Medizingeschichte

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2.4 Oral History

Unter „Oral History“ versteht man eine Methode, die geschichtliche Vergangenheit mittels mündlicher Überlieferung zu rekonstruieren versucht. Im Deutschen wird gelegentlich auch der Begriff ,Mündliche Geschichte‘ gebraucht, der eine weitergefasste Bedeutung hat. Man begreift darunter zunächst die sogenannte ‚oral tradition‘ (Erzählungen, Sagen, Märchen, Mythen), für die sich insbesondere Volkskundler und Ethnologen interessieren. Darüber hinaus versteht man unter ‚oral history‘ Zeitzeugenberichte und Lebensgeschichten, die durch retrospektive Befragungen erhoben wurden. Schließlich sind hier noch sogenannte ‚Ablaufdokumentationen‘ (Mitschnitte von Reden, Diskussionsrunden, Interviews) zu nennen, die nicht durch gezielte Befragungen entstanden sind, gleichwohl aber geeignet sind, die herkömmlichen schriftlichen Quellen zu ergänzen.

2.4.1 Die Anfänge der Oral History-Bewegung

Historiker haben immer schon die mündliche Geschichte als Quelle herangezogen, doch galt ihr Hauptaugenmerk der schriftlichen Überlieferung, für die man im 19. Jahrhundert quellenkritische Methoden entwickelte. Die Oral History-Bewegung ist dagegen jüngeren Datums. Sie hat ihre Ursprünge in den Vereinigten Staaten. Dort baute der Journalist und Historiker Allan Nevins nach dem Zweiten Weltkrieg das erste Oral History-Archiv auf. Auf ihn geht zudem die Bezeichnung für die neue Methode zurück, die sich spezieller Befragungs- und Interviewtechniken bediente. Diese wurden zwar schon im 19. Jahrhundert gelegentlich von Historikern benutzt, erlebten aber durch die neuen Medien (vor allem das Tonband) nach 1945 einen ungeahnten Aufschwung. 1966 wurde in den USA die erste Oral History-Society der Welt gegründet. 1973 folgte England, wo Paul Thompson den entscheidenden Anstoß gab. Im selben Jahr erschien in den USA die erste Fachzeitschrift (Oral History Review). Auch in Skandinavien fand die Oral History-Bewegung schon früh Anhänger. Das Buch des schwedischen Journalisten Sven Lindquist mit dem programmatischen Titel Grabe wo du stehst (1978) wurde zur Bibel der sogenannten „Barfuß-Historiker“, die außerhalb des Elfenbeinturms der professionellen Geschichtswissenschaft nach neuen Quellen für die Alltagsgeschichte Ausschau hielten. Gegen Ende der 1970er Jahre fasste die Oral History schließlich in Deutschland Fuß. 1979 veröffentlichte Lutz Niethammer die erste Übersicht zu laufenden Projekten, die mit der neuen Methode arbeiteten. 1985 folgte vom selben Herausgeber ein Sammelband mit Aufsätzen zur Praxis der Oral History, der auch heute noch lesenswert ist (Niethammer, 1985) [<<74]

Bis heute wird immer wieder darüber diskutiert, ob der Informationswert der mündlichen Überlieferung den hohen Aufwand (Generierung, Sicherung, Erschließung, Nutzbarmachung) rechtfertigt. Das menschliche Gedächtnis ist nicht nur lückenhaft, sondern auch störanfällig, wie neurobiologische Forschungen und psychologische Studien gezeigt haben. Diese wissenschaftlichen Befunde werden inzwischen von der Geschichtswissenschaft sehr ernst genommen, und zwar nicht nur in Hinblick auf die zeitgeschichtliche Forschung (Fried, 2004). Durch Oral History erfährt man also nicht unbedingt etwas, was nicht in den Akten steht. Die Zeitzeugenbefragung dient eher dazu, Deutungsmuster und Handlungsmöglichkeiten von Akteuren zu erfassen. Auch können Interviews Hinweise auf eine andere Lesart der schriftlichen Quellen oder auf bisher unbekannte Überlieferungen geben. Zudem eignet sich diese Methode für historiographische, didaktische und mediale Zwecke, und zwar nicht nur auf der Ebene der Lokalgeschichte.

2.4.2 Arbeitstechniken

Die technische Ausrüstung ist inzwischen kein Problem mehr. Gute Aufnahmegeräte sind heute billig in der Anschaffung und auch so handlich, dass sie überall mit hingenommen werden können. Gleich geblieben ist jedoch der nicht zu unterschätzende Zeitaufwand, der für die Planung, Durchführung und Erschließung von Zeitzeugenbefragungen erforderlich ist. Erfahrungswerte zeigen, dass für eine Interview-Stunde für Vor- und Nachbereitung einschließlich Transkription und Auswertung 40 Stunden zu veranschlagen sind. Vor allem gilt es zu beachten: keine Oral History-Projekte ohne genaue Kenntnis der schriftlichen Überlieferung. Das heißt, man muss sich vorab um einen Überblick über die gedruckte Literatur und die vorhandenen einschlägigen Archivalien bemühen, um vorhandene Überlieferungslücken zu erkennen und gezielt andere Quellen zu ergänzen, zu korrigieren und neue Fragestellungen herauszuarbeiten. Vor einer Befragung sind also folgende Schritte zu beachten:

1) Erstellung einer Liste von Zeitzeugen, die zu dem betreffenden Sachverhalt befragt werden sollen, sowie die Erstellung einer Reihenfolge, in der die Interviews durchgeführt werden sollen; dazu gehört auch eine erste Kontaktaufnahme mit möglichen Interviewpartnern.

2) Lektüre von Akten, Zeitungen, Zeitschriften und anderen Quellen zur Erstellung von Arbeitshypothesen und zur Vorbereitung eines allgemeinen Fragenkataloges sowie zur Gedächtnisstütze bei der Befragung.

3) Zusammenstellung und Ausarbeitung „offener“ und „geschlossener“ Fragen (letztere müssen lediglich mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden), aber auch von [<<75] Testfragen, die bei der Zeitzeugenbefragung gestellt werden sollen. Dabei ist vor allem darauf zu achten, dass die Befragten auch weiter ausholen können, ohne dabei in Weitschweifigkeit zu verfallen. Das alles setzt eine Gesprächsatmosphäre voraus, die von einem persönlichen Vertrauensverhältnis geprägt ist. Das gilt sowohl für das standardisierte Leitfaden-Interview als auch insbesondere für das narrative Interview, in dem der Befragte frei und in eigener Gewichtung Auskunft gibt und nicht von Nachfragen unterbrochen wird. Erst in einer zweiten Phase – zeitlich getrennt – wird nachgefragt oder um Ergänzungen und Präzisierungen gebeten. Beide Interviewarten haben sich in der Praxis bewährt, wobei in dem einen Fall auf die Intersubjektivität, in dem anderen auf die subjektive Wertung abgezielt wird.

4) Durchführung der Interviews, wobei man nicht mehr auf das Stenogramm zurückgreifen muss, sondern sich modernster Aufnahmetechniken bedienen kann.

5) Meist unterschätzt wird der zeitliche Aufwand, der für die Transkription der Zeitzeugenbefragung erforderlich ist. Man rechnet je nach Schwierigkeit des Textes oder Rede- und Schreibtempo zwischen fünf und zwölf Stunden Transkriptionszeit pro Interviewstunde. Das ergibt zwischen 15 und 30 Normseiten pro Interviewstunde. Es entstehen also erhebliche Textmengen. Doch gilt ein weiterer Grundsatz: keine Oral History ohne anschließende Verschriftlichung und Verschlagwortung. Insbesondere bei umfangreichen Projekten entsteht ansonsten eine Materialsammlung, die nur noch mühsam ausgewertet werden kann. Wichtig ist, dass der Informationsverlust bei der Verschriftlichung so gering wie möglich gehalten wird, doch müssen parasprachliche Äußerungen (Gestik, Mimik, Stimmlage) nicht immer detailliert erfasst werden, es sei denn, diese Informationen sind für das betreffende Projekt von Gewicht. Meist genügt allerdings eine quasi-literarische Transkription. Manchmal reicht auch eine ausführliche Zusammenfassung aus, sofern die Originaltonbänder leicht zugänglich sind.

Inzwischen sind viele dieser Materialien zur mündlichen Geschichte in öffentlich zugänglichen Archiven vorhanden und teilweise auch erschlossen. Eine recht gute, wenngleich nicht mehr ganz aktuelle Übersicht über die vorhandenen Bestände für eine deutsche Region (das Rheinland) bietet die Zusammenstellung von Dieter Kastner aus dem Jahre 1991. Darunter sind die Befragungen von Patienten psychiatrischer Kliniken aus den Jahren 1983 bis 1985, die sich heute im Archiv des Landschaftsverbandes Rheinland in der Abtei Brauweiler befinden. Transkribierte Zeitzeugenbefragungen existieren mittlerweile auch in medizinhistorischen Instituten und Bibliotheken (McKenzie/Pifalo, 1998). Das einzige größere Oral History-Projekt in der Medizingeschichte, das als vollständige Transkription im Druck vorliegt, ist die Witness-Seminar-Serie des [<<76] Wellcome Centre for the History of Medicine in London (http://www.history.qmul.ac.uk/research/modbiomed/wellcome_witnesses/index.html), die bislang über 20 Bände zu unterschiedlichen Themenfeldern der Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts umfaßt und von Daphne Christie, Lois Reynolds und E. M. Tansey herausgegeben wird. Außerdem verfügt die Wellcome Library über eine umfangreiche Film- und Videosammlung, die auch für Oral history-Projekte geeignet ist (Clark, 1992). Unter den über 17.000 Oral History-Quellen in einer amerikanischen Datenbank zu englischsprachigen Ego-Dokumenten lassen sich per Suchbefehl leicht medizinhistorisch ergiebige Belege finden (http://www.inthefirstperson.com/firp/index.shtml).

Ablaufschema für ein Oral History-Interview

[<<77]

2.4.3 Forschungsfelder

Die Oral History wurde in der Bundesrepublik in der Geschichtswissenschaft zunächst eingesetzt, um lebensgeschichtliche Zeugnisse von Gruppen zu sammeln, die nicht häufig aktenkundig geworden sind oder ein ganz „normales“ Leben geführt haben. So richtete sich der Fokus beispielsweise auf die Erforschung des Alltags im Nationalsozialismus und auf die Geschichte des Arbeitermilieus. Später profitierte auch die Jugend-, Minderheiten- und Frauenforschung von der neuen Methode zur Erschließung mündlicher Überlieferung.

 

In die Medizingeschichte hielt Oral History erst relativ spät Einzug, zumindest in Deutschland, wenngleich gelegentlich Zeitzeugenbefragungen in medizinhistorischen Studien, insbesondere zur Geschichte der Medizin im Dritten Reich, schon zu einem recht frühen Zeitpunkt durchgeführt wurden (Feld, 2005). Bereits in den 1980er Jahren entdeckten dagegen anglo-amerikanische Medizinhistoriker die mündliche Geschichte. Am Anfang standen Interviews mit einflussreichen Ärzten. Es folgten Studien zu einzelnen Krankheitsbildern (AIDS, Polio, Typhus, Taubstummheit), bei denen Patienten und behandelnde Ärzte befragt wurden. Vor allem die Pflegegeschichte (S. 324), die auf nicht sehr umfangreiche schriftliche Überlieferung zugreifen kann, machte sich die Erschließung neuer Quellen zur Aufgabe. Ohne die mündliche Überlieferung hätte man wohl kaum eine Geschichte der noch jungen Hospizbewegung in England schreiben können (Clark, 2005). Auch die Patientengeschichte erfährt durch solche subjektiven Erlebnisberichte aus jüngster Zeit eine erhebliche Bereicherung, wenngleich einschlägige Studien bislang Mangelware sind und diese sich meist auf einzelne Patienten und deren Krankheitserfahrung konzentrieren (Adams, 1995; Wiebel-Fanderl, 2003).

Kollektivbiographische Studien, die mit Befragungen größerer Patientenkollektive arbeiten, sind eher die Ausnahme. Ein frühes Beispiel aus dem deutschen Sprachraum ist die Untersuchung über den Umgang mit Krebs im ländlichen Raum (Dornheim, 1983).

In der Bundesrepublik haben bislang nur wenige Forscher und medizinhistorische Institute Erfahrungen mit dem systematischen Einsatz der neuen Methode gesammelt, sieht man von Einzelprojekten (meist Dissertationen) einmal ab. Zur jüngsten Geschichte der Charité in Berlin liegen mehrere Befragungen von Zeitzeugen vor (Atzl/Hess/Schnalke, 2005; Herrn/Hottenrott, 2010). Ein umfangreiches Oral History-Projekt zur Geschichte der Pflege in Deutschland ist z. B. am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung durchgeführt worden (Kreutzer, 2007). Die transkribierten Interviews sind dort archiviert und stehen für eine weitere Auswertung zur Verfügung. [<<78]

Ein wichtiges Projekt an der Schnittstelle von Oral History und filmischer Dokumentation verfolgt die durch den amerikanischen Regisseur Steven Spielberg (* 1946) ins Leben gerufene Survivors of the Shoah Visual History Foundation (inzwischen: Shoah Foundation Institute for Visual History and Education) (University of Southern California) (http://www.usc.edu/schools/college/vhi/). Das Ziel der Shoah Foundation ist es, Interviews (und Erinnerungsberichte) von Überlebenden des Holocaust als Video aufzuzeichnen. Zu den Zeitzeugen, die unter anderem über medizinische Experimente in Konzentrationslagern und ihre Opfer berichten, gehören Juden, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Roma, Sinti und Jenische sowie politische Gefangene des NS-Regimes. Es werden auch Interviews mit Soldaten aufgezeichnet, die an der Befreiung von Konzentrationslagern teilgenommen haben.

2.4.4 Bibliographie

Adams, John: ‘I am still here’. A life with encephalitis lethargica. In: Oral History 23 (1995), S. 78–81.

Arden, G. Christen: The oral history interview: a treasurehouse for present and future dental historiographers. In: Bulletin of the history of dentistry 29 (1981), S. 8–14.

Atherton, Martin: Looking to the past: the role of oral history research in recording the visual history of Britain’s deaf community. In: Oral History 29 (2001), S. 35–47.

Atkins, Tom: A personal experience of polio, interviewed by Rob Wilkinson. In: Oral History 23 (1995), S. 82–84.

Atzl, Isabel/Hess, Volker/Schnalke, Thomas (Hg.): Zeitzeugen Charité. Arbeitswelten der Psychiatrischen und Nervenklinik 1940–1999. Münster 2005.

Bornat, Joanna/Perks, Robert/Walmsley, Jan (Hg.): Oral History, Health and Welfare. London 1999.

Clark, David: A Bit of Heaven for the Few. An oral history of the modern hospice movement in the United Kingdom. Lancaster 2005.

Clark, Michael J. (comp.): Moving images of medical science and history: a catalogue of film and video titles held by the Wellcome Trust and the Wellcome Institute for the History of Medicine. London 1992.

Diack, Lesley: Myths of a beleaguered city: Aberdeen and the typhoid outbreak of 1964 explored through oral history. In: Oral History 29 (2001), S. 62–72.

Dornheim, Jutta: Kranksein im dörflichen Alltag: soziokulturelle Aspekte des Umgangs mit Krebs. Tübingen 1983.

Feld, Michael: Medizingeschichte: Paracelsus ist tot. In: Deutsches Ärzteblatt 102 (2005), S. A-2696.

Fido, Rebecca: „It’s not true what was written down!“: experiences of life in a mental handicap institution. In: Oral History 17 (1989), S. 31–34.

Fried, Johannes: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004.

Gittins, D.: Married Life and Birth Control Between the Wars. In: Oral History 3 (1975), S. 53–64. [<<79]

Hendricks, Rickey Lynn: Oral history as social history. In: Bulletin of the History of Medicine 65 (1991), S. 575–580.

Herrn, Rainer/Hottenrott, Laura (Hg.): Die Charité zwischen Ost und West: Zeitzeugen erinnern sich. Berlin 2010.

Kastner, Dieter (Hg.): Mündliche Geschichte im Rheinland. Bonn 1991.

Kreutzer, Susanne: Aus der Praxis lernen? Umbruch in den pflegerischen Ausbildungskonzepten nach 1945. In: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 25 (2007), S. 155–180.

Maggs, C. J.: Oral history and nursing history. In: Nursing times 79 (1983), Nr. 42, S. 55–57.

McKenzie, Diane/Pifalo, Victoria: The Oral History Program. Personal views of health sciences librarianship and the Medical Library Association. In: Bulletin of the Medical Library Association 86 (1998), Nr. 2, S. 166–182.

Niethammer, Lutz: Ergebnis über Bestände und laufende Projekte zur Oral History in der BRD. Essen 1979.

Niethammer, Lutz (Hg.): Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“. Frankfurt am Main 1985.

Oppenheimer, Gerald M.: Shattered dreams?: an oral history of the South African AIDS epidemic. New York 2007.

Oral history abstract catalog: interviews, 1969–1978. Washington University School of Medicine Library Archives. St. Louis/MO 1979.

Wiebel-Fanderl, Oliva: Herztransplantation als erzählte Erfahrung. Münster 2003.

2.5 Medizinhistorische Gesamtdarstellungen

Der Schweizer Pharmazie- und Medizinhistoriker Marcel H. Bickel hat festgestellt, dass zwischen 1696 und 2000 über 287 Lehrbücher zur Geschichte der Medizin verfasst wurden (Bickel, 2007). Die meisten dieser Werke haben deutsche Autoren, es folgen auf Rang zwei und drei amerikanische und französische Gesamtdarstellungen der Medizingeschichte. Der in diesem Textcorpus am meisten zitierte Autor gilt zugleich als der erste Medizinhistoriker im modernen Sinne: der Franzose Daniel Le Clerc (1652–1728).

Angesichts der großen Zahl von Lehrbüchern zur Medizingeschichte kann also der folgende Überblick aus pragmatischen Gründen nur eine Auswahl bieten. Dabei wird nach formalen Kriterien (Umfang, Abbildungen), aber auch inhaltlichen Akzentuierungen (chronologische versus problemorientierte Darstellung) unterschieden. Ein besonderes Augenmerk richtet sich auf Lehrbücher, die auch heute noch wichtige Übersichtswerke darstellen, wenngleich die Mehrzahl die Entwicklung der modernen Medizin aufgrund ihres Erscheinungsjahres gar nicht oder nur teilweise miteinbezieht. [<<80]

2.5.1 Einbändige Werke

Am Anfang der modernen Medizingeschichtsschreibung steht, wie bereits angedeutet, Daniel Le Clercs Histoire de la Médecine (1696). Der Autor wurde durch die zeitgenössische französische Historiographie (u. a. Jean Mabillon, 1632–1707) beeinflusst. Nicht mehr die antiquarische Forschung stand im Vordergrund, sondern eine kritische Sichtung der Quellen, die auch ein Studium der griechischen Originaltexte anstelle lateinischer Übersetzungen mit einschloss. Der allgemeine Titel des Werkes täuscht allerdings. Le Clerc kommt in seiner Darstellung über die Antike nicht hinaus. Der dritte Teil endet mit Galen und seinen Zeitgenossen. Immerhin war geplant, die Darstellung bis ins 17. Jahrhundert fortzusetzen, wie man einem gedruckten Entwurf entnehmen kann. Darin erkennt man auch, dass Le Clerc sich um eine möglichst vorurteilslose Sichtweise bemühte, wie beispielsweise seine kurzen Ausführungen zu Paracelsus zeigen.

Le Clercs Art der gelehrten Geschichtsschreibung fand im 18. und 19. Jahrhundert zahlreiche Nachahmer, deren Werke heute allerdings nur historiographisch von Interesse sind (Grmek, 1995). Zu den einbändigen Darstellungen aus der Zeit des 19. Jahrhunderts, bei denen es sich lohnt, sie selbst heute noch gelegentlich in die Hand zu nehmen, zählt das Compendium der Geschichte der Medicin von Bernhard Hirschel (1815–1874), einem praktischen Arzt, der auch ein bedeutender Homöopath war. Mehr als die Hälfte seines Werkes ist der Neuzeit gewidmet. Dabei scheut er nicht davor zurück, rezente Entwicklungen zu beschreiben. Seine detaillierten Ausführungen über den Brownianismus sowie über die Homöopathie sind frei von jeder Polemik, was man von vergleichbaren Werken seiner Zeitgenossen (z. B. Carl August Wunderlich, 1815–1877) nicht behaupten kann. Zeittypische Vorurteile finden sich dagegen in sehr viel stärkerem Maße im Grundriss der Geschichte der Medicin und des heilendes Standes (1876) von Johann Hermann Baas (1838–1909). Doch nicht dieses Werk, das vom Kulturkampf geprägt ist, nimmt man heute noch in die Hand, sondern seine Geschichtliche Entwicklung des ärztlichen Standes und der medicinischen Wissenschaften (1896). Es ist die erste ärztliche Standesgeschichte, die Aspekte wie Ausbildung, Honorierung und Praxisverhältnisse vor dem Hintergrund einer Ideengeschichte der Medizin stärker als vergleichbare medizinhistorische Gesamtdarstellungen jener Zeit berücksichtigt.

Dem damals vorherrschenden Denkmuster einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin ist gleichfalls die Geschichte der medizinischen Wissenschaft in Deutschland (1893) von August Hirsch (1817–1894) verhaftet. Der Autor hatte sich zuvor vor allem als Verfasser einer Geschichte der Augenheilkunde (1877) und eines mehrbändigen Handbuchs der historisch-geographischen Pathographie (1859–1864) sowie als Herausgeber des [<<81] Biographischen Lexikons hervorragender Aerzte aller Zeiten und Völker (6 Bde., 1884–1888) einen Namen in der Medizingeschichte gemacht. Sein einbändiger Abriss der Medizingeschichte ist insofern auch heute noch lesenswert, als darin versucht wird, diejenigen Leistungen in der Medizin hervorzuheben, „welche von der deutschen Gelehrtenwelt ausgegangen sind“ (S. VI). Hirsch zeigt sich hier als Anhänger einer deutsch-nationalen Geschichtsschreibung, die in der allgemeinen Geschichtsschreibung (z. B. Sybel, Treitschke) ihre Parallelen hat. Allerdings weist sein Werk insbesondere in Hinblick auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts Lücken auf. So wird beispielsweise Ignaz Semmelweis (1818–1865) von Hirsch, der selbst einer der führenden deutschen Hygieniker seiner Zeit war, mit keinem Wort erwähnt.

Diese und andere Lücken zu schließen, war der Zweck der Einführung in die Geschichte der Medicin (1898) von Julius Pagel (1851–1912). Der Autor wollte mit seinem aus einer Vorlesungsreihe hervorgegangenen Lehrbuch sowohl „zur Verbreitung von Kenntnissen […] als auch zur Förderung von Quellenstudien auf dem Gebiet der medicinischen Geschichte“ (Pagel, 1898, S. IX) beitragen. Was diese Überblicksdarstellung trotz der zeittypischen Werturteile (so z. B. über den Arzt Franz Anton Mesmer (1734–1815) und dessen Anhänger) auch heute noch wertvoll macht, ist der bibliographische Teil in Form einer kommentierten Bücherkunde im Anschluss an jedes der abgehandelten Themen. Die grundlegende Überarbeitung dieses Lehrbuchs war das Werk des Leipziger Medizinhistorikers Karl Sudhoff (1853–1938), von dem die dritte und vierte Auflage (1922) stammt.

Um einen kurzen und gut lesbaren Abriss der Medizingeschichte handelt es sich auch im Falle eines Werkes, das zwei professionelle Medizinhistoriker als Autoren hat: Geschichte der Medizin im Überblick mit Abbildungen (1920) von Theodor Meyer-Steineg (1873–1936), außerordentlicher Professor für Medizingeschichte in Jena, und Karl Sudhoff, dem Begründer des weltweit ersten medizinhistorischen Instituts an der Universität Leipzig (Fachbibliotheken und Medizinhistorische Institute, S. 116). Es verzichtet vollständig auf Literaturangaben, ist dafür aber die erste Gesamtdarstellung, die durchgehend Illustrationen (allesamt Schwarzweiß-Abbildungen) enthält.

 

Von den kurzen Überblicksdarstellungen in deutscher Sprache, die in den letzten 50 Jahren erschienen sind, sollen hier nur diejenigen erwähnt werden, die auch heute noch mit Gewinn in der Lehre verwendet werden.

1975 erschien die erste Auflage der Geschichte der Medizin der Schweizer Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger. Dargestellt wird nicht nur die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, sondern auch die Geschichte einzelner Fächer (Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe, Hygiene und Psychiatrie). Das Übersichtswerk kommt ohne Tabellen [<<82] und Graphiken aus, wird aber durch 56 Abbildungen aufgelockert. Eine nach Bibliographien, Nachschlagewerken, Primär- und Sekundärliteratur geordnete Auswahlbibliographie regt zum vertieften Studium an.

Noch kurz vor der deutschen Wiedervereinigung im Jahre 1990 erschien, in der Nachfolge des von Alexander Mette (1897–1985) und Irena Winter (* 1923) 1968 herausgegebenen Handbuchs Geschichte der Medizin (der ersten Darstellung in der DDR) und besonders der schmaleren, von Dietrich Tutzke (1920–1999) edierten Geschichte der Medizin (1980), das einbändige Unterrichtswerk Geschichte der Medizin von Georg Harig (1935–1989) und Peter Schneck (* 1936), zweier ostdeutscher Medizinhistoriker. Insbesondere das Kapitel über die Medizin der Antike, das von einem ausgewiesenen Fachmann (Georg Harig) stammt, ist immer noch empfehlenswert. Auch die Einbeziehung „soziale[r] und gesundheitspolitische[r] Aspekte“ (S. 9) macht dieses Werk, das auf Anmerkungen verzichtet, aber eine gute Auswahlbibliographie aufweist, weiterhin lesenswert. Allerdings kommt das Vorwort – zeitbedingt – nicht ohne das damals in der DDR übliche Lippenbekenntnis zur marxistischen Weltanschauung aus.

Didaktisch und in der Aufmachung an den heutigen modernen medizinischen Lehrbüchern orientiert ist die Überblicksdarstellung von Wolfgang U. Eckart, die mittlerweile in einer siebten, aktualisierten Auflage im Taschenbuchformat (unter dem neuen Titel Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin) vorliegt und damit das inzwischen gängigste Kompendium zur Medizingeschichte sein dürfte. Es bietet einen Abriss der großen Entwicklungslinien, von der Medizin der Steinzeit bis zu den neuesten diagnostischen und therapeutischen Verfahren der heutigen Biomedizin. Farblich abgesetzte, stichwortartige Übersichten am Ende eines jeden Kapitels erleichtern den schnellen Zugriff auf ein Thema. Das Taschenbuch bietet nicht nur Faktenwissen, sondern liefert auch brauchbare Definitionen medizinhistorischer Termini (z. B. Sozialdarwinismus) und eine zusammenfassende Darstellung der Medizin im Nationalsozialismus, der ersten in einem westdeutschen Lehrbuch der Medizingeschichte nach 1945. Ein abschließendes Kapitel über internationale Gesundheits- und Hilfsorganisationen rundet die Überblicksdarstellung ab.

Einen ähnlichen Weg schlägt das Lehrbuch des früheren Kölner Medizinhistorikers Dieter Jetter aus dem Jahre 1992 ein, von dem bislang allerdings nur eine Auflage erschienen ist. Es beginnt ebenfalls mit der Paläomedizin und schlägt dann den Bogen von der Heilkunde der Antike bis zur Medizin im 20. Jahrhundert. Im Unterschied zum Lehrbuch von Eckart ist diese Einführung textlastiger, das heißt, es wird mehr Stoff vermittelt. Das muss nicht unbedingt ein Manko sein, zumal zahlreiche graphische Darstellungen, Abbildungen, Landkarten und Tabellen zur Veranschaulichung dienen. [<<83]

2008 hat der Erlanger Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven einen kompakten Überblick über die Geschichte der Medizin von der Antike bis zur Gegenwart für die C. H. Beck-Reihe „Wissen“ verfasst, die sowohl chronologisch als auch thematisch gegliedert ist und die Geschichte der Alternativen mit einschließt (Leven, 2008).

Zu den älteren Kurzdarstellungen der Medizingeschichte in englischer Sprache, die heute noch gelegentlich zitiert werden, gehört das Standardwerk von Fielding H. Garrison (1870–1935), einem bedeutenden amerikanischen Bibliographen, das zuerst 1913 erschien und 1929 bereits in vierter Auflage vorlag. Berühmt wurde es vor allem wegen seiner detaillierten Bibliographie, aber auch wegen seiner tabellenförmigen chronologischen Auflistung der wichtigsten Daten der Medizingeschichte. Es enthält zudem einen Fragenkatalog, der sich wohltuend vom heutigen Gegenstandskatalog des schriftlichen Teils der ärztlichen Prüfung unterscheidet.

Stärker wissenschaftsgeschichtlich orientiert ist die Darstellung, die Charles Singer (1876–1960), einer der bedeutendsten Wissenschaftshistoriker des 20. Jahrhunderts, zusammen mit Edgar Ashworth Underwood (1899–1980) verfasst hat. Eine Besonderheit ist neben einem Kapitel über die Geschichte der Krankenpflege der Anhang. Dieser umfasst neben einer Liste der Medizinnobelpreisträger auch Exkurse zur medizinischen Statistik auf dem Gebiet der Demographie, der Biometrie und der Epidemiologie.

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs erschien in London das einbändige Werk des schottischen Pädiaters und Medizinhistorikers Douglas Guthrie (1885–1975). Im Unterschied zu anderen Kurzdarstellungen findet man darin durchaus Fußnoten, wenngleich in begrenzter Zahl. Neben einer Auswahlbibliographie am Ende hat jedes Kapitel weiterführende Literaturhinweise. Zu den Besonderheiten zählt ein Exkurs über die Entstehung der medizinischen Fachzeitschriften und des Medizinjournalismus, den man ansonsten in vergleichbaren Darstellungen vergeblich sucht.

Recht konventionell ist die (ebenfalls ins Deutsche übersetzte) (Kurze) Geschichte der Medizin von Erwin Ackerknecht (1906–1988), der man kaum anmerkt, dass der Autor neben Henry E. Sigerist (1891–1957) Wegbereiter einer Sozialgeschichte der Medizin gewesen ist. Immerhin werden in diesem Lehrbuch die „Schattenseiten der Medizin“, wie sie Ackerknecht nennt, nicht ausgespart. Auch findet sich in den jüngeren Auflagen ein Index der Antworten zum Gegenstandskatalog der schriftlichen Prüfung für Mediziner. Ackerknechts Lehrbuch wird seit der 7. Auflage von dem ehemaligen Aachener Medizinhistoriker Axel Hinrich Murken (* 1937) in erweiterter Fassung herausgegeben.

Während sowohl Guthrie als auch Ackerknecht in ihren einbändigen Gesamtdarstellungen noch weitgehend der traditionellen Geschichtsschreibung verbunden bleiben, setzt ein medizinhistorisches Kompendium (The Western Medical Tradition, 800 BC to [<<84] AD 1800), das 1995 erschien und von führenden englischen Sozialhistorikern (Lawrence I. Conrad, Michael Neve, Vivian Nutton, Roy Porter, Andrew Wear) verfasst wurde, neue Akzente. Man findet dort kurze Kapitel über die Verbreitung medizinischen Wissens, die Professionalisierung der Ärzteschaft und nicht zuletzt über Veränderungen in der Arzt-Patient-Beziehung im Laufe der Jahrhunderte. Seit 2006 liegt zu diesem Werk auch ein Fortsetzungsband vor, der den Zeitraum 1800 bis 2000 umfasst und an dem ebenfalls Mitarbeiter/innen des früheren Wellcome Trust Centre for the History of Medicine als Autoren beteiligt waren (Bynum et al., 2006).

Aus einer Hand ist dagegen der Abriss der Medizingeschichte, der zwar auf den ersten Blick konventionell anmutet, aber dessen eindeutig sozialgeschichtlicher Fokus nicht zu verkennen ist. Verfasser ist kein Geringerer als der früh verstorbene englische Sozial- und Medizinhistoriker Roy Porter (1946–2002). Sein Blick richtet sich nicht nur auf Europa, sondern bezieht auch die indische oder chinesische Medizin mit ein. Es ist das Verdienst Porters, dass er zwar auf Pionierleistungen von Ärzten in der gebotenen Kürze eingeht, darüber hinaus aber den Kontext, in dem sich diese Erfindungen oder Entdeckungen abgespielt haben, deutlich werden lässt. Und Roy Porter wäre nicht Roy Porter, wenn sich nicht gegen Ende seiner gut strukturierten, gekonnt erzählten und flüssig ins Deutsche übersetzten Kunst des Heilens (gleichsam als Antidot gegen einen allzu naiven Fortschrittsglauben) die Sozialgeschichte der Medizin durch die Hintertüre einschleichen würde. Außer dem programmatischen Kapitel „Medizin, Staat und Gesellschaft“ verdient vor allem seine nüchterne Bilanz einer über 4000 Jahre umfassenden Medizingeschichte Beachtung.