Die unbeschriebene Welt

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Ich spüre Marias Hand auf meinem Arm.

Phil verharrt in der Ausholbewegung. Ein dünner Vorhang fällt herab. Nur wenige Sekunden später öffnet sich der Schleier. Phil hält immer noch die Axt in der Hand, jedoch liegt nun nicht Murus, sondern Mina am Boden. Sie streckt ihm den Arm entgegen. »Phil, es ist an der Zeit; verliere die Welt, erlange die Freiheit!«

Er schreckt zurück und lässt die Axt fallen. Sein Körper sackt in sich zusammen, er kauert nieder und weint bitterlich. Der Vorhang senkt sich. Ein Licht fällt auf den rechten Bühnenrand. Mina tritt in den leuchtenden Kegel.

»Es war gewiss nicht leicht für Phil, seine Suche aufzugeben. Für einige Zeit spürte er nichts mehr, nahm die Welt um ihn herum kaum wahr. Die Tage vergingen und er beschloss, ohne ein Ziel vor Augen, weiter zu ziehen.«

Der Vorhang öffnet sich. Phil steht an einer Reling, hinter ihm sind weiße Wolken, aufgemalt auf einer blauen Leinwand zu sehen. Taue und Verstrebungen verlaufen von einem Mast bis zu der Reling herab. Jemand nähert sich ihm von der Seite, ich erkenne ihn wieder, es ist derselbe Kapitän, der ihn einst aus dem Ozean fischte.

»Und, ... konnten sie den Baum der Wahrheit finden?«, fragt er.

Phil zögert. »Nein.«

»Es ist eben doch nur eine Legende«, erwidert der Kapitän.

»Ich weiß nicht, ... aber selbst wenn es ihn gäbe, welcher Antworten könnte ich überhaupt gewahr werden, wenn mich die Suche nach ihm erblinden und ertauben lassen?«

Beide blicken für einige Zeit auf das Meer.

»Wir sind auf dem Weg nach Altus, einem kleinen Land auf einer Halbinsel im Norden. Der König persönlich wird seine Lieferung entgegennehmen. Er liebt solche Geschichten, sie sollten ihm diese nicht vorenthalten.«

In der nächsten Szene legt das Schiff am Hafen an und der Kapitän stellt Phil dem jungen König vor. Sie kommen schnell ins Gespräch und Phil schildert, wie er unter Affen lebte und von seiner Suche nach dem Baum. Der König ist völlig fasziniert von den Abenteuern und lädt ihn zum Speisen an seinen Hof ein. Dort erzählt Phil von seiner Leidenschaft Sonnenschirme anzufertigen. Der König erwidert, dass er zufällig nach einem Hoftischler Ausschau halte.

»Wenn es euch gelänge, unseren Hof mit einigen von euren Schirmen zu erfreuen, würde ich euch die Stelle eventuell offerieren«, meint der König und prostet Phil zu.

»Wenn ihr mir eine kleine Werkstatt bereitstellt, werde ich sofort damit beginnen«, erwidert Phil.

Inspiriert von dem Giebel eines hohen Turmes, den er vom Palast aus mitten in der Stadt emporragen sieht, formt er seine Sonnenschirme. Die Leute am Hof sind begeistert. Seine Schirme werden schnell zur Mode und er wird zum königlichen Hoftischler ernannt. Er erhält einige Zeichnungen, nach denen er neue Möbel anfertigen soll. Phil ist über die seltsamen Formen verwundert, will jedoch den König nicht enttäuschen.

»Ist euch von den Aufständen in der Stadt zu Ohren gekommen?«, fragt der König Phil eines Tages.

»Nein, ich arbeite den ganzen Tag an euren Möbeln. Gegen was begehren sie denn auf?«

»Diese ... Bauern glauben, ich würde zu viele Abgaben verlangen. Sie haben keine Vorstellung davon, wie aufwendig es ist, das Land zu verwalten. Ich liege oft in der Nacht wach und sorge mich, ... ja, sorge mich um jeden einzelnen Bürger. Aber mir scheint, dass nicht jeder meine Sorge verdient.«

»Und wenn ihr versucht, es ihnen zu erklären?«, erwidert Phil.

Der König lacht mit einem Geräusch, das mich irgendwie an eine knarrende Tür erinnert.

»Es sind Bauern und Mägde! Sie können es nicht mit ihren kleinen, winzigen Schädeln begreifen, dafür wurden sie nicht geschaffen«, entgegnet er.

Nun folgen größere zeitliche Sprünge. Phils Werkstatt vergrößert sich, und er bekommt Untergebene. Er nimmt an Leibesfülle zu. Seine Kleidung wird immer pompöser. Allerdings kann er sich an dem Luxus schon lange nicht mehr erfreuen, stattdessen wirkt er angespannt und verhält sich abschätzig gegenüber seinen Bediensteten. Er befürchtet ständig, er könne seinen Stand beim König verlieren. In der nächsten Szene blickt er von seinem Fenster aus auf die Stadt.

»Was ist dort unten los? Der Turm, er brennt! Oh nein, die Meute hat ihn angezündet.«

Sein Entsetzen steigert sich, als er bemerkt, dass die aufgebrachte Menschenmasse, mit brennenden Sonnenschirmen, zum Palast strömt. In Panik sucht er nach dem König und findet ihn, blutüberströmt mit einem Messer in der Brust, tot im Speisesaal liegen. In diesem Moment erstürmen die Aufständischen den Palast. Die Wachen fliehen vor der Überzahl. Der tobende Mob erreicht schließlich den Speisesaal. Sie umkreisen den toten König und starren ungläubig auf den Leichnam.

Der Vorhang fällt. Ein aufgeregtes Gemurmel durchläuft das Publikum. Ich blicke zu Maria hinüber.

»Wie spannend, was so ein Sonnenschirmmacher alles erlebt«, meint sie.

Der Vorhang hebt sich. Phil sitzt auf einem Stuhl. Der Lichtkegel öffnet sich und vor ihm sind nun drei Personen zu erkennen, die ihrerseits an einem großen Tisch sitzen. Die Frau in der Mitte trägt eine schwarze Robe. Einige Zuschauer befinden sich hinter einer roten Kordel als Absperrung auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Ein hochgewachsener, schlanker Mann in einem Frack schreitet eine Weile vor dem Tisch hin und her, dann wendet er sich Phil zu.

»Sie wollen dem Gericht ernsthaft weiß machen, dass sie nichts über den Turm wussten?«

Er nimmt einen Sonnenschirm vom Tisch und öffnet ihn. Empörung bricht im Gerichtssaal aus. Die Richterin muss um Ruhe bitten.

»Und das die Form ihrer Sonnenschirme genau der Turmkuppel entspricht, ... nur ein Zufall?«

Phil wischt sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn.

»Ich ... ich hatte keine Ahnung davon, mir wurde nicht mitgeteilt, dass es sich um ein Gefängnis handelte. Ich sah nur das Dach von meinem Fenster aus und gab den Schirmen die Form, ... ich wusste nicht ...«

Gelächter erschallt im Gerichtssaal.

»Ich habe den Königspalast nie verlassen ...«

Der Ankläger zeigt mit ausgestrecktem Arm auf Phil.

»Ganz genau! Warum verließen sie den Palast nie? Weil sie eben doch von dem Elend und dem Terror da draußen wussten!«

Der Ankläger wendet sich der Richterin zu.

»Ich bitte nun um das Beweisstück.«

Die Richterin nickt. Es wird eine Bank mit Riemen und Ketten hereingetragen.

»Dieses Möbelstück, hier nur als Referenz von über zwanzig Exemplaren, stammt aus ihrer Werkstatt, richtig?«

»Ja ... aber ...«, stammelt Phil.

»Das heißt, sie bauten Folterinstrumente für den König und wussten nichts davon? Wollen sie uns zum Narren halten?«

»Nein, nein, so sah die Bank nicht aus, als sie meine Werkstatt verließ. Von Riemen und Ketten weiß ich nichts.«

Rufe und Aufregung breiten sich im Saal aus. Diesmal hebt der Ankläger die Hände und bittet um Ruhe.

»Ich habe mich erkundigt, es stimmt, dass diese Dinge erst im Turm angebracht wurden. Aber sie fragten auch nicht, wozu die ganzen Ösen und Bolzen nötig sind, ... weil sie es ja wussten!«

Der Vorhang fällt.

In der nächsten Szene läuft Phil in einer Gefängniszelle auf und ab.

»Was wollen diese Bürger nur von mir? Was habe ich ihnen denn getan?«

Mit einem dumpfen, schleifenden Geräusch schiebt sich plötzlich eine Wand zur Seite. Phil bleibt wie erstarrt stehen. Aus dem dunklen Spalt ragt zuerst eine Hand heraus, dann zwei Arme. Eine Gestalt schält sich aus dem Schatten — es ist Mina.

»Phil, es ist an der Zeit; verliere die Welt, erlange die Freiheit«, flüstert sie.

Wieder fällt der dünne, seidige Vorhang und taucht alles dahinter in ein Spiel von dunklen Flächen und Silhouetten. Als er sich schlagartig öffnet, liegt Phil auf der Pritsche. Der Spalt in der Wand wie auch Mina sind verschwunden. Er richtet sich auf und ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Eine neue Szene beginnt im Gerichtssaal.

»Sie baten um das Wort und wollen sich erklären«, meint der Ankläger. »Nun, da bin ich sehr gespannt.«

Phil nickt und erhebt sich von seinem Stuhl. »Ich habe über die Geschehnisse nachgedacht. Es stimmt, dass ich von dem Gefängnis und der Folter nichts wusste, jedoch trifft es auch zu, dass es mich nicht interessierte. Ich hinterfragte nie, wie der König zu seinem Wohlstand kam und wie es seinem Volk ergeht. Die Wahrheit ist, ich war ausschließlich bemüht meinen Besitz und Stand zu mehren, oder zumindest zu halten. Mein Eigennutz entsprang nicht aus einer Boshaftigkeit, er formte sich aus der Furcht. Der Furcht zurückzufallen und der Befürchtung den Erwartungen nicht zu genügen. Dessen bekenne ich mich schuldig.«

Phil setzt sich. Die Stille im Gerichtssaal wird erst von dem sichtlich überraschten Ankläger unterbrochen.

»Über die Schuld haben sie nicht zu entscheiden. Das ist die Angelegenheit der Richterin«, sagt er mit dünner Stimme.

Nach der Anhörung weiterer Zeugen, welche Phils Aussage zu bestätigen scheinen, kommt die Richterin zu ihrem Urteil.

»Ich befinde den Angeklagten für schuldig, jedoch nicht im Sinne der Anklage. Ich bin davon überzeugt, dass er tatsächlich nicht wusste, was im Turm vor sich ging. Die Schuld liegt, wie der Angeklagte selbst ausführte, im Narzissmus. Desinteresse und Egoismus sind jedoch keine Straftaten vor dem Gesetz. Wären sie es, würde ein Großteil unserer Gesellschaft unter Anklage stehen. Dennoch half er dem König und schädigte somit unserem Volk. Da er kein Bürger dieses Landes ist, erkläre ich ihn hiermit zu einer unerwünschten Person. Der Angeklagte wird dazu verurteilt, das Land binnen eines Tages zu verlassen. Ende des Verfahrens.«

In der nächsten Szene nimmt Phil auf einer Bank in einem Zugabteil Platz. Neben ihm befindet sich ein großes Fenster, hinter dem eine aufgemalte Landschaft vorbeizieht. Er blickt in eben diese, als eine dunkelhaarige Frau das Abteil betritt und sich ihm gegenübersetzt.

 

»Hallo, wenn ich sie fragen darf, wohin geht ihre Reise?«, fragt sie.

»Ich weiß es nicht, ich glaube nirgendwo hin.«

»Das klingt ... melancholisch?«

»Nun, bisher war ich beständig auf der Suche nach einem Sinn, und immer wenn ich dachte, ich hätte ihn gefunden, erkannte ich, dass es nur eine Illusion war. So langsam komme ich zu der Überzeugung, dass es womöglich gar keinen gibt«, erklärt er ohne sich vom Fenster abzuwenden.

»Ah, ich sehe, sie suchten nach einer Bestimmung, einem Zweck im Leben.«

Phil nickt und beide schauen für einige Zeit aus dem Fenster.

»Eine Bestimmung«, meint sie schließlich, »so wie dieser Zug, dessen Zweck es ist, für immer auf dem Gleis zu fahren. Aber ... würde ein solcher Zweck uns nicht ziemlich einschränken? Immerzu auf denselben vorbestimmten Bahnen, nur hier und da bereits gestellte Weichen? Für eine Lok ist dies gewiss alles, was sie braucht, ... nur ... wird der Mensch ja nicht mit Dampf betrieben.«

Phil schaut sie an und lehnt sich zurück.

»Also sind wir zwecklos, sinnlos und bedeutungslos, weil wir Menschen sind«, fährt es aus ihm heraus.

Sie schüttelt den Kopf. »Zwecklos, im Sinne von: frei von Zweck. Aber nicht bedeutungslos. Gerade weil wir zwecklos sind, sind wir frei und können, ja müssen, über Bedeutung selber verfügen, unseren eigenen Sinn bestimmen, ... in jedem Augenblick und immer wieder von Neuem.«

Phil streift sich nachdenklich über das Kinn.

»So hab ich das noch nie betrachtet.«

»Ich bin Silvia«, sagt sie und reicht ihm die Hand.

»Ich bin Phil.«

Sie erzählt ihm, dass sie auf dem Weg zurück in das Rotgebirge sei. Er berichtet ihr, von seiner Suche nach dem Baum der Wahrheit und sie ihm von ihrer Heimatstadt Parius im Rotgebirge. Sie erklärt ihm, dass es dort regelmäßig rot regne und der Schlamm danach alles mit einer ziegelroten Schicht überdecke. Dies käme von der Vulkanasche des Rufus. Er beschreibt, wie er es liebe, sich immer wieder neue Formen für seine Sonnenschirme auszudenken. Sie fragt ihn schließlich, ob er sie nicht nach Parius begleiten möge, wo er doch sowieso kein Ziel habe. Er stimmt zu.

»Phil, wenn du bleiben möchtest, solltest du aber von Sonnen- auf Regenschirme umsteigen. Nicht, dass wir keine Sonnentage hätten, aber der rote Regen ist nicht ohne Grund unser Wahrzeichen.«

Zwischen den nächsten Szenen liegen abermals größere zeitliche Abstände. Phil richtet sich in Parius eine kleine Werkstatt ein und fertigt Regen- und Sonnenschirme an. Er und Silvia werden ein Paar und bekommen eine Tochter. In einer Szene bringt Phil ihr die Herstellung der Schirme bei. Er erklärt dem interessierten Mädchen, welche Stoffe sich für den Schirm am besten eignen und wie der Klappmechanismus funktioniert. Plötzlich durchdringt ein heftiger Paukenschlag das ganze Theater. Einige erschreckte Laute sind im Publikum zu hören. Silvia kommt in die Werkstatt gerannt.

»Phil, es ist, wie wir befürchtet hatten, der Rufus, er ist wieder aktiv! Die Leute sagen, er könnte kurz vor dem Ausbruch stehen.«

»Pack das Nötigste zusammen, wir müssen hier sofort weg!«

Sie rennen durch die Stadt. Auf den Straßen ist ein wildes Durcheinander von hektischen Menschen. Ein weiterer Paukenschlag lässt die Bühne vibrieren. Die Luft ist durchsetzt von kleinen roten Stofffetzen. Alle Darsteller bewegen sich nun wie in Zeitlupe.

»Nein«, haucht Maria neben mir.

Mina läuft von der Seite in die unwirkliche Szene hinein und kommt vor Phil zum Stehen.

»Es ist an der Zeit, ... verliere die Welt, erlange die Freiheit.«

Mit einem Mal löst sich Phil aus der Zeitlupenbewegung und schaut sie ruhig an.

»Jetzt erkenne ich dich. Du bist Mina!«

»Ja, und du bist Alex«, erwidert sie. Er nickt.

Ich bin verwirrt. Natürlich ist das Mina, aber wer ist Alex? Phil wendet seinen Blick in das Publikum. Mit einem Ruck springt er plötzlich von der Bühne.

»Es ist nur ein Theaterstück!«, ruft er und rennt durch die Zuschauerreihen. »Nur ein Theaterstück!«

Das Bühnenlicht erlischt. Der Hauptvorhang fällt herab. Es bleibt nur die Dämmerung und totale Stille. Im Theater sind verwirrte und teilweise erschreckte Blicke zu erahnen. Dann, wie die ersten Tropfen eines heraufziehenden Sommerregens, fallen vereinzelte Klatscher; immer mehr stimmen ein, scheinen kurz einen Rhythmus zu finden, bis alles zu einem tosenden Applaus anschwillt. Der Vorhang hebt sich. Die Bühne wird erleuchtet und die aufgereihten Darsteller verbeugen sich. Will springt neben mir auf und macht sich auf dem Weg zur Bühne.

»Ja, das war fraglos ein überraschendes Ende«, bemerkt Maria. »Ich weiß nicht, war es nun ein trauriges oder doch eher hoffnungsvolles Stück?«

Ich bemerke einige Regentropfen auf meinem Arm.

»Angesichts dessen, dass wir hier in der Nähe eines Wasserfalls und nicht eines Vulkans leben, stimmt es mich eher hoffnungsvoll.«

»Ja, es ist eben eine Frage der Perspektive«, erwidert sie und schaut blinzelnd in den Himmel, dann schüttelt sie den Kopf. »Aber ich will die Welt nicht verlieren, ich finde sie gut, so wie sie ist.«

Ihr Gesicht ist so nahe, dass ich ihren Atem spüre.

»Aber nichts ist für immer, alles ändert sich irgendwann.«

Sie lächelt. »Aber im Moment doch nur zum Guten.«

»Ach, da seid ihr ja noch«, höre ich Will hinter mir. »Mina und ich wollen noch in das Lokal vorn am Brunnenplatz. Wollt ihr nicht mitkommen?«

»Sicher«, erwidert Maria.

Das Lokal ist gut gefüllt, wir finden dennoch einen freien Tisch. Mina, immer noch in ihrem weißen Bühnengewand, wird mit einem kleinen Applaus begrüßt, sie lacht herzhaft und wirkt beinahe etwas verlegen. Von einem der anderen Tische tönt ein Lied herüber, sie stoßen mit ihren Gläsern an und brechen in Gelächter aus. Der Regen prasselt auf das Dach der Veranda, die Tropfen ziehen feine senkrechte Linien, die hier und da im Schein der gelben Laternen durch die Dämmerung flirren. Es liegt ein Geruch von frischem Gebäck und Mandeln in der Luft.

»Mina, ich bin über das Theaterstück wirklich erstaunt«, betone ich. »Die Welt von Phil hatte so viel — wie soll ich sagen — Dinge, mit denen wir in Memoria eher nicht vertraut sind, so als ... wenn sich doch jemand wieder erinnert hätte.«

Sie nickt. »Ja, wir haben einiges an Material im Depot gefunden, eine unsagbare Inspirationsquelle, sag ich euch. Wusstet ihr, dass Will die Rolle des Anklägers angeboten wurde? Aber er wollte nicht.«

Will nippt kurz an seinem Getränk.

»Bin halt kein Schauspieler, ... ist quasi nich‘ meine Richtung.«

»Was meinst du mit: im Depot gefunden?«, frage ich. Maria streicht mit dem Finger über den Rand ihres Glases.

»Im Depot sammeln wir alle Gegenstände, die wir so dabei hatten, als wir hier in Memoria aufgewacht sind«, sagt sie.

»Jules hat mir gestern eine Schublade voll mit Handys gezeigt, ... aber das ist nicht das Depot?«

»Nein«, erwidert sie, »die meisten Geräte aus dem Depot sind mittlerweile bei Jules. Keines von ihnen funktioniert mehr, und er wollte herausfinden weswegen. Das Depot befindet sich im Auditorium, es ist ein kleines Zimmer rechts vom Foyer.«

Mina winkt jemandem zu.

»Joseph, kannst du uns noch einen Krug von dem Gerstenwein bringen? Ach, und natürlich einen Mohnkuchen für uns — das wär ganz lieb«, ruft sie. »Wo waren wir? Ach ja, das Depot, dort haben wir auch ein paar alte Bücher. Das Theaterstück basiert freilich nicht direkt auf einem davon, aber die verschiedenen Schauplätze und so einige Ideen — wie die Szene mit der Gerichtsverhandlung — beruhen schon auf der einen oder anderen Geschichte.«

»Und Paul, was befand sich damals in deinen Taschen?«, fragt Will.

»Ich hatte ein Notizbuch dabei. Voll mit Listen und Abkürzungen, die ich nicht recht verstehe. Leider habe ich es wohl irgendwo oben am Wasserfall verloren.«

Maria schmunzelt. »Nun ja, wenn du damit nichts mehr anzufangen weißt, dann kannst du ja auch darauf verzichten.«

Ich merke, wie mir unwohl bei dem Gedanken ist, das Notizbuch aufzugeben. Irgendetwas, irgendein Hinweis könnte dort vielleicht enthalten sein. Joseph taucht mit der Bestellung an unserem Tisch auf.

»Mina, da hast du aber Glück, das ist mein letzter Mohnkuchen für heute«, sagt er und stellt einen großen Teller vor uns ab. Darauf befindet sich ein kreisrunder Kuchen, umgeben von einigen kleinen Schalen, die mit verschiedenfarbigen Soßen gefüllt sind. Will nimmt sich ein Stück und tunkt es in eine der Schalen.

Mina lacht. »Wie süß von dir, dass du mir immer einen zurückhältst. Übrigens, ich hab ganz neue Stoffmuster, die passen vorzüglich zu deiner Einrichtung. Komm einfach vorbei«, sagt sie und prostet ihm zu.

Will zeigt auf das dunkelbraune Gebäck.

»Paul, probiere ein Stück mit der Pilzsoße, das ist so lecker ...«

»Pilzsoße? Naja, solange sie nicht aus dem Depot kommt.«

Ich nehme ein kleines Stück, tunke es in die Soße und koste davon.

»Also«, sagt Will zögerlich, »quasi ... kommt sie schon von dort.«

Ein leicht fauliger Geschmack breitet sich im Mund aus, und ich schlucke das Stück widerwillig herunter. Es bleibt mir im Hals stecken, und ich muss husten.

»Das Rezept meine ich natürlich, nicht die Pilze«, fügt Will hinzu.

»Die Soße ... schmeckt wirklich wie hundert Jahre alt«, erwidere ich räuspernd.

Mina fängt schallend an zu lachen, und kurz darauf lachen wir alle. Maria meint, dass sie die Pilzsoße auch widerlich finde und ich es mit der Honigsoße probieren solle. Nachdem ich sie koste, verstehe ich, warum der Mohnkuchen hier so beliebt ist. Auch wenn die dunkelbraune, körnige Struktur dem ähnelt, was ich mit Mohnkuchen verbinde, scheint der Geschmack nicht dazu zu passen. Er ist fruchtig, herb und besitzt eine süße Schärfe, die mich an Zimt erinnert.

Wir diskutieren über das Theaterstück und stellen fest, dass jeder eine andere Auffassung davon hat. Für Mina war es ein Riesenspaß. Will meint, dass er es sehr spannend fand und sich frage, ob Phil nicht hinunter zum Baum hätte tauchen können. Maria mochte das Ende nicht, es hätte die Leute zu sehr erschreckt. »Phil hat einmal zu viel die Welt verloren«, meint sie. Ich erwidere, dass ich es gerade deswegen so gut fand und es zum Nachdenken anregt, da Phil mit jedem Verlust auch immer etwas gewonnen hatte.

Der Kuchenteller leert sich schnell, und Joseph schenkt uns von dem Wein nach. Ich erzähle, dass ich an Marias Grübchen erkennen kann, ob sie gleich lachen wird.

»So wie zum Beispiel jetzt!«, meine ich.

Die Blicke springen zu Maria, und sie lächelt breit. Mina winkt ab und wirft ein, dass sie an Wills Ohren erkennen könne, ob er gleich niesen werde. Dann schaut sie betont auf sein Ohr und meint: »Nein, wird er nicht.«

Will blickt sie verwirrt an.

»Seht ihr!«, meint sie schließlich.

Wir brechen wieder in Gelächter aus. Ich nehme mein Glas und lehne mich zurück. Eine wohlige Stimmung breitet sich in mir aus. Es ist einer dieser Abende, die nie zu Ende gehen sollten. Solche Momente müsste man einrahmen und ins Bona-Fama stellen, damit sie jeder erleben kann.