Medizingeschichte

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1.2 Exkurs: Geschichte der Medizingeschichtsschreibung

Die Medizingeschichtsschreibung hat lange am Fortschrittsbegriff festgehalten (Button, 1988). Im Einzelnen sind drei Strömungen oder Richtungen zu unterscheiden: Am Anfang steht die konkrete und nachhaltige Erfahrung der Fortschritte, die in der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzielt wurden. Die Wahrnehmung dieser Errungenschaft führte dazu, dass die Medizingeschichtsschreibung sich lange Zeit auf der „Siegerstraße“ bewegte und die Geschichte der Medizin als einen langen Weg aus dem Dunkeln des Nicht-Wissens in das helle Licht wissenschaftlicher Erkenntnis beschrieb. Diese Richtung hat immer noch Anhänger, wie ein Blick in ein auch heute noch gerne benutztes Lehrbuch zeigt (Ackerknecht, 1989, S. VII). Erst die „Professionalisierung“ der Medizingeschichte (Burnham, 1998) und das stetig wachsende Interesse von Medizinsoziologen und Sozialhistorikern an Krankheit und Gesundheit in der Geschichte (Sozialgeschichte, S. 173) seit den 1960er Jahren leiteten eine zweite Phase ein. Fortan wurde der Fortschritt zu einem theoretischen Konzept und damit zu einem medizinhistorischen Perspektivbegriff. Die Kritik an der Apparatemedizin und an den Strukturen des modernen Gesundheitssystems in den 1970er Jahren fand ihren Widerhall nicht zuletzt in der Medizingeschichtsschreibung. Das bis dahin vorherrschende, wenn auch theoretisch unterschiedlich fundierte Fortschrittsparadigma wurde in dieser dritten und bis heute andauernden Phase mehr und mehr in Frage gestellt. Das Augenmerk galt nicht mehr so sehr dem Fortschritt, sondern seinen Folgen und Bedingungen (Mayr, 1990). [<<24]

1.2.1 Medizingeschichte im Banne des Fortschritts

Die Anfänge der Medizingeschichtsschreibung reichen bis in die Antike zurück (Heischkel, 1938; Edelstein, 1967). Allerdings fragten die meisten dieser Autoren nicht explizit nach der „Geschichte“. Es ging also nicht um Geschichtsschreibung im eigentlichen Sinne, sondern eher darum, den Nachweis zu führen, wer diese oder jene Anschauung in der Medizin vertreten oder erfunden hat. Charakteristisch für diese Herangehensweise ist, dass das Moment der zeitlichen Abfolge oder die Einordnung in den chronologischen Zusammenhang zurücktritt und die in der älteren medizinischen Literatur vertretenen Ansichten als durchaus aktuell und relevant angesehen werden. Das erinnert an den Ratschlag, der sich in der Schrift Von der alten Medizin im Corpus Hippocraticum findet, dass nämlich ein Arzt wissen müsse, was andere vor ihm gefunden haben, damit er davon ausgehen könne (Hippokrates, 1895, I, S. 19). An dieser Einstellung und Betrachtungsweise ändert sich bis weit in die Frühe Neuzeit hinein kaum etwas. Meist sind es Einleitungen zu medizinischen Werken, in denen zwar nicht die für die Idee des Fortschritts entscheidende Frage nach der Entwicklung der Medizin bis zur jeweiligen Gegenwart gestellt wird, dafür aber von den Anfängen der Medizin und den ersten Ärzten die Rede ist (Diepgen, 1924). Der Rückblick auf die Vergangenheit der Heilkunde blieb somit meist diffus. Gleichwohl findet man in dieser frühen Zeit schon gelegentlich Werke, in denen die Errungenschaften der Vergangenheit mit dem zeitgenössischen Wissens- und Erkenntnisstand durchaus kritisch verglichen werden (Heischkel-Artelt, 1949).

Auch die eigentliche Medizingeschichtsschreibung, die im 17. und 18. Jahrhundert mit Namen wie Daniel Le Clerc (1652–1728), John Freind (1675–1728) und Johann Heinrich Schulze (1687–1744) verbunden ist (Bickel, 2007; Rüttgen/Metzger, 2009), beschreibt noch nicht die Entwicklung der medizinischen Theorie, sondern zeichnet sich eher durch sorgfältige Quellenforschung und bio- und bibliographische Angaben in streng chronologischer Reihenfolge aus. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts spürt man, dass geistige Strömungen dieser Zeit (Stichwort ‚Aufklärung‘) und politische Ereignisse von großer Tragweite (Stichwort ‚Französische Revolution‘) ihre Spuren auch im historischen Bewusstsein von Verfassern medizinhistorischer Medizinhistorische Gesamtdarstellungen (S. 85) hinterlassen haben (Lammel, 2005). Damals tauchte erstmals der Begriff „Fortschritt“ auf, und zwar zu genau derselben Zeit, als ‚Fortschritt‘ als spezifisch geschichtlicher Begriff, nicht zuletzt unter dem Einfluss Kants, Eingang in die politisch-soziale Sprache des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts fand. So heißt es beispielsweise in einer sich als „pragmatisch“ verstehenden Literaturgeschichte der Medizin jener Zeit: „[…] die Geschichte ihrer Entstehung, Bildung, Fortschritte [<<25] und allmähliger Vervollkommnung zeigt unwidersprechlich, dass die Arzneywissenschaft, mehr als irgendeine der menschlichen Wissenschaften auf den Bedürfnissen des Menschengeschlechts gegründet, nebst der Philosophie den ersten Rang unter den Wissenschaften behauptet“ (Metzger, 1792, S. 1). Bezeichnenderweise wird hier der Begriff ‚Fortschritt‘ noch im Plural verwendet. Erst im beginnenden 19. Jahrhundert wird aus der historiographischen Darstellung einzelner Fortschritte auf dem Gebiet der Heilkunde und der medizinischen Wissenschaft der ‚Fortschritt‘ schlechthin in der Medizingeschichte.

Mit dem Gebrauch dieses Kollektivsingulars hat sich ein historisches Bewusstsein durchgesetzt, dass die Geschichte sich nicht mehr wiederhole, dass die Gegenwart der Vergangenheit überlegen sei und dass die kommende Geschichte anders, und zwar besser, sein werde. Dieser Wandel manifestiert sich sowohl in den maßgeblichen medizinhistorischen Gesamtdarstellungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Sprengel, 1792–1803) als auch in den Untersuchungen zur Geschichte einzelner medizinischer Disziplinen, die im Zeitalter der romantischen Medizin verfasst worden sind (Engelhardt, 1979, 1984). Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Richtung ist Heinrich Damerow, der von 1798 bis 1866 lebte (Risse, 1969). In seinem bekannten Werk Die Elemente der nächsten Zukunft der Medicin, entwickelt aus der Vergangenheit und Gegenwart (Berlin 1829) beschreibt er die Geschichte der Medizin als einen mehr oder weniger geradlinig verlaufenden Entwicklungsprozess in Analogie zur Stufenlehre, wie man sie beispielsweise in der damaligen Embryologie antrifft. Auch bei seinem Zeitgenossen Ernst Anton Quitzmann (1809–1879) ist die Geschichte der Heilkunde gleichbedeutend mit dem „Weg zur Wahrheit der Heilkunde“ (Quitzmann, 1843, S. 4). Anknüpfend an Damerow findet sich bei ihm ein Entwicklungsschema der Medizingeschichte, das vom Keim über die Gestaltwerdung und Blüte bis zur Reife reicht (Quitzmann, 1837). Die Funktion des Fortschrittsbegriffs ist hier ganz offenkundig. Quitzmann ging es darum, mit seiner philosophisch an Hegel und Schelling orientierten medizinhistorischen Überblicksdarstellung „einen festen, vollkommen durchsichtigen Anhaltspunkt für die Bestrebungen des Fortschrittes dar[zu]bieten“ und auf diese Weise „die chaotische Masse nach ihren beseelenden Grundideen zu konzentrieren“ (Quitzmann, 1843, S. XII). Im Gegensatz zu reinen Bewegungsausdrücken wie ‚Fortgang‘, ‚Entfaltung‘ oder ‚Entwicklung‘ manifestiert sich hier in der Verwendung des Begriffs ‚Fortschritt‘ eindeutig eine für die Zukunft offengehaltene Möglichkeit der Steigerung und Verbesserung.

Das neue und geschärfte historische Bewusstsein zeigt sich aber nicht nur in der Medizingeschichtsschreibung jener Zeit, sondern auch in den programmatischen Äußerungen von Ärzten und Naturforschern, die sich als Motoren oder zumindest als [<<26] Mentoren des Fortschritts verstanden. Eine sehr ergiebige Quelle sind die Eröffnungsreden zu den Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auf der Heidelberger Versammlung des Jahres 1829 erklärte der Physiologe Friedrich Tiedemann (1781–1861) im vollen Brustton der Überzeugung: „Die Natur-Wissenschaften und die Heilkunde, deren glänzende Fortschritte ich in der Kürze anzudeuten gewagt habe, liefern den Beweis, wie ihn keine andere Wissenschaft zu geben imstande ist, dass der menschliche Forschungs-Geist in einem unaufhaltsamen Weiterschreiten begriffen ist, keine hemmenden Schranken seiner Wirksamkeit kennend“ (zitiert nach Schipperges, 1976, S. 15). Auf der Versammlung, die 1854 in Göttingen stattfand, hielt der Chirurg Wilhelm Baum (1799–1883) die Eröffnungsansprache und verstieg sich dabei zu der kategorischen Behauptung: „Der Fortschritt ist so schlagend wie beruhigend für den Blick in die Zukunft“ (zitiert nach Schipperges, 1976, S. 29). Seinen Optimismus bezog Baum aus dem gewaltigen Umbruch, der sich zu jener Zeit in der Medizin vollzog und dessen Augenzeuge er geworden war. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die naturwissenschaftliche Medizin, wie sie von Rudolf Virchow (1821–1902), Johannes Müller (1801–1858), Hermann von Helmholtz (1821–1894) und anderen praktiziert und propagiert wurde, auf dem besten Wege, der bislang in Deutschland vorherrschenden naturphilosophischen Schule den Rang abzulaufen. Auf der 35. Versammlung in Königsberg (1860) ergriff Virchow, der Begründer der Zellularpathologie, erstmals das Wort und sprach als selbstbewusster, in die Zukunft blickender Arzt und Naturforscher über ein Thema, das so ganz nach seinem Geschmack war, nämlich „über den Fortschritt in der Entwicklung der Humanitätsanstalten“ (Schipperges, 1968, S. 50). Der Fortschrittskult, dem auf den Versammlungen dieser illustren wissenschaftlichen Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten ausgiebig gehuldigt wurde, erreichte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt.

Wie sehr die Medizingeschichte und die naturwissenschaftliche Medizin damals weltanschaulich konform gingen, zeigt sich beispielsweise in der medizinhistorischen Vorlesung, die Carl August Wunderlich (1815–1877) in Leipzig hielt und die 1859 im Druck erschien. Darin klingt bereits an, was wir auch bei den medizinischen Koryphäen dieser Zeit, wie z. B. bei dem bereits erwähnten Rudolf Virchow, zur gleichen Zeit oder wenig später ähnlich formuliert finden. Nach Wunderlich ist die „Geschichte der medicinischen Wissenschaft“ nicht mehr, aber auch nicht weniger als „die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes, dessen eingeborener Trieb nach Wahrheit sich nach allen Richtungen geltend macht […]“ (Wunderlich, 1859, S. 2). Etwas vorsichtiger drückt sich der Medizinhistoriker Johann Hermann Baas (1838–1909) in seinem Leitfaden der Geschichte der Medicin (Stuttgart 1880) aus. Dort heißt es in der Einleitung: „Beobachten wir nun die geistige Entwicklung der Menschheit unter [<<27] Führung der Culturgeschichte, so liefert sie den erhebenden Erfahrungsbeweis, dass jene, wenn auch nur zum ganz allmähligen Fortschreiten, wobei langer Stillstand und zeitweiliger Rückgang stets als die für künftige neue Fruchtbildung nöthigen Ausruhezeiten des vorhandenen oder zur Vorbereitung eines neuen Culturbodens erscheinen, zum Wachstum an Wissenschaft, Können und Erkenntnis berufen ist“ (Baas, 1880, S. 2). Baas ist zudem der erste Medizinhistoriker im eigentlichen Sinne, der die neuesten Errungenschaften der modernen, naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin gelegentlich durchaus skeptisch betrachtete, wie ein Beispiel aus seinem 1876 erschienenen medizinhistorischen Überblickswerk zu zeigen vermag. Im Abschnitt über die Erfindung und den Einsatz des Mikroskops in der Medizin wird die ältere medizinhistorische Arbeit von Metzger aus dem Jahre 1792 zustimmend zitiert, in der von dem „zweideutig[en] Nutzen“ in Bezug auf die „grossen Hülfsmittel der Fortschritte in der Anatomie“ (Baas, 1876, S. 383) die Rede ist.

 

Die großen medizinhistorischen Standardwerke des frühen 20. Jahrhunderts sehen in der Medizingeschichte ähnlich wie in der Kulturgeschichte „ein Hinauswachsen über die tierische Organisation durch Steigerung oder Entlastung ihrer Leistungen“ (Neuburger, 1906, I, S. 1) und verwenden damit ebenfalls implizit den Fortschrittsbegriff. Julius Pagel (1851–1912), neben Max Neuburger (1868–1955) einer der Väter der modernen Medizingeschichtsschreibung, bezeichnete die Medizin seiner Zeit als „Ergebnis einer, nicht zu hoch gegriffen, mehrtausendjährigen Geistesthätigkeit, das Resultat einer in unaufhaltsamer Entwickelung fortschreitenden geistigen Arbeit“ (Pagel, 1898, S. 1). Auch die beiden Medizinhistoriker Theodor Meyer-Steineg (1873–1936) und Karl Sudhoff (1853–1938), die zusammen eine medizinhistorische Überblicksdarstellung verfassten, bezweckten damit, einen „zuverlässigen Einblick in die fortschreitende Entwicklung ihrer Wissenschaft und deren praktischer Betätigung“ (Meyer-Steineg/Sudhoff, 1922, S. III) zu geben.

Die genannten Autoren stehen also ausnahmslos in der Tradition der fortschrittsgläubigen Medizingeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, obgleich sie den Begriff ‚Fortschritt‘ häufig nur im Plural verwenden und auf explizite geschichtsphilosophische Bekenntnisse jedweder Art verzichten. Denn bis weit in die 1920er Jahre, als Wissenschaft und Technik sich weiter ungestüm entfalteten, war auch für die wenigen Medizinhistoriker, die es damals an deutschen Universitäten gab, der medizinische Fortschritt als stetige Aufwärtsentwicklung eine erwiesene und unangefochtene Tatsache. Diesem Umstand trug man selbstverständlich in den Überblicksdarstellungen zur Geschichte der eigenen Disziplin Rechnung, und er bedurfte nicht vieler erklärender Worte.

Erste größere Risse erhielt dieses Weltbild in der Diskussion um die sogenannte „Krise in der Medizin“ (Klasen, 1984), die gegen Ende der Weimarer Republik einsetzte [<<28] und das Vertrauen vieler Mediziner in die naturwissenschaftliche Medizin und ihre stetigen Fortschritte nachhaltig erschütterte. Im Mittelpunkt der in zahlreichen Fachpublikationen ausgetragenen Debatte um Krisenerscheinungen in der zeitgenössischen Medizin stand zweifellos das naturwissenschaftliche Paradigma der sogenannten „Schulmedizin“ und damit auch der diesem immanente Fortschrittsglaube. Es ist bezeichnend, dass sich unter den Ärzten, die damals als Wortführer in der Diskussion um die „Krise der Medizin“ in Erscheinung traten, ebenfalls ein Vertreter des Faches „Medizingeschichte“ befand, nämlich der Internist und spätere Lehrstuhlinhaber für Geschichte der Medizin an der Universität Gießen Georg Honigmann (1863–1930). Er veröffentlichte 1925 in der Münchner Medizinischen Wochenschrift eine Artikelserie über die „Hauptperioden der geschichtlichen Entwicklung“, die im gleichen Jahr noch in Buchform erschien. Dort heißt in dem Kapitel, das sich mit den Errungenschaften der modernen Medizin (Bakteriologie, Chemotherapie, Chirurgie) befasst: „Blicken wir noch einmal angesichts dieser nur die wichtigsten Entwicklungszeichen skizzierenden Darstellung auf das Gesamtbild der Epoche zurück, auf der sich nun die Heilkunde unserer Tage aufbaut. Wir sehen unter dem Hochdruck materialistischer und mechanistischer Weltanschauung und Methodik eine Fülle tatsächlicher Befunde angehäuft, die die Leistungsfähigkeit dieser Denk- und Arbeitseinstellung glänzend dartun, auf der anderen Seite aber auch gewisse Zeichen ihrer Dämmerung, des beginnenden Verfalls ihrer Herrschaft“ (Honigmann, 1925, S. 108). Hier deutet sich bereits ein Meinungswandel an, und zwar insofern, als in der Geschichte der Medizin nicht mehr unbedingt eine geradlinige Entwicklung vom Primitiven zum Höherstehenden gesehen wird. Im Gegenteil: Der zeitgenössischen, einseitig naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin wird von Honigmann und anderen der historische Spiegel vorgehalten.

Der entscheidende epistemologische Bruch in der Medizingeschichtsschreibung trat aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein, als der Nürnberger Ärzteprozess den bis dahin noch vorherrschenden Fortschrittsglauben stark erschütterte und vielen Ärzten und Medizinhistorikern klarmachte, dass das frühere Idealbild von einem unaufhörlichen, wissenschaftlichen, sozialen und ethischen Fortschritt sich nicht hat verwirklichen lassen und wohl immer ein Wunschtraum bleiben würde. Von dieser Einsicht ist allerdings in den beiden ersten medizinhistorischen Überblicksdarstellungen, die nach 1945 in Deutschland erschienen, noch nichts zu spüren. Paul Diepgen (1878–1966) konstatiert in seinem medizinhistorischen Standardwerk in den verschiedensten Epochen (z. B. Barock) durchaus „Fortschritte der praktischen Medizin“ und spricht sogar in Hinblick auf sein eigenes Metier von „große[n] Fortschritte[n]“ (Diepgen, 1949, I, S. 9), die durch die Erschließung neuer Quellen und durch zahlreiche [<<29] Einzelstudien erzielt worden seien. In der ein Jahr zuvor erschienenen Einführung in die Geschichte der Medizin in Einzeldarstellungen von Rudolf Creutz (1866–1949) und Johannes Steudel (1901–1973) wird die Geschichte der Medizin ebenfalls noch als „von Jahrhundert zu Jahrhundert fortschreitend“ (Creutz/Steudel, 1948, S. 7) mit knappen Strichen skizziert.

Ein ähnliches Bild bietet die angloamerikanische Medizingeschichtsschreibung in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Noch in der zweiten Auflage des Standardwerks von Charles Singer (1876–1960) und Edgar Ashworth Underwood (1899–1980) betonen die Autoren, dass es ihnen im Wesentlichen darum gehe, die Fortschritte der Medizin durch die Jahrhunderte hindurch zu verfolgen (Singer/Underwood, 1962, S. 742). Auch die einflussreiche Darstellung von Richard Shryock (1893–1972) (The development of modern medicine: an interpretation of the social and scientific factors involved, 1936), die 1940 und in 2. Auflage wieder 1947 sogar in deutscher Übersetzung erscheinen konnte 1980 noch einmal in Amerika nachgedruckt wurde, kommt zu dem Schluss, dass der „Fortschritt der Wissenschaft durch die zunehmende Verwendung von Messungen und anderen quantitativen Methoden gefördert wurde“ (Shryock, 1940, S. VII). Die deutsche Ausgabe (1940) hat wohl nur mit einem Vorwort von Paul Diepgen erscheinen können. Dessen Einleitung glich dem Sprachduktus der Machthaber: „Glück und Fortschritt einer völkischen Gemeinschaft hängen zum großen Teil vom Stand der medizinischen Wissenschaft und von dem Umfang ab, in dem man sie für die öffentliche Wohlfahrt fruchtbar macht. Wege und Irrwege dazu werden aus der Geschichte gezeigt. Ein nachdenkliches Buch, mit allen Vorzügen einer flotten Darstellung […]“ (Shryock, 1940, S. VI).

Selbst der international wohl bekannteste Vertreter einer Sozialgeschichte der Medizin, der englische Medizinhistoriker Roy Porter (1946–2002), verfasste 1997 ein medizingeschichtliches Übersichtswerk, das einer Geschichte des Ärztestandes und des medizinischen Fortschritts das Wort redet. Porters einfache wie überzeugende Erklärung dafür lautet: „[…] es gibt einen guten Grund, Gewinner in den Vordergrund zu stellen – nicht weil sie ‚am besten sind‘ oder ‚Recht haben‘, sondern weil sie mächtig sind“ (Porter, 2000, S. 13). Immerhin versteht es Porter geschickt, diese vermeintliche Geschichte des medizinischen Fortschritts und der Medikalisierung (S. 357) aller nur möglichen Lebensbereiche gelegentlich zu unterbrechen und den zahlreichen Gegenkräften (wie z. B. rasch mutierenden Viren und widerspenstigen oder uneinsichtigen Patienten) die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. [<<30]

1.2.2 Jenseits des Fortschritts

Der erste deutsche Medizinhistoriker, der nach dem Zweiten Weltkrieg den bis dahin kaum hinterfragten Fortschrittsbegriff problematisierte, ist der Hamburger Medizinhistoriker Charles Lichtenthaeler (1915–1993). Er plädierte in seinen Vorlesungen aus den späten 1960er Jahren dafür, den Fortschrittsbegriff aus der Medizingeschichte nicht grundsätzlich auszuklammern, sondern zwischen einem „allgemeinen ,Lauf der Geschichte‘ und einem ,geschichtlichen Fortschritt‘“ (Lichtenthaeler, 1977, S. 91) zu unterscheiden, wobei im letzteren Falle seiner Meinung nach „zwischen den großen und entscheidenden, epochalen Aufwärtsbewegungen und den zahllosen Einzelfortschritten auf allen Gebieten menschlicher Betätigung“ streng zu trennen sei. Als Beispiel für die berechtigte Verwendung des Kollektivsingulars nennt er die Überwindung der Magie durch die Ratio in der Antike. Gleichwohl lehnt er es ausdrücklich ab, den „progressistischen und scientistischen“ Medizinhistoriker einfach nachzuahmen und bei der Periodisierung der Medizingeschichte das angebliche „Auf und Ab des pragmatischen medizinischen Fortschritts“ und die damit verbundene Unterscheidung zwischen „guten“ Epochen mit vielen wissenschaftlichen Errungenschaften und weniger ertragreichen Perioden als Richtschnur zu nehmen.

1976 erschien ein Buch des englischen Historikers Thomas McKeown (1912–1988), das eine bis heute nicht enden wollende Grundsatzdebatte unter Medizin- und Sozialhistorikern ausgelöst hat (McKeown, 1976). McKeown stellte zwar den Fortschrittsbegriff nicht grundsätzlich in Frage, doch kratzte er mit seinen aufsehenerregenden Thesen erheblich am Mythos, dass es die Fortschritte in der Medizin waren, die zu einem dramatischen Rückgang der Sterblichkeit (vor allem an Infektionskrankheiten) und einer erheblichen Verlängerung der Lebenszeit führten. Die Kernsätze dessen, was inzwischen als McKeown-Hypothese bekannt ist, lauten in seinen eigenen Worten: „Die Sterblichkeit durch verbreitete Infektionen (Tuberkulose, Lungenentzündung, Scharlach, Masern, Keuchhusten usw.) war bereits ziemlich gesunken, sieht man vielleicht von der Diphtherie ab, bevor wirksame Schutzimpfungen und die Chemotherapie zur Verfügung standen. Die bedeutendste Leistung der biomedizinischen Wissenschaft bestand in der Verbreitung der Hygiene-Maßnahmen, die durch das Krankheitsverständnis und die Identifikation der Mikroorganismen möglich wurde. Die Kontrolle der Infektionen ließ sich zumindest auf die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie auftraten, zurückführen“ (McKeown, 1982, S. 240). Neben der Hygiene, die noch als eine Domäne der Medizin betrachtet werden kann, waren es nach McKeown andere, primär nicht-medizinische Faktoren, deren Wandel die [<<31] genannten historisch-demographischen Folgen gezeitigt hat, nämlich die Anhebung des Lebensstandards und die verbesserte Ernährung.

Die These, dass der Beitrag, den die auf ihre ‚Fortschritte‘ bislang so stolze biomedizinische Forschung zur Verhinderung von Todesfällen in den letzten drei Jahrhunderten leistete, kleiner war als der anderer Einflussfaktoren, blieb nicht unwidersprochen. Gleichwohl war McKeowns medizinhistorische Beweisführung zunächst Wasser auf den Mühlen einiger Sozialhistoriker, die unter dem Einfluss der populären Medizinkritik von Autoren wie Thomas Szaz (1961), Ivan Illich (1976) oder Ian Kennedy (1981) sich herausgefordert fühlten, den Fortschrittsmythos, der die Medizingeschichte lange Zeit dominierte, Stück für Stück zu demontieren. Wie immer man auch zu McKeowns umstrittener Gesamtschau der Medizin- und Bevölkerungsgeschichte (Historische Demographie, S. 261) der letzten 300 Jahre stehen mag, eines kann, wie selbst seine Kritiker zugeben, im Rückblick auf die professionell betriebene Medizinhistoriographie der letzten 30 Jahre nicht bestritten werden: Der Fortschrittsgedanke hat dort seitdem – epistemologisch betrachtet – entscheidend an Boden verloren.

 

Nicht nur die Kontroverse um die Thesen McKeowns erschütterte in den 1980er Jahren die Medizingeschichte, die bis dahin weitgehend whiggish ausgerichtet war, um einen aus der Politikgeschichte entlehnten Ausdruck eines englischen Historikers (Butterfield, 1931) zu gebrauchen. Auch von einer ganz anderen Seite geriet die Geschichte der Ärzte und ihrer Leistungen unter Beschuss. Bereits einige Jahrzehnte vor der Welle der Kritik an dem „inhumanen“, weitgehend naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin-Betrieb unserer modernen Industriegesellschaft, die in den späten 1970er Jahren einsetzte, hatte der englische Medizinhistoriker Douglas Guthrie (Guthrie, 1945) gefordert, den Patienten mehr als bisher in den historiographischen Blick zu nehmen (Patientengeschichte, S. 201).

Mit der Öffnung der Geschichtswissenschaften zu den Sozialwissenschaften, die sich in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren vollzog, haben sich nicht nur die Methoden der Geschichtswissenschaft geändert, auch ihr Objektbereich hat sich vergrößert. In der „Sozialgeschichte in Erweiterung“, wie sie dem Heidelberger Historiker Werner Conze (1910–1986) vorschwebte, sollte nach den Vorstellungen einer jüngeren Historikergeneration auch der Bereich Krankheit und Gesellschaft einen Platz finden. Doch das inhaltliche und methodische Innovationspotential, das die historischen Sozialwissenschaften an anderen Objekten wie Kindheit, Sexualität, Alter und Tod bereits erprobt hatten, blieb in der Medizingeschichte lange Zeit ungenutzt. Erst relativ spät entdeckte die Sozialgeschichte (S. 173) der Medizin auch die Welt des kranken und sterbenden Menschen als lohnendes Objekt ihrer Forschungen (Jütte, 1991; Lachmund/Stollberg, 1995; Stolberg, 2003, 2011; Anderheiden/Eckart, 2012). Nur allmählich setzte [<<32] sich die Auffassung durch, dass das erlebte Leiden genauso wichtig ist, wenn nicht sogar wichtiger als die objektivierte Krankheit und deren Behandlung. Nicht die Leiden eines mehr oder weniger bekannten Individuums standen fortan im Brennpunkt des Interesses, sondern die gesellschaftlich und kulturell geprägte Einstellung zum Leiden, der Umgang mit Krankheit und nicht zuletzt die Bewältigung von Kranksein in einem sozialen System (Schnalke/Wiesemann, 1998). Diese veränderte Blickrichtung einer Medizingeschichte „von unten“ (Roy Porter) betonte eher die Kontinuitäten im medikalen Verhalten der Menschen früherer Zeiten im Vergleich zu heute, wenngleich historische Brüche und Verwerfungen durchaus gesehen und zeitlich verankert wurden. Kategorien wie ‚Fortschritt‘ und ‚Entwicklung‘ galten als eher nebensächlich. Wenn sie überhaupt auftauchten, dann im negativen Zusammenhang, ganz im Sinne der von Jürgen Habermas postulierten „Kolonialisierung der Lebenswelt“ und der damit verbundenen Frage nach den ökonomischen und sozialen Kosten der in der Medizingeschichte nachweisbaren Modernisierungsschübe. Auf diese Weise ließ sich der ideologisch vorbelastete Begriff des ‚medizinischen Fortschritts‘ geschickt vermeiden.