuerlicher Schweißgeruch vermischten sich in der knappen Luft und machten sie zum Schneiden dick. Die auf dem nackten Zement liegenden, verschmutzten Seegrasmatratzen reichten nicht aus. Der Junge, der sich noch nie mit so vielen Männern einen Raum teilen musste, hatte es über allem Schauen und Staunen versäumt, sich einen Schlafplatz zu organisieren. Einer der Männer winkte ihn zu sich.

»Komm her, Kleiner, hier ist noch ein bisschen Platz auf meiner Matratze.«

Arglos legte sich der Junge auf das frei gerückte Plätzchen und dachte sich nichts dabei, als der Mann, dem er den Rücken zukehrte, den Arm um ihn legte. Gerade nahm ihn ein Traum auf seinen Flügeln mit, er sah die ganze Stadt unter sich. Da lag vor ihm der Bahnhof und da winkte ihm seine Schwester mit ihrem Freund zu, beide hatten blaue FDJ Hemden an … Da schob sich eine Hand in seinen Traum, rutschte sacht in seine Hose, knöpfte sie auf und zog sie herunter bis zu seinen Knien. Ein heißes Stück Fleisch drängte sich von hinten zwischen seine Beine, ruckte auf und ab. Der Junge wachte auf, der freundliche Arm war jetzt ein Gefängnis, etwas Nasses, Glibberiges, Warmes verklebte seine Beine. In dem Jungen stieg der Ekel hoch. Er wollte losbrüllen, das Schwein bloßstellen, doch er traute sich nicht in der finsteren Zelle, die von Schnarchgeräuschen, Fürzen und hier und da einem leisen Stöhnen erfüllt war.

Offensichtlich verwechselte der Mann seine Wehrlosigkeit mit stillem Einverständnis, denn später in der Nacht, der Junge war gerade in einen unruhigen Schlaf gefallen, versuchte er es erneut, presste noch einmal seinen stinkenden Aal zwischen die Beine seines Opfers. Am Morgen, als sie einzeln zum Verhör abgeführt wurden, blinzelte er ihm verschwörerisch zu, bevor er durch die Zellentür verschwand. Als hätten sie ein schönes gemeinsames Geheimnis, dieses Dreckschwein, der seine körperliche Unterlegenheit missbraucht hatte … Der kleine Schulz schwor sich im Stillen, ein Kämpfer zu werden. Nie wieder wollte er sich so ohnmächtig wie in dieser Nacht fühlen. Wenig später wurde er wie die Erwachsenen in das Verhörzimmer gebracht.

»Was hast du in deinem Alter auf dem Platz zu suchen gehabt«, herrschte ihn ein Beamter in Zivil an. Dieter konnte nur seinen Oberkörper sehen, der Rest verbarg sich hinter einem schweren Kirschbaumschreibtisch mit Drechselarbeiten aus der Gründerzeit. Auf dem Schreibtisch stand eine gusseiserne schwarze Bürolampe, die auf ihn gerichtet war.

»Gehörst du etwa auch zu diesen Volksschädlingen, die unser schönes Land kaputt machen wollen? Die immer nur ICH, ICH, ICH sagen? Denen die Gemeinschaft einen Dreck wert ist? Kriminell bist du auch noch, was sollen wir bloß mit dir machen.« Er wedelte mit einer dünnen Akte, die auf dem Schreibtisch lag.

»Wenn du nicht so jung wärst, müssten wir dich in den Knast stecken.«

Der Junge starrte schweigend auf das rissige Holz vor seiner Nase. Gern wäre er jetzt klein wie eine Ameise gewesen, die der Holzspalt mühelos verschluckt hätte. Zweimal hatten ihn die Bullen am Bahnhof aufgegriffen. Einmal hatten sie wertvolle französische Seife konfisziert, der Verlust schmerzte ihn heute noch. Sie hatten ihn schon damals zum Verhör geschleppt, dann aber mit einer Verwarnung wieder laufen gelassen. Seiner Mutter und seiner Schwester hatte er den Vorfall natürlich verschwiegen. Und nun diese Akte da, auf der er deutlich seinen Namen SCHULZ in Druckbuchstaben entziffern konnte. Der Junge spürte, wie sich ein Gewitter über ihm zusammenbraute. Aus dieser Lage kam er nicht mehr so einfach raus.

Wenige Stunden später saß er in einer Wolga-Limousine und wurde von einer jungen Polizistin in Uniform bewacht, die die ganze Fahrt über kein Wort mit ihm wechselte. Sie starrte stur nach vorn und schwieg eisern bei seinen drängenden Fragen, wo man ihn denn jetzt hin brächte und ob man seine Mutter benachrichtigt hätte. Das Heim für schwererziehbare Kinder und Jugendliche lag in einer abgelegenen Seitenstraße. Dieter wurde zuerst in einen Duschraum geführt, wo er sich nackt ausziehen musste. Nach der Dusche – er genoss das heiße Wasser, das schwer auf ihn niederprasselte und den ganzen Dreck der letzten Tage fortspülte – erhielt er frische Kleidung und ein üppiges Abendessen im gemeinschaftlichen Essraum. Die Heimzöglinge starrten den Neuzugang neugierig an. Er bekam eine Viererstube zugewiesen, in der noch ein unteres Bett frei war. Der älteste Junge der Stube, der zwei Kopf größer war, begrüßte ihn mit Handschlag: »Damit eins gleich klar ist: Auf dieser Stube bin ich der Chef.«

»Geht schon klar, Chef, ich bin lernfähig«, gab Dieter zurück, und der ältere Junge freute sich über seine schnelle Auffassungsgabe.

Am nächsten Tag zeigte ihm ein Erzieher das ganze Haus und den Außenhof, der mit großen, alten Kastanien bestanden war. Der Erzieher folgte dem Blick des Jungen, der über den hohen Maschenzaun wanderte, der das gesamte Gelände dicht umschloss.

»Ausgang nur mit unserer Erlaubnis«, lachte er und landete einen vertraulichen Klaps auf der Schulter des Jungen.

Die nächsten beiden Wochen zogen sich zäh hin. Er durfte keinen Brief schreiben und bekam auch keine Nachricht von seiner Mutter oder Schwester. Die Erzieher zuckten nur mit den Schultern, wenn er sie darauf ansprach: »Du brauchst eine Sondergenehmigung, und die ist noch nicht erteilt.«

Er freundete sich mit den drei Jungen an, mit denen er sich die Schlafstube teilte. Dem Ältesten war inzwischen Dieters Ruf als »Held des 17. Juni« zu Ohren gekommen. Er betrachtete den Dreikäsehoch jetzt mit anderen Augen und zog ihn eines Tages ins Vertrauen: »Schon mal an Flucht gedacht?«, fragte er ihn, als sie unbeobachtet auf einer Bank im Hof saßen und mit Kieselsteinen auf die metallenen Zaunpfosten zielten, die bei jedem Treffer ein lautes PLONG von sich gaben.

»Na klar, aber wie soll das gehen, der Zaun ist viel zu hoch.«

»Es gibt einen Weg. Der ist nicht ganz ungefährlich. Aber dir traue ich das zu.« Der ältere Junge zeigte auf die breiten Arme der Kastanie, die auf der schmalsten Stelle des Hofes genau zwischen dem Haus und dem Zaun stand.

»Guck mal nach oben. Merkst du was? Da im zweiten Stock liegt unser Zimmer. Und siehst du, wie nah der eine Zweig an unser Fenster reicht?«

Dem kleinen Schulz ging ein Licht auf. Auf der anderen Seite reichte die Kastanie mit ihren oberen Ästen über den Zaun hinüber.

»Wir müssen nur vom Fenster aus auf den Ast steigen, dann …«

»Springen meinst du wohl eher«, wandte der Kleinere ein.

»Na ja, du vielleicht, ich komm’ da schon ran. Ich klettere zuerst rüber, dann helfe ich dir.«

»Und wie kommen wir auf der anderen Seite runter? Das ist zu hoch zum springen!«

»Mach’ dir darüber mal keine Sorgen. Wir verknoten unsere Bettlaken miteinander und machen uns daraus einen Strick.«

Schulzi war hellauf begeistert. Wohl oder übel mussten sie die beiden anderen Zimmergenossen in den Fluchtplan mit einweihen. Einer wollte mitmachen. Der vierte Junge traute sich nicht und hoffte zudem auf seine baldige Entlassung. Er versprach aber absolutes Stillschweigen.

Er sah ihnen ängstlich zu, als sie in der folgenden Nacht wie auf ein verabredetes Zeichen hin flink aufstanden, sich lautlos anzogen und die Bettlaken – er musste seins auch hergeben – miteinander verknüpften.

»Das ist jetzt lang genug«, flüsterte der Älteste.

»Ich steig’ als erster raus. Wenn ich auf dem Baum bin, werft ihr mir unser hübsches Seilchen zu!« Vorsichtig öffnete er das Fenster und spähte hinaus. Draußen war alles ruhig. Er hockte sich auf den äußeren Fenstersims und schwang sich von dort mühelos auf den nächsten größeren Ast der Kastanie, der weich unter ihm nachgab. Er fand schnell einen Halt und winkte den anderen, sie sollten die Bettlaken, die sie zu einem Bündel zusammengerollt hatten, zu ihm herüberwerfen. Dann glitt der andere Junge hinüber. Dieter wagte sich als letzter. Er musste springen und verließ sich dabei ganz auf den ältesten Jungen, der ihn sicher packte und in den Baum hineinzog. Die Zweige, die ihm ins Gesicht schlugen, dufteten nach Freiheit.

»Das war Nummer Eins. Jetzt kommt der krönende Abschluss«, flüsterte der Älteste.

Behände wie Katzen kletterten sie durch die Kastanie auf den größten Ast, der knapp über dem etwa vier Meter hohen Zaun weit in die Freiheit ragte. Sie befestigten ihren provisorischen Strick sicher an dem Ast und ließen sich – so schnell es ging – daran herunter. Augenblicke später hatte sie die Dunkelheit der Nacht verschluckt, zurück blieben die Bettlaken, die hinter dem Zaun schwach schimmerten. Im Morgengrauen nahm sie ein Milchwagen mit. Der Fahrer war wortkarg und kaute auf seiner erloschenen Pfeife herum, die er unablässig vom einem Mundwinkel in den anderen schob. Sie erzählten ihm, sie seien Vettern und müssten zu einem dringenden Familienbesuch in der nächsten Stadt. Glücklicherweise war es Samstag, und der Verdacht, dass sie die Schule schwänzten, konnte nicht aufkommen. Die Flucht war geglückt, aber wie ging es jetzt weiter?

Am frühen Vormittag lungerten sie mit hungrigen Mägen in der städtischen Markthalle herum, in der Hoffnung, dass eine mitleidige Händlerseele ihnen etwas zum Essen zustecken würde. Dieter wollte sich so schnell wie möglich nach Leipzig durchschlagen. Das ging am einfachsten mit der Eisenbahn, aber für die Fahrkarte brauchte er Geld. Es war Monatsanfang und die Hausfrauen drängelten sich an einem Metzgerstand, der magere Schweinelendchen – eine seltene Delikatesse – feilbot. Glatte, beringte, nackte, weiße, faltige, braune Arme streckten sich nach vorn und forderten gierig einen Anteil. Vor Schulzis Nase hing eine halb offene Einkaufstasche, aus der ein pralles Portemonnaie zum Zugreifen einlud. Der Junge sandte schnell ein Stoßgebet zum Himmel, versenkte sekundenschnell seine Hand in die verführerische Tasche, und ehe die biedere Frau irgendetwas bemerkte – sie war nur mit der Schweinelende beschäftigt – war er zwischen den anderen Ständen verschwunden. Im Portemonnaie steckten 120 Mark, das war der Viertel Monatslohn ihres Mannes. Hastig zählte er jeweils vierzig Mark für seine Fluchthelfer ab, seinen Anteil versteckte er unter dem Hemd. Am verabredeten Treffpunkt war die Freude groß und wenig später stoben die drei Jungen in unterschiedliche Richtungen davon. Doch die wiedererlangte Freiheit währte nicht lang. Die Volkspolizei stöberte ihn schon bald bei seiner Mutter auf. Vergeblich bat sie darum, ihren Sohn bei sich behalten zu dürfen. »Er ist schwer erziehbar und gehört in ein Heim!« war die Auskunft.

 

4

1953: Schwererziehbar

Ein geschlossener Kastenwagen mit Holzvergaser verfrachtete Dieter in ein Erziehungsheim mitten im Elbsandsteingebirge im Bezirk Dresden. Orientierungslos und von der Fahrt durchgerüttelt kletterte er aus dem Fahrzeug. Es war ein schöner Hochsommertag. Die Sonne blendete ihn. Er blinzelte über den weiten, ungepflasterten Platz, der in Hufeisenform von stabilen Baracken aus Holz auf Steinsockeln umbaut war. Der Platz war voller Kinder. Jungen und Mädchen zwischen neun und fünfzehn Jahren. Braun gebrannt und voller Energie. Sie unterbrachen ihr Spiel und kamen auf das Auto zu gerannt. Neugierig bauten sie sich vor Dieter auf und starrten ihn an. Aus dem Schatten einer der Baracken lösten sich zwei Männer in Freizeitkleidung und nahmen Dieter in Empfang. Sie gehörten zu dem Team von drei Männern und zwei Frauen, die hier achtundvierzig Kinder zu beaufsichtigen hatten. Es gab kein Fahrzeug, nicht einmal ein Fahrrad auf dem Gelände. Die einzige Verbindung zur Außenwelt stellte ein Lieferwagen her, der regelmäßig Lebensmittel und die nötigsten Versorgungsgegenstände brachte.

Geplant war, eine der Baracken in eine Schule umzubauen. Doch die Handwerker kamen nicht. Die Sommerferien gingen zu Ende, und von einer Schule war noch nichts zu sehen. Die Kinder blieben sich selbst überlassen. Sie strömten aus in den dichten Wald, der direkt hinter den Baracken begann. Die Stadtkinder – die sie ganz überwiegend waren – entdeckten eine neue Welt und eroberten sie Schritt für Schritt, je tiefer sie in sie eindrangen. Sie sammelten Blaubeeren, Preiselbeeren und Pilze. Aus respektvollem Abstand beobachteten sie eine Horde von Bachen, die mit ihren Frischlingen durchs Untergehölz brachen. Bald kannten sie jeden Busch, jeden Baum und jede Höhle der Umgebung. Die Erzieher wiesen sie an, Eicheln und Kastanien zu sammeln, die für den Dresdner Zoo bestimmt waren, aber nicht abgeholt wurden. In den Höhlen fanden sie verrostete Waffen aus den letzten Kriegstagen und spielten damit »Russe und feindlicher Faschist«. Bald wussten sie, was ein Hasenlager oder ein Rehgehege war. Sie konnten die Spuren eines Wildwechsels lesen und eine Ringelnatter von einer Kreuzotter unterscheiden.

Die reguläre Schulzeit hatte begonnen, und der Bau der Schule ließ weiter auf sich warten. Den Kindern wurde es langweilig. Sie hatten das ewige Herumgammeln satt und beschwerten sich bei den Erziehern. Das Leben in der Natur und ohne Bevormundung ganz der eigenen Selbstfindung überlassen hatte innerhalb weniger Wochen aus einem disparaten Haufen orientierungsloser Stadtkinder mit überwiegend dramatischen Einzelschicksalen eine selbstbewusste Kinderhorde gemacht, die ihre Rechte einforderte. Sie drohten den Erziehern, sie vom Platz zu schmeißen, wenn nicht bald der Unterricht begänne. Sie hätten ein Recht auf Ausbildung. Die Reaktion war einfältig. Es setzte Ohrfeigen und Stockhiebe. Das waren die Kinder von ihren Eltern gewohnt. Doch hier war es etwas anderes. Die Erzieher hatten in ihrer Wahrnehmung keine Autorität. Nicht einmal die elterliche. Was berechtigte sie dann, die Kinder zu verprügeln? Die Kinder zogen sich murrend zurück. Unter ihnen Dieter, der die eigene und die Ohnmacht der Kinder nicht einfach hinnehmen wollte. Etwas musste geschehen.

Er bemalte ein Bettlaken mit einem großen Hakenkreuz, wobei er sich nicht sicher war, ob er die Haken in die richtige Richtung malte. Dann befestigte er die Fahne an einer Stange, die er auf dem Dach einer Baracke am Schornstein festband. Rasch versammelten sich die Kinder am Fuß des Gebäudes. Lachend und schreiend zeigten sie abwechselnd nach oben und stießen sich an. Einer der Erzieher rannte herbei und zerrte sich im Lauf den Gürtel aus der Hose. Er fuchtelte mit der Faust drohend Richtung Dieter und schrie, er solle sofort vom Dach kommen. Dieter dachte nicht daran und schüttelte heftig den Kopf. Die Kinder quittierten es mit lautem Johlen und Händeklatschen. Der Erzieher verlor jede Kontrolle. Voller Wut schlug er blind mit dem Gürtel um sich und traf dabei ein kleines Mädchen ins Gesicht, das weinend auf die Knie fiel. Jetzt gab es kein Halten mehr. Der ganze aufgestaute Frust, der Zorn auf die Erzieher und die Perspektivlosigkeit der Kinder entlud sich in einem Sturm. Die ältesten und beherztesten Jungen nahmen sich den Erzieher vor und entrissen ihm den Gürtel. Unter ihren Schlägen ging er zu Boden und versuchte den Kopf mit den Armen zu schützen. Seine Schreie riefen die restlichen Erzieher auf den Plan. Vergeblich versuchten sie, ihrem Kollegen zu Hilfe zu kommen.

Dieter beobachtete vom Dach aus, wie die Kinder einen Kreis um die Erzieher schlossen. Sie hatten sich mit Knüppeln und Latten bewaffnet. Der Kreis war jetzt dicht wie eine Mauer. Atemlose Stille herrschte über dem Platz. Der am Boden liegende Mann hatte aufgehört zu wimmern. Plötzlich brach ein ungeheurer Tumult los. Brüllend stürzten sich die Kinder auf die verhassten Erzieher, die sich erfolglos zu wehren versuchten. Dieter sah, wie sie unter den Hieben zusammenbrachen. Die Kinder droschen immer noch verbissen auf sie ein, als jegliche Gegenwehr längst erloschen war. Nach und nach ließen sie ihre Knüppel fallen. Das Knäuel aus Kinderleibern und den bewusstlos am Boden liegenden Erwachsenen lichtete sich. Dieter hörte ein Motorengeräusch. Ausgerechnet heute kam der Lieferant mit seinem knatternden Opel Blitz. Die in verschiedene Richtungen wegtrottenden Kinder blieben stehen und schauten sich um. Der Lieferant, der aus seinem Vorkriegsmodell geklettert war und ein Paar Schritte auf sie zu lief, erfasste die Situation, als er das Blut sah. Schneller, als man seinem fetten Körper zutraute, rannte er zu seinem Laster zurück. Mit aufheulendem Motor verließ er das Heimgelände. Achtundvierzig Kinderköpfe hatten den gleichen Gedanken: Sich unsichtbar machen, bevor die geballte Staatsmacht eintraf. Sie liefen in den Wald. Da kannten sie sich am besten aus.

Eine Hundertschaft Volkspolizei rückte an. Über Lautsprecher wurden die Kinder aufgefordert, den Wald zu verlassen. Umsonst. Die Polizisten durchkämmten den Wald. Vergeblich. Die Kinder hatten sich zu gut versteckt. Der Wald war ihr Wald geworden. Der Septembertag ging zur Neige, und die Vopos leuchteten mit Scheinwerfern den Wald ab. Einigen Kindern begann der Magen zu knurren. Eine neue Stimme am Lautsprecher wechselte den Ton. Besänftigend sprach sie auf die Kinder ein und versprach, dass sie keine Strafe zu erwarten hätten. Ihre Forderungen wären berechtigt, und der Bau der Schule würde sofort in Angriff genommen. Die Septembernacht war bereits kühl. Die freundliche Lautsprecherstimme versprach ein gutes Essen und ein warmes Bett für alle. Der Widerstand begann zu bröckeln. Die ersten Kinder kamen aus dem Wald heraus. Die Polizisten empfingen sie freundlich. Von den Erziehern fehlte jede Spur. Man hatte sie ins nächste Krankenhaus transportiert. Als schließlich auch das kämpferischste Mädchen mit einem bedauernden Blick auf ihn aus dem Höhlenversteck hervor kroch, da wusste Dieter: Die Revolte war beendet. Er folgte ihr kurze Zeit später. In der Küchenbaracke war die Stimmung gelöst. Auf den langen groben Holztischen standen dampfende Terrinen mit Gulasch-Suppe. Brauseflaschen und dick mit Wurst belegte Stullen wurden herumgereicht. Die Kinder unterhielten sich angeregt mit den Vopos, die das Koppel gelöst und die Uniformjacken aufgeknöpft hatten. Einige Kinder hatten sich sogar ihre Uniformmützen aufgesetzt. Erschöpft schlüpften sie um Mitternacht in ihre Betten.

Am nächsten Morgen tauchten Zivilisten auf, und über die Hälfte der Hundertschaft rückte ab. Dieter wurde ins Verhör genommen. Er habe den Aufstand angezettelt und sei sich nicht zu schade gewesen, die Kinder mit faschistischen Insignien aufzustacheln. Und überhaupt: Sein bisheriger Lebenslauf spräche ja Bände. Er werde sofort weggebracht und dürfe gerade noch seine Siebensachen zusammenpacken. Dieter nutzte die Gelegenheit, ein paar Kinder zu treffen, denen er am meisten vertraute. Ihnen würde schon etwas einfallen. Als zwei Zivilpolizisten Dieter in ihren Wagen setzten und losfuhren, Ziel wie immer unbekannt, kamen sie nicht weit: Die Ausfahrt des Heimgeländes war gespickt mit alten Nägeln und spitzen Gegenständen. Seine Freunde hatten ganze Arbeit geleistet. Sämtliche vier Reifen gingen platt. Da half das eine Reserverad nicht weiter. Die Polizisten tobten. Dieter wusste: Wenn man selbst einen Fahrradschlauch nur gegen Bezugsschein erhielt und die Dringlichkeit nachgewiesen werden musste, dann dürfte es selbst Polizisten schwerfallen, aus dem Stand vier neue Autoradschläuche zu besorgen. Dieter kam erst einmal wieder in seiner Baracke unter.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich unter den Heimzöglingen die Nachricht, dass er weggebracht und vermutlich bestraft werden sollte. Der Stich einer Hornisse hatte einen Jungen böse zugerichtet. Die Polizisten erklärten, das würde schon von selbst abschwellen, für so eine Lappalie seien sie nicht zuständig. Es wehte wieder der alte Wind. Die neuen »Erzieher« dachten sich eine Beschäftigungsmaßnahme aus. Alle Jungen und Mädchen wurden auf den Platz beordert und erhielten kiloschwere Dosen mit Schuhcreme, die wahrscheinlich noch aus der Zeit stammten, als die Baracken ein BDM-Heim waren.

»Sämtliche Schuhe müssen geputzt werden, und auch die Stege und Absätze nicht vergessen. Das Wasser ist der größte Feind des Leders!«, lautete der Tagesbefehl.

Murrend machten sich die Kinder an die Arbeit. Dieter nahm einen Lappen und tränkte ihn mit dem schleimigen Tran aus der Büchse. Er wickelte ihn um einen Stock und band ihn mit Draht fest. Die um ihn herum sitzenden Kinder unterbrachen ihre Arbeit und schauten zu. Dieter nahm eine Schuhwichsdose und schmierte den Inhalt mit der Schuhbürste auf die am nächsten gelegene Barackenwand. Die Kinder beobachteten verständnislos sein Tun. Dieter hielt nun den Stock mit dem Lappen an die eingeschmierten Bretter.

»Stellt Euch vor, das ist eine Fackel. Wenn ich sie anzünden würde, was würde dann wohl passieren?«

Auf den Gesichtern der Mädchen und Jungen konnte er ablesen, wie ihnen förmlich ein Licht aufging. Mit Feuereifer machten sie sich ans Werk. Der Junge mit dem Hornissenstich tat sich besonders hervor. Alle rauften sich um die Büchsen und freien Flächen auf den Holzwänden. Dieter ging ins Büro und fragte demütig, wann er denn abgeholt würde.

»Halte Dich bereit!«, war die mürrische Antwort. Einer der Vopos erstarrte, als er aus dem Fenster sah. Eine Baracke brannte bereits lichterloh. Dieter fühlte sich am Kragen gepackt und wurde hinaus geschleift.

»Schulz!«, brüllte der Mann. »Was ist das wieder für eine Sauerei?«

In einer der Baracken lagerten zentnerweise die von den Kindern gesammelten Kastanien und Eicheln. Das Feuer ließ die Waldfrüchte platzen. Das klang, als ob sich in dem Gebäude eine Bande Bewaffneter verschanzt hätte und aus vollen Rohren schoss. Die Vopos warfen sich erst einmal mit gezogenen Waffen in Deckung, bevor sie die Lage checkten. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Feuerwehr eintraf. Indessen waren die Gebäude bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Der Bau der neuen Schule hatte sich von selbst erledigt.

Im nächsten Erziehungsheim hielt es Schulzi auch nicht lange aus. Das Grundstück wurde zur Vorderseite von einer hohen Mauer und zur Rückseite von der Pleiße begrenzt, einer stinkenden, mit halbmeterhohem weißen Schaum bedeckte Kloake, deren träges Wasser die Abfälle der chemischen Industrie davonschwemmte. Keiner würde diese Drecksbrühe durchschwimmen wollen, da war sich die Heimleitung sicher und hatte entsprechend auf einen Zaun verzichtet. In regelmäßigen Abständen rieb sie den Heimkindern unter die Nase, wie gefährlich dieser Fluss sei. Schulzi hatte irgendwo gelesen, dass eine Gefahr, die man kennt, keine Gefahr mehr sei. Der Drang zur Freiheit, die Sehnsucht, mal wieder in den Armen seiner Mutter zu kuscheln, spornte seine Fantasie an. Ein Film über die Spartakiade, in der der sportliche Ruhm der DDR-Hochsprung-Rekordmeisterschaft gefeiert wurde, brachte die zündende Idee. Mit einer Bohnenstange müsste es zu schaffen sein. In unbeobachteten Augenblicken stocherte er mit einer Stange in der Schlammschicht der Pleiße herum, um einen festen und nicht allzu tiefen Untergrund zu ertasten. Er wusste, das er nur einen Versuch hatte, um so präziser musste er zu Werke gehen. Seinen Anlauf beschleunigend hatte er nur einen Gedanken: Nur ja nicht die richtige Stelle verfehlen, wo der Stab ins Wasser getaucht werden musste. Er hatte Glück und traf den ausgesuchten Punkt. Festgeklammert am Stab, wie von einem Aufwind gezogen, fühlte er sich in die Höhe getragen, für Sekunden beschwingt und losgelöst von der Erde, innerlich jauchzend vor Freude. Verschwommen vernahm er das Gejohle seiner Leidensgenossen, die sein Tun beobachtet hatten, als er etwas unsanft am Rand des anderen Ufers landete, rasch aus dem Wasser hinaus die Böschung erklomm und sich Richtung Leipziger Innenstadt davon machte.

 

Zu seiner Mutter in die Lilien-Straße konnte er nicht zurück, denn er war sicher, dass ihn dort die Bullen bereits erwarten würden, aber er kannte sich in Leipzigs Laubenpieperkolonien bestens aus und besonders in der, die an die Lilien-Straße grenzte. Als die Vopos unverrichteter Dinge bei seiner Mutter abfuhren, saß er sicher auf einem Laubendach und beobachtete ihre Aktivitäten. Er quartierte seinen Freund Tim bei sich ein, der ein Treber-Leben in Leipzig führte und sich in den Ruinen der Stadt vor den Behörden versteckte. Im Sommer besuchten die Laubenpieper sehr häufig ihre Schrebergärten, und die Jungen waren gezwungen, fast jeden Abend einen neuen Übernachtungsplatz zu suchen. Einige Schrebergärtner hatten ihre Hütten mit Vorhängeschlössern gesichert, doch die Riegel ließen sich mit einem Stück Eisen leicht aus dem weichen Holz lösen. Tagsüber trieb sich Schulzi wieder zwischen dem Hauptbahnhof und dem russischen Kaufhaus Uniwermag herum und verkaufte den russischen Offizieren die ersehnte Westware, während sein Kumpel Schmiere stand. Doch die Polizeikontrollen waren schärfer geworden und der Boden unter ihren Füßen wurde immer heißer. Der Schaden und die Unordnung, die sie in den Lauben anrichteten, blieben nicht unbemerkt, und sie konnten mithören, wie sich wütende Laubenpieper darauf verständigten, künftig auch nachts Kontrollgänge zu machen und eine eigene Wache aufzustellen. Die Jungs verstanden, hier konnten sie nicht länger bleiben.

Tims irrer Plan, sich ein wenig Berliner Luft um die Nase wehen zu lassen, fiel bei Schulzi auf fruchtbaren Boden und begann Wurzeln zu schlagen. Erdkundeunterricht hatte ihn immer am meisten interessiert, und die auf der Schulatlaskarte eingezeichnete Autobahn, die schon zu Zeiten des dritten Reichs von Leipzig über Dessau nach Berlin führte, war ihm präsent geblieben. Das war der kürzeste Weg, und zudem war man sicher vor der Polizei, die die in Richtung Berlin fahrenden Züge nach Passagieren durchkämmte, die nicht im Besitz eines Passierscheins nach Berlin waren. 1953 konnte von einem regulären Verkehr auf der Autobahn noch keine Rede sein, und die zwei Jungen fielen zwischen den Pferdefuhrwerken der Bauern nicht auf. Ab und zu ließ sie ein Landarbeiter auf seinem Trecker aufsitzen, aber den größten Teil des Weges legten sie am ersten Tag zu Fuß zurück. Unbekümmert sprangen sie zwischen dem Rand und dem Mittelstreifen hin und her, auf der Suche nach Käsekraut, das dort reichlich wuchs und dessen essbare Blüten ihren ärgsten Hunger stillten. Selten rauschte ein schickes Auto mit westdeutschen Kennzeichen vorüber, dem sie als Vorboten der Freiheit, die sie in Aussicht zu haben glaubten, bewundernd hinterher schrien und winkten, in der leisen Hoffnung, vielleicht mitgenommen zu werden. Die mittägliche Sonne stand trotz der vorangeschrittenen Jahreszeit hoch am strahlend blauen Himmel und ließ die Luft flirren. Die Beine wurden ihnen schwer, aber unverdrossen marschierten Tim und Dieter weiter und jubelten bei jedem Schild, das wieder ein paar weniger Kilometer nach Berlin anzeigte. Plötzlich verlangsamte ein VW-Käfer, und die Frau auf dem Beifahrer-Sitz warf ihnen eine Papiertüte zu. Die Jungen rannten los und verspeisten wenig später vergnügt am Straßenrand sitzend die saftigen Blutorangen, die ihnen die unbekannte Spenderin zugedacht hatte.

Als es zu dämmern begann, verließen sie die Autobahn und näherten sich einem unweit liegenden Bauernhof. Der Bäuerin, bei der sie sich als Geschwister ausgaben, erzählten sie eine rührselige Geschichte von einem verpassten Transport nach Dessau zu ihrer Tante, die dort lebe und sie zu Besuch eingeladen habe. Obwohl keine Ferienzeit war, erschienen sie der mitleidigen Frau glaubwürdig und sie bereitete ihnen ein prächtiges Abendessen mit dick belegten Wurstbroten und frischer Milch zu. Der Bauer erlaubte ihnen, im Heuschober zu schlafen, nachdem er sie streng ermahnt hatte, nicht zu rauchen, und ihre Hosentaschen nach Streichhölzern durchsucht hatte. Er gab ihnen zwei Pferdedecken mit.

Am nächsten Morgen waren sie erneut zu Fuß auf der Autobahn unterwegs. Ein langer Konvoi mit Lastwagen, auf denen russische Soldaten saßen, überholte sie. Sie riefen, so laut sie konnten, und die Soldaten winkten fröhlich zurück, ohne indessen Anstalten zu machen, sie mitzunehmen. Am Schluss der Militärkolonne fuhr ein offener Jeep. Dieter brüllte auf Russisch: »Geht zum Teufel!«

Jäh stoppte der Jeep in einer Staubwolke und setzte zurück, bis er vor ihren Füßen stand. Dieter und sein Gefährte erschraken zutiefst und wollten gerade die Beine unter die Hand nehmen, als ihnen der Offizier, der auf dem Beifahrersitz saß, lachend zurief: »Wer von euch kann so gut russisch?«

»Ich«, meldete sich Dieter verschüchtert.

»Und wo wollt ihr hin?

Am Ton des Mannes erkannte Dieter, dass er ihnen nicht böse war.

»Nach Berlin.«

»Na, dann steigt mal bei mir ein.« Der Major machte eine einladende Handbewegung.

Erleichtert schubste Dieter den noch zögernden Gefährten in den Jeep, der schnell Fahrt aufnahm und den Lastwagenkonvoi einholte.

»Ich fahre nicht nach Berlin rein, aber bis in die Außenbezirke kann ich euch mitnehmen.«

Der Major bot ihnen dampfend heißen Tee aus einer Thermoskanne an.

»Wo hast du denn so gut meine Sprache gelernt?«, fragte er und stieß Dieter aufmunternd in die Rippen. Dieter hatte Vertrauen zu dem Mann gefasst und erzählte ihm ausführlich von Königsberg und seiner Freundschaft mit den Kosaken, während Tim vergnügt die Sonnenblumenkerne knackte, die ihm der Adjutant des Majors zusteckte.

»Du erinnerst mich sehr an meinen Sohn«, lachte der Major »es ist schön, mal wieder russische Laute aus dem Mund eines Jungen zu hören!«

Dieter fühlte sich in vertraute alte Zeiten zurückversetzt und offenbarte dem Mann, dass er aus einem Heim geflüchtet war und sich nichts sehnlichster wünschte, als wieder unbehelligt bei seiner Familie leben zu dürfen. Gerührt legte der Russe seinen Arm um Dieters Schultern.

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