Die unbeschriebene Welt

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Am Ende der Welt

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»Da drüben muss es irgendwo sein!«, meint Will und zeigt auf die gegenüberliegende Seite des Flusses. Die Luft ist durchsetzt von feinen Staubpartikeln. Die Sonne durchdringt den diesigen Schleier in einer Kaskade von leuchtenden Ringen und taucht die Landschaft in goldgelbe Schattierungen.

»Ich war noch nie so weit weg von Memoria«, sage ich und umklammere krampfhaft den Griff am Sitz, da der Tog heftig hin und her wippt. Die Strecke ist uneben und mit Geröll bedeckt. Ungeachtet dessen rast Will mit Höchstgeschwindigkeit über die Landschaft.

»Ich war schon n‘ paar Mal so weit draußen, aber das ist lang her«, erwidert er.

»Ich wusste nicht, dass der Tog so schnell sein kann«, sage ich mit bewusst besorgter Stimme.

Sein Blick springt kurz zu mir.

»Bin ich dir zu schnell?«

»Das ist hier nicht gerade eine Rennstrecke, Will«, erwidere ich, während mein Kopf hin und her wippt. Er grinst und reduziert die Geschwindigkeit. Der diesige Himmel öffnet sich etwas, und ein blasses Blau tritt fleckig hervor.

»Ist dir aufgefallen, dass die Wolken immer nur in eine Richtung ziehen, ganz egal wie hier der Wind weht?«, frage ich.

»Glaub‘ Jules erwähnte das womöglich mal. Wieso? Sollte das ein Problem sein? Bin ja kein Metronom oder so was.«

»Meteorologe, meinst du. Seltsam erscheint es mir schon.«

Wir passieren ein Waldgebiet und fahren einige Zeit lang parallel zum Fluss.

»Dort kommen wir mit dem Tog sicher rüber«, meint er und zeigt auf eine flache Uferböschung.

»Mit dem Tog?«

»Ach so, ja ... der Tog kann quasi auch über Wasser fahren. Nicht grad schnell, aber es reicht, um nen Fluss zu durchqueren.«

Er steuert direkt in das Gewässer hinein. Mit einem schwankenden Ruck lösen wir uns vom Boden, treiben kurz dahin, bis sich die Räder etwas herausschieben. Hinter den Reifen kommen schmale Schaufeln zum Vorschein. Der Fluss ist an dieser Stelle knapp zwanzig Meter breit, aber die Strömung ist sehr schwach. Nur wenig später erreichen wir das gegenüberliegende Ufer.

»Wie erkennen wir eigentlich das richtige Erz?«, frage ich.

»Sid meinte, es sei ein dunkelblaues, kantiges Gestein.«

»Kantig? Sind das nicht nahezu alle Steine?«

»Ja, das habe ich ihm auch gesagt. Er meinte, es platzt halt in so kantigen Scheiben ab.«

»Vielleicht hätte Sid besser mitkommen sollen«, bemerke ich.

»Sid? Der hat für solche Streifzüge kein‘ Nerv.«

Auf der linken Seite, wo sich zwei Hügelflanken treffen, bricht der Boden in eine flache Felsformation auf. Verdorrte Büsche ragen zwischen den Spalten des Gesteinfeldes hervor. Einige Meter darüber schimmert eine glatte Abbruchkante bläulich im Sonnenlicht. Ich deute in die Richtung. Will nickt und beschleunigt. Ich muss mich wieder am Griff festhalten, um nicht aus dem Sitz geschleudert zu werden. Mit einer schnellen Bewegung lenkt er schlagartig ein und bremst ab. Der Tog driftet seitwärts und kommt kurz vor der Felsebene zum Halt. Wir steigen aus, und ich nehme die Hacke von der Lade des Togs. Ein kleiner Absatz führt uns hinauf auf den untersten Felssockel. An einem breiten Riss klettere ich etwa einen Meter hinunter und schlage dosiert auf die Kante. Ein Teil platzt als schmale Scheibe ab. Will hebt sie auf und hält sie ins Sonnenlicht. Die Bruchstelle ist übersät mit bläulich schimmernden Partikeln.

»Das ist es!«, sagt er und nimmt mir die Hacke aus der Hand. Er schlägt mit viel Schwung auf die Felskante, und es platzen weitere Stücke ab. Eine Bewegung im Augenwinkel lenkt mich ab; oben auf dem Hügel — eine Gestalt? Mein Blick schweift prüfend über den Felskamm. Hinter mir schlägt Will krachend den nächsten Brocken ab.

»Will, warte mal ... dort oben!«, bemerke ich und zeige auf die Stelle.

»Was ist da?«

»Ich weiß nicht, eine Bewegung.«

»Ach, sicherlich nur ein Vogel.«

»Nein, so hat das nicht ausgesehen, ... ich werd mir mal von dort oben einen Überblick verschaffen.«

Will wischt sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

»Okay.«

Von der Felsebene aus klettere ich den Anstieg hinauf. Hin und wieder muss ich einen Absatz erklimmen. Aus der Entfernung höre ich, wie Will weiter die Steine zerkleinert. Ebene für Ebene arbeite ich mich in einer Schlangenlinie hoch, schließlich erreiche ich die oberste Kante der Anhöhe. Das Plateau ist völlig eben, als wäre die Hügelspitze mit einem großen Messer abgeschnitten worden. Der Bergrücken verläuft in einem leichten, lang gezogenen Gefälle herab. Eine weite Landschaft öffnet sich vor mir. Gewundene Bäume mit rotbraunen Blättern formen einen dichten herbstlich anmutenden Wald. Er erstreckt sich vom Horizont in einem breiten Band bis zu einer seltsamen, weißen Fläche unten im Tal. Schnee? Nein, so rapide kann sich die Temperatur von der hier nicht unterscheiden. Immer wieder versetzt mich die Umgebung in Erstaunen. Mitten in der weißen Ebene blitzt etwas in der Sonne auf. Ein Gebäude? Ich beschatte mit der Hand meine Augen. Ein Brunnen? Hier draußen?

»Will, das musst du dir ansehen!«, rufe ich. In diesem Moment sehe ich ihn über die Kante des Plateaus klettern.

»Was zum ... ist das Schnee?«, fragt er schnaufend und stützt sich mit den Händen auf seinen Knien ab.

»Ich weiß nicht, siehst du den Zylinder ... dort?«

»Ach, ein Brunnen? Maria hat mal davon gesprochen, das wird er sicher sein.«

»Soweit ich sehe, gibt es keine Häuser«, meine ich. »Aber der Brunnenbereich könnte sich bis in den Wald hinein erstrecken.«

»Mit Sicherheit«, erwidert Will.

»Was meinst du, kommen wir hier irgendwie mit dem Tog herauf?«

Er blickt zurück in Richtung des Vehikels.

»Sieh an, jetzt wird unser Ausritt womöglich doch noch spannend. Also an dieser Stelle ist es unmöglich, ... aber da drüben, wo die Felsen aufhören, müsst‘ es klappen.«

Als wir nach dem Abstieg wieder beim Tog ankommen, nehme ich den Behälter für das Erz, und wir sammeln die abgeschlagenen Brocken ein.

»Das sollte wohl reichen«, meint Will.

»Wenn das Erz in Ordnung ist, müssen wir hier sicher öfters herkommen«, bemerke ich.

Er nickt. »Ist kein Problem, für den Tog gibt‘s nen Anhänger, und wir würden sicher auch n‘ bisschen Verstärkung bekommen.«

Kleine Wolken ziehen vereinzelt über den dunstverschmierten, blassblauen Himmel. Die Sonne steht im Zenit, aber von ihrer Wärme gelangt nur ein Bruchteil hindurch. Ich verstaue das Erz auf der Ladefläche und setze mich in den Beifahrersitz.

»Mit dem Erz an Bord sind wir noch schwerer, hoffentlich schaffen wir so die Steigung«, meine ich.

Will fährt eine Schleife und richtet den Tog zum Hügel aus.

»Nur eine Frage des Schwungs«, erwidert er und drückt den Steuerknüppel bis zum Anschlag nach vorne. Die Beschleunigung bleibt jedoch zunächst verhalten. Der Motor surrt und wir werden beständig schneller. Obwohl der Untergrund hier sehr eben ist, schüttelt es uns zunehmend durch. Ich stütze mich mit beiden Füßen im Innenraum ab und drücke mich so in den Sitz. Die Steigung wird immer stärker, dennoch beschleunigen wir weiter. Die Steine klappern im Behälter. Vor mir sehe ich nur noch den trüben Himmel.

»Festhalten!«, ruft Will.

Das Surren ist zu einem hochfrequenten Pfeifen geworden. Der Tog erzittert. Ein schwereloses Gefühl im Magen. Das Vehikel neigt sich, und das Blassblau in der Frontscheibe wird vom Erdbraun des Untergrunds verdrängt. Ein Schlag! Mein Kinn stößt auf das Knie. Die Federung des Togs nimmt dem Aufprall einen Großteil der Wucht. Er bremst ab und ballt die Faust.

»Ja!«

»Will, du solltest mich bei solchen Aktionen besser vorwarnen.«

»Wieso? Hat doch bestens geklappt.«

Aber selbst sein Abenteuerdurst wurde offenbar vorerst gestillt. Mit gemächlicher Geschwindigkeit nähern wir uns der großen, weißen Fläche.

»Das ist kein Schnee«, sage ich, als wir mit dem Tog über den weißen Untergrund fahren.

»Salz, oder?«, erwidert er.

Seitdem wir den Hügel überquert haben, ist der Himmel klar, nahezu wolkenlos, keine Spur mehr von den verhangenen Staubschleiern. Die Temperatur ist deutlich angestiegen, und die Sonne brennt merklich auf der Haut. Je näher wir dem silbernen Zylinder kommen, desto häufiger tauchen quadratische Senken in dem Salzboden auf. Einige sind nur Zentimeter tief, andere sicher über einen Meter. Die Szenerie erinnert an ein vor langer Zeit zerfallenes Dorf, das nun unter einer dicken Salzschicht begraben liegt. Will umfährt geschickt alle Vertiefungen und Furchen, bis wir nicht weit entfernt vom Brunnen anhalten und aussteigen. Auf der Konsole sind rot leuchtende Linien zu erkennen.

»Keine Globen!«, meint Will, nachdem er einen Blick ins Becken wirft.

»Offenbar ist er nicht aktiv, aber auch nicht ausgeschaltet. Auf unserem Brunnen habe ich noch nie solch rote Anzeigen gesehen«, bemerke ich.

Will zieht die Achseln hoch. »Weiß nicht ... hab noch nie drauf geachtet.«

Wir stehen vor dem Zylinder, inmitten der weißen Ebene und schauen auf die flimmernde Darstellung.

»Moment, das ist eine Karte. Dort ist der Wasserfall und da ragt das Plateau heraus, siehst du?«, meine ich.

»Ja, sieht so aus.«

Die Perspektive der Karte ändert sich.

»Was ist das? Dort oben auf dem Wasserfall — ein Turm?«

»Ich weiß nicht«, erwidert er.

»Will, gibt es einen Zugang bis dort oben hinauf?«

»Glaub‘ nicht. Hab nie nachgeschaut, dachte, da sei nur Wasser.«

Die Karte flackert und erlischt plötzlich. Ein markdurchdringender Knall breitet sich aus — meine Ohren schmerzen. Ich zucke zusammen, möchte mich drehen, aber meine Beine sind vom Schock wie gelähmt. Ich falle in der Drehung nach hinten und lande auf dem Salzboden. Ein Mann mit zerzausten, braungrauen Haaren und notdürftig geflickter Kleidung, steht in etwa zehn Meter Entfernung vor uns und schaut uns mit aufgerissenen Augen an. Er hält eine Pistole in Richtung Himmel und richtet die Waffe nun langsam auf uns aus. Will steht erstarrt neben mir.

 

»Salvento? Ich dachte ... das kann nicht sein«, stammelt er.

Die Augen des Mannes zucken. Sein Blick ist wirr auf den Boden vor uns gerichtet.

»Väterchen, lass sie einfach ... Reset, das ist meine Operation, wir hatten uns geeinigt ... «, murmelt der Mann. Ich raffe mich langsam vom Boden auf.

»Tut mir leid, ich verstehe sie nicht. Warum haben sie geschossen?«

»Wer hat euch geschickt?«, fragt er mit harter Stimme.

»Wir sind nur wegen des Erzes hier«, erwidere ich.

»Unsinn! Hier ist kein Erz. Hier ist nur Salz ... nur Salz.«

Will bewegt sich einen Schritt auf ihn zu. Salvento bemerkt es und richtet sofort die Waffe auf ihn.

»Salvento, wir kennen uns doch. Ich bin William, du erinnerst dich? Memoria?«

Der Mann lacht herablassend.

»Erinnern? Was weißt du denn schon? An was kannst du dich erinnern? Du bist auch nur ein Nuller, Hirntoter, Reseter. Mich fresst ihr nicht ... mich nicht!« Ein Schuss löst sich aus der Waffe. Salz staubt auf und wirbelt herum. Die Kugel muss einige Meter vor Will in den Boden eingeschlagen sein. Salventos Blick schweift orientierungslos umher. Er fasst sich an den Kopf, als hätte ihn dort etwas getroffen.

»Genau, die wissen nichts! Gar nichts ... Väterchen ... schick sie weg«, murmelt er.

Auch wenn mir Salvento dem Wahnsinn nahe scheint, ahne ich irgendwie, dass er doch mehr weiß als wir.

»Der Turm über dem Wasserfall, wie kommt man dort hin?«, frage ich, mit einer Schärfe, die mich selbst überrascht. Blitzartig richtet er die Waffe auf mich.

»Du bist neu, dich erkenne ich nicht ... noch nicht.«

»Ich bin Paul, und ich will wissen, was zum Teufel hier vor sich geht! Wo kommen wir her? Warum können wir uns nicht erinnern? Wo ist die Erde?«

Er lässt die Hand mit der Waffe zu Boden sinken. Seine Stimme wird weinerlich.

»Die Erde ... du würdest sie nicht mehr mögen ... unser alter Kumpel ... zerschunden ... zerschunden wie ein abgenutzter Schuh.« Er schüttelt den Kopf und sackt plötzlich zu Boden. »Anna! Ich ... ich konnte das nicht wissen«, ruft er.

Ich blicke zu Will.

»Wer ist Anna?«

»Seine Tochter, so denkt er. Sie ist aber nie hier aufgetaucht.«

»Also kann er sich erinnern?«

»Ich ... ich weiß nicht ... ich meine, schau ihn dir an.«

»Väterchen, lass mich nur machen, dann wird‘s besser ... besser Vergesser ... nur für den Moment.«

Er erhebt sich langsam, seine Haltung ändert sich. Er blickt um sich und wirkt erschreckt, als er die Waffe in seiner Hand bemerkt. Will läuft zwei Schritte vor, bleibt jedoch abrupt stehen, als Salvento die Pistole wieder auf ihn richtet.

»Will? Was wollt ihr hier?«, fragt Salvento mit weicher Stimme.

Will schaut mich stirnrunzelnd an.

»Wir sahen den Brunnen aus der Entfernung. Was machst du hier eigentlich? Wie kannst du hier alleine überleben?«, frage ich.

»Der Brunnen, hab mir dort ein Haus gebaut«, erwidert er und deutet zum Waldrand.

»Willst du nicht mitkommen? Nach Memoria?«

Er schüttelt den Kopf. »Nein, habe alles, was ich brauche. Ich komme vielleicht, wenn ich fertig bin.«

Will bewegt sich vorsichtig ein paar Schritte zurück.

»Wie du meinst.«

»Ja, ihr geht jetzt besser. Väterchen bleibt nie lange weg.«

»Gut, wir machen uns wieder auf den Weg. Ich bin übrigens Paul«, füge ich an.

Er nickt, dreht sich um und läuft geradewegs auf den Wald zu. Wir blicken ihm für eine Weile nach, bevor wir uns zurück zum Tog wagen. Salvento läuft unbeirrt weiter und beachtet uns nicht mehr. An seinen Händen ist zu erkennen, dass er wieder mit sich selbst spricht.

»Nichts wie weg hier«, meint Will.

Wir fahren für einige Zeit schweigend durch die Landschaft.

»Was hat es mit Salvento auf sich, und wieso besitzt er überhaupt eine Waffe?«, frage ich schließlich.

»Er hat zur ersten Gruppe gehört, baute Memoria mit auf, dann eines Tages ist er plötzlich durchgedreht, ... suchte nach Anna und konnte sie nicht finden. Faselte was davon, dass er zurück will, oder so.«

»Zurück? Zur Erde?«

Vor uns taucht wieder der Fluss auf. Will verringert die Geschwindigkeit und steuert den Tog in den Strom hinein.

»Erde? Paul, ich verbinde das hier — Memoria — damit. Sicher, mag sein, dass es womöglich eine Welt davor gab, eine von der wir kommen, aber das ist schon so lang her.«

Ich beneide ihn irgendwie. Dass ihm diese Ungewissheit, dieses Rätsel, so unberührt lässt. In mir erzeugt es eine zunehmende Unruhe. Fragen bohren sich in meinen Verstand; ich kann mich dem einfach nicht entziehen. Jeder Stein, jede Blume, jedes Gramm Staub ist voll von Fragen, welche sie mir stumm entgegen schreien.

»Wie ging es mit Salvento weiter?«

»Naja, er beruhigte sich, es schien, als wenn er wieder normal sei. Dann, eines Tages war er verschwunden, mit ihm der Tog und die Pistole aus dem Depot. Wir suchten tagelang, fanden aber nur, einige Kilometer außerhalb, den Tog, von ihm ... keine Spur. War mir sicher, dass er längst tot sei.«

»Denkst du, dass er sich wieder erinnern kann?«

»Ich ... glaub, dass er es glaubt. Paul, da stimmt offensichtlich was nicht mit seinem Gehirn.«

In der Entfernung tauchen die ersten gelben Häuser auf.

»Will, mit unser aller Gehirn stimmt etwas nicht, ansonsten müssten wir uns doch erinnern. Ob verrückt oder nicht, er brachte den Brunnen dazu, eine Karte vom Wasserfall anzuzeigen.«

»Okay, aber in so technischen Dingen war er ja schon immer gut.«

Kurz bevor wir Memoria erreichen, fällt mir mit einem Mal wieder mein Notizbuch ein.

»Lass uns doch gleich mal am Wasserfall nachschauen, dauert mit dem Tog ja nur ein paar Minuten«, höre ich mich sagen.

Er runzelt die Stirn. »Das wird Maria sicher nicht gefallen, ... aber egal. Ich kenne das, es wird dich eh nicht in Ruhe lassen, bis du es dir angeschaut hast.«

Mir fällt wieder ein, was Jules mir gesagt hatte, dass die Menschen hier aufgegeben hätten, so auch Will. Nur seine Abenteuerlust treibt ihn an. Nach Antworten sucht er längst nicht mehr.

Wir fahren vorbei an Memoria und den Getreidefeldern, bis zu dem Tunneleingang am Ufer.

»Wisst ihr, warum die Treppe eigentlich so beschädigt ist?«, frage ich.

»Sid vermutet, dass der ganze Berg instabil ist, er meinte was von: Verschiebung der Tektonik, oder so.«

Wir durchschreiten den Tunnel und betreten die Treppe. Der Wasserfall donnert hinter uns nieder.

»Diese ganze Konstruktion muss doch zu irgendetwas gut sein«, sage ich.

»Womöglich ist sie einfach nur wegen der schönen Aussicht da«, erwidert er.

Wir steigen den zweiten Treppenabsatz hinauf. Will befindet sich einige Stufen vor mir, als er eine hektische Handbewegung macht.

»Gibt es hier Spinnen? Ich glaub, ich hab grad eine verschluckt«, er spuckt, »äh ... ich hasse Spinnen.«

Er stolpert in seiner Bewegung, kann sich aber eine Stufe tiefer abfangen. Ich höre ein Knirschen; schlagartig gibt die Stufe nach. Er schreit auf, rutscht hinunter und greift nach dem Geländer. Nun biegt sich die Brüstung. Ich mache einen Sprung nach vorn, greife seinen Arm; er kippt mit einem Teil des Geländers von der Treppe und zieht mich mit. Ich verhake meine Füße in den Treppenstufen und kann ihn gerade noch halten. Frei hängend blickt er zu mir hoch.

»Paul, lass los!«

»Da sind noch knapp zwei Meter unter dir, denkst du, du kriegst das hin?«

»Klar, aber du musst runter von der Treppe, die gibt gleich nach!«

In diesem Moment höre ich ein Stakkato von dumpfen Schlägen. Ich lasse Will los. Mit einem Mal dreht sich die Treppe und schleudert mich herum. Ich kann mich an einer Querstrebe festhalten. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie sich etwas großes Metallenes rasch nähert ...

***

Feuerbrennendeshaus ... Glühendweißerturm ... Unseralterkumpel ... Schwarzgrauweiß ...

»Er kommt wieder zu sich!«

»Paul, wie geht es dir?«

»Maria?«

Ich blicke in große, braune Augen. Die Iris ist von gezackten, orangefarbenen Linien durchzogen — ein leuchtender Kranz, der die Pupille umläuft. Maria beugt sich über mich. Ich spüre ihre Hand auf meiner Schulter.

»Es hat dich ziemlich hart erwischt.«

Mein Kopf schmerzt. Meine Hand geht zur Schläfe. Ich bemerke einen Verband an meiner Stirn.

»Wo bin ich? ... Was ... ist passiert?«

Aus dem Hintergrund höre ich Wills Stimme.

»Am Wasserfall ... der Treppenabsatz kippte weg. Und du hast mir mal wieder die Haut gerettet ...«

Ich richte stöhnend den Oberkörper etwas auf.

»Wir haben dich erst mal zu mir gebracht«, sagt Maria. »Jules hat die Wunde versorgt und dir strikte Bettruhe verordnet.«

»Jules? Wie lange ...«

»Ein paar Stunden ... hast einige Male vor dich hingemurmelt«, meint Will.

»Ich ... hatte wirre Träume.«

Mir wird schwindelig und ich sacke zurück auf das Kissen. Es fällt mir schwer, die Augen offen zu halten. Ich höre, wie Maria aufgeregt mit Will redet, aber kann ihren Worten nicht mehr folgen. Sie streift mit der Hand über meinen Kopf.

»Ruh dich aus, Paul.«

***

Ein unruhiger Traum weckt mich. Ich richte mich schwerfällig auf. Die Welt um mich herum schwankt, scheint meinen Bewegungen nur mit einer Verzögerung zu folgen. Auf dem Bett sitzend konzentriere ich mich auf meine Füße, bis sich das Schwindelgefühl legt. Von der verspiegelten Schranktür vor mir starrt mich jemand mit einem Kopfverband und zerzausten Haaren an. Ich kann mich erinnern, dass mich irgendetwas auf der einstürzenden Treppe traf. Ich kann mich sogar daran erinnern, dass Will auf mich einredete, mich bis zum Tog stützte und ich dann zusammenbrach ... aber vielleicht war es auch nur Teil meines Traums.

Ich finde meine Kleidung auf einem Stuhl, ziehe mich an und verlasse das Zimmer. Vom Flur aus kann ich Maria in der Küche vor dem Herd stehen sehen.

»Danke, Maria, mir geht es schon viel besser«, rufe ich zu ihr herüber.

Sie stoppt kurz in ihrer Bewegung und rührt dann weiter in dem Topf herum.

»Hast du vielleicht etwas von deiner Suppe übrig?«, frage ich.

»Schön, dass es dir besser geht, Paul. Ich kann dir etwas frisches Hon-Ragout anbieten«, erwidert sie, ohne mich anzuschauen.

»Gern, ich kann mich vor Hunger kaum auf den Füßen halten.«

»Kein Wunder, das war fraglos ein schwerer Tag für dich.«

Ich richte mir den Verband.

»Will hat mir von Salvento erzählt«, fügt sie an. »Unglaublich! Wie kann er so verwirrt da draußen überleben?«

Sie zeigt auf den großen Tisch und nimmt den Topf vom Herd. Ich setze mich auf die Bank.

»Vielleicht ist er nicht so verwirrt, wie es scheint«, erwidere ich. »Hat dir Will auch von der Karte vom Wasserfall auf der Konsole erzählt?«

»Ja, seltsam. Ich bekomme nur eine Karte von der Stadt. Wieso sollte der Brunnen eine Ansicht vom Wasserfall anzeigen? Soweit reicht er ja gar nicht.«

Sie stellt zwei Schalen hin, setzt sich neben mich und füllt sie auf. Ich schlinge das Ragout förmlich in mich hinein.

»Auf der Karte hat es so ausgesehen, als wenn es einen Turm oben über dem Wasserfall gibt«, sage ich mit vollem Mund.

»Paul, darüber wollte ich mit dir reden.«

»Über den Turm?«

»Du musst damit aufhören!«

»Womit?«

»Es ist dort zu gefährlich, um irgendwelchen Hirngespinsten nachzujagen.«

»Hirngespinst? Die Karte war deutlich zu sehen.«

»Ach ... du hast nur gesehen, was Salvento dort in seinem Wahn eingegeben hat. Er besitzt ein Talent für die Geräte hier, und nun baut er sich seine eigene Traumwelt.«

»Traumwelt? Das glaube ich nicht. Aber selbst wenn, wir müssen es herausfinden. Es ist sicher eine Erkundung Wert.«

Maria steht auf und räumt das Geschirr vom Tisch.

»Nein Paul, das ist es nicht!«

»Wie kannst du das sagen? Wir müssen doch jede Chance nutzen.«

 

Sie blickt mich ernst, beinahe zornig, an.

»Das führt zu nichts. Bitte gib es auf. Akzeptiere, dass du jetzt hier bist ... in Memoria. So schlecht geht es uns doch nicht, oder?«

Ich schüttle den Kopf.

»Nein, ... mir gefällt es hier, das ist es nicht.«

»Was ist es dann?«

»Ich will herausfinden, wie das alles zusammenhängt.«

Sie schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Warum?«

»Das ... das ist eben meine Natur. Ich kann nicht anders.«

»Deine Natur? Das bildest du dir nur ein. Woher weißt du, ohne dich zu erinnern, was deine Natur ist?«

»Ich ... ich glaube einfach, dass es wichtig ist herauszufinden, was passiert ist.«

Sie schüttelt den Kopf.

»Irgendwann geht dabei noch jemand drauf und was ist dann? — Deine Natur ist Mist!«, sagt sie aufgebracht, öffnet die Tür und verlässt das Haus.

Ich sitze eine Weile fassungslos am Tisch. Wie kann sie so etwas sagen? Wie kann sie nur so starrsinnig sein? Schließlich folge ich ihr nach draußen. Auf dem Platz befinden sich einige Leute, aber ich habe keine Lust, sie nach Maria zu fragen. Auf dem Weg zum Bellusplatz kreisen meine Gedanken endlos um die rote Karte, um Salvento und um Maria.

***

Ich versuche, mich nach einer unruhigen Nacht mit der Einrichtung meiner Wohnung abzulenken. Ich hänge ein paar Bilder auf und räume meine Möbel um. Dennoch muss ich immer wieder über die Geschehnisse der letzten Tage nachdenken. Ich muss Jules zustimmen, die Menschen in Memoria suchen keine Antworten mehr. Eine Stimme erschallt vor dem Haus und reißt mich aus den Gedanken.

»Paul, bist du da?«, ruft jemand und klopft gegen die Tür.

Ich gehe auf den Balkon und blicke hinunter.

»Sid? Was hat dich aus der Schmiede geholt? Komm ruhig rein«, erwidere ich und bin über die willkommene Ablenkung froh.

»Nimm doch Platz«, sage ich, als ich ihn im Wohnzimmer begrüße und zeige auf einen Sessel. Seine Augen wirken geschwollen. Einige Haarbüschel stehen ihm zu Berge und einer seiner Ärmel ist hochgekrempelt. Er wird die Nacht über sicher nicht geschlafen haben. Ich biete ihm etwas zu trinken an, aber er lehnt dankend ab.

»Paul, dein Erz ...«, meint er und ringt um Worte.

»Hat es funktioniert? Keine Strahlung mehr?«

»Sozusagen ... aber ... also ... ich machte einen ersten Testlauf ... also mit dem Erz, meine ich. Ja, und alles lief wie geplant. Die Strahlungswerte waren normal ... also beinahe null. Toll, dachte ich, wir haben das Problem gelöst. Ich nahm eine zweite Probe ... also von dem Erz. Alles schien genauso zu laufen ... bis ... ja, bis ... «, stammelt er und fährt sich ununterbrochen mit den Händen durch die Haare, »die Schmiede verrücktspielte.«

»Verrücktspielte?«

»Alle Systeme gingen mit einem Mal aus. Ich stand sozusagen im Dunkeln ... aber nur kurz, ... da liefen plötzlich rote Symbole über die Konsolen. Ja, und dann ... dann begann die Transformation ...«, erklärt er und schnappt nach Luft. Ich setze mich ihm gegenüber.

»Transformation ... zu was?«

»Ich sage dir, ... ich war in Panik. Die Wände und der Boden bewegten sich, und es gab einen Höllenlärm. Ich dachte, jetzt stürzt alles ein, ich rannte, rannte einfach raus.«

»Vielleicht ein Erdbeben?«

Er schüttelt den Kopf.

»Die Schmiede ... du musst sie dir anschauen, die ist jetzt größer und drinnen gibt es neue Konsolen mit gelber Beleuchtung.«

»Und das alles wegen dem Erz?«

Er zieht nervös an seinem Kragen herum.

»Kann ich jetzt doch was zu trinken haben?«

»Natürlich«, erwidere ich und gieße ihm einen Saft ein.

»Ich habe sozusagen die ganze Nacht darüber gebrütet. Ich analysierte das Erz. Konnte zuerst nichts Besonderes finden, also machte ich einen weiteren Test mit einer dritten Fuhre.«

»Nach der Transformation? Also funktioniert die Schmiede noch?«

Er nickt. »Ja, also — Mann, hatte ich ein‘ Schiss —, aber ich musste es probieren. Lief planmäßig. Und beim Schmelzen fiel es mir dann auf: In einigen Erzbrocken sind Kristalle gewachsen.«

»Und ... das ist nicht gut?«

»Verunreinigungen ... normal, eigentlich kein Problem für die Schmiede. Diese Kristalle jedoch ... also ... halt mich für verrückt, aber ich glaube, da ist so was wie eine Nachricht eincodiert. Also ... nicht für uns, sondern ... verstehst du? Die Schmiede liest sie und bum!«, sagt er und greift zu seinem Glas.

Eine Zeit lang verharren wir sprachlos. Er wirkt immer noch völlig mitgenommen von den Ereignissen. Mir kommt das alles weit hergeholt vor, aber er ist einfach nicht der Typ, der wild spekuliert.

»Eine Codierung? Also künstlichen Ursprungs?«

Er zieht die Schultern hoch.

»Ich weiß ... das klingt sicher, ... aber in dem Kristall sind strukturelle Abweichungen«, meint er und gestikuliert mit seinen Händen, »sozusagen aus dem Raster gedreht.«

»Und das bedeutet?«

»Das ... ich ... ich hab keine Ahnung. Sieht jedoch nicht so aus, als wenn die Kristalle künstlich erzeugt wurden. Sie sind so ... ja ... gewachsen, obwohl das auch nicht sein kann«, erklärt er kopfschüttelnd und nimmt einen Schluck aus dem Glas.

»Vergiss nicht, dass wir uns wahrscheinlich nicht mehr auf der Erde befinden. Also könnte es schon sein, dass die Dinge hier anders aufgebaut sind«, erwidere ich.

»Das hast du von Jules, richtig? Also, ich glaube das nicht. Das hier ist die Erde. Wir haben nur vergessen, was passiert ist.«

»Ach, und die 28 Stunden?«

»Es sind 27 Stunden und 44 Minuten. Hab‘s für die Einrichtung der Zeitanzeige auf den Qs genau gemessen. Irgendwas ist mit der Erde passiert, vielleicht ist sie von etwas getroffen worden.«

»Und dabei ... haben wir alle unsere Erinnerung verloren?«

»Ja, so in etwa.«

»Was ist mit der Schmiede? Funktioniert sie noch?«

»Besser als zuvor. Ich hab eine der gelben Konsolen untersucht, jede Menge an neuen Bauplänen. Da tun sich ganz neue Möglichkeiten auf.«

»Inwiefern?«

»Also, ich muss mir das noch genauer anschauen, aber ich glaube, wir können nun Rohstoffe auf molekularer Ebene umformen.«

Ich nicke. »Und das alles wegen dem Erz«, murmele ich.

»Sozusagen«, erwidert er. »Ach so, das hätte ich beinahe vergessen. Als die Schmiede verrücktspielte, produzierte sie plötzlich etwas.«

Ich blicke ihn fragend an. Er holt etwas aus seiner Jackentasche.

»Drei von denen«, sagt er und legt es auf den Tisch.

»Ein gelber Glob? Was soll das bedeuten? Hast du ihn schon ausprobiert?«

Er schüttelt den Kopf.

»Nein, war erst mal genug Aufregung. Hab mir nur die Protokolle angeschaut. Wahrscheinlich besitzen sie ne höhere Energiedichte.«

»Kann ich den behalten?«, frage ich.

»Sicher.«

»Weiß Maria schon davon?«

»Nein. Sie war nicht zu Hause.«

Ich erzähle ihm von dem Streit mit Maria. Er meint, dass mir in einigen Jahren sicher auch die Motivation ausgehe, herausfinden zu wollen, was passiert sei. Früher oder später würde ich eine Beschäftigung finden, so erklärt er, dann wäre dies einfach wichtiger. Ich sage ihm, dass ich noch auf der Suche sei. Er meint, wir sollten Salvento wieder zurückholen, weil, ob verrückt oder nicht, er brillant sei und wir ihn brauchten. Dann reden wir über das Theaterstück. Er erklärt mir, dass er es nicht verstand, mittendrin einschlief und vom Applaus am Ende aufgewacht sei.

Nachdem er gegangen ist, fühle ich mich sogar noch verwirrter als zuvor. Mir rauscht das Blut in den Ohren, und meine Wunde schmerzt. Ich lege mich auf das Sofa. Zu viele Dinge gehen mir durch den Kopf, zu viele lose Enden. Bei dem Versuch, alles noch einmal zu durchdenken, verschwimmen die Bilder zu einem Strom, der sich in meinem Kopf ausbreitet. Ich folge für einige Zeit dieser oder jener Idee, aber zunehmend verblassen meine Gedanken. Die Bilderflut versiegt und das angenehme Gefühl des Loslassens breitet sich aus.

***

Vogelgezwitscher weckt mich. Obwohl ich die Nacht auf dem Sofa verbracht habe, fühle ich mich erholt und klar wie seit Tagen nicht mehr. Ich dusche mich und frühstücke etwas. Vom Balkon aus genieße ich die Morgensonne auf meinem Gesicht. Die Ruhe in meinem Kopf verblüfft mich, vielleicht finde ich mich nun doch so langsam mit den Rätseln in dieser Welt ab. Ich merke, wie die Helligkeit hinter meinen geschlossenen Augenlidern abnimmt. Dicke Wolkenschichten schieben sich vor die Sonne. Und erneut bewegen sie sich in dieselbe Richtung. Mit einem Mal wird mir klar, was ich zu tun habe. Ich muss mich auf den Weg entgegen der Zugrichtung der Wolken machen. Ich muss herausfinden, was Jules mir sagen wollte. Dafür werde ich den Tog brauchen. Will? Nein, ich möchte nicht, dass er noch mehr Ärger bekommt. Ich bin auch nicht in der Stimmung zu diskutieren. Ich muss nun handeln. Und Maria? — Sie wird es sicher irgendwann verstehen.

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