Die Entdeckung des Nordpols

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DAS WERK, »FÜR DAS MICH GOTT DER ALLMÄCHTIGE AUSERWÄHLT HAT«

Peary war wie gelähmt. Über Nacht musste er befürchten, dass ein Mitbewerber um das Endziel ihm, dessen Name – beinahe – »überall in Kreisen der Kultur und Bildung als Sesam-öffne-dich« wirkte, den Rang ablaufen könnte. Im Nu stünde er im Schatten Dr. Cooks, sein Image würde verblassen und demnächst vergessen sein, zwanzig Jahre Schinderei wären für nichts darangegeben, sein Leben verpfuscht – ja, vom Schöpfer selbst um den Erfolg gebracht. Denn hatte Peary nicht seinem Gönner im White House offenbart: »Ich glaube daran, dass ich diesmal siegen werde; wie ich daran glaube, dass dieses das Werk ist, für das mich Gott der Allmächtige auserwählt hat«?

Dann besann sich Peary auf das, was ihn »bei Anwendung seiner Methoden« auf 87° 06’ gebracht hatte, und fuhr noch einmal hinaus. Am 6. Juli 1908. Vom Pier an der vierundzwanzigsten Straße in New York. »Es war dies für mich die letzte Möglichkeit, den Traum meines Lebens in die Wirklichkeit umzusetzen.«

Er schlug den gewohnten »Imperial Highway« ein. Und als er in Etah, am Ostufer des Smith-Sunds, auf eine Kate stieß, von der die Eskimos erzählten, sie gehöre Dr. Cook, nagelte er einen Zettel an die Tür, und der besagte: »Dr. Cook ist lange tot.« Danach ging es weiter, wie vor drei Jahren, bis er am 5. September Kap Sheridan auf der Ellesmere-Insel erreichte. Die »Roosevelt« wurde winterfest gemacht und anschließend wurde – diesmal noch fünfzig Kilometer hinter Point Moss – bei Kap Columbia Verpflegung gebunkert, am »nördlichsten Ende von Nordamerika«. Dann kam Weihnachten, kam Silvester. Und als die bärtige Runde in Robert Burns’ traditionellem Lied zum Jahresausklang Auld Lang Syne (1797) die Verse sang, mit denen alter Gefährten gedacht wird – »Should auld acquaintance be forgot,/And never brought to mind?« –, dürfte nicht einmal der inbrünstigste Todeswunsch Peary von der Angst befreit haben zu wissen, dass hier oben irgendwo Dr. Cook herumspukte. Deshalb war Eile geboten.


Im Nebel sind alle Pole weiß ... oder: Das Hauen und Stechen zwischen Peary und Cook um den ersten Nordpolbesuch wird auf dieser französischen Karikatur aus dem Jahre 1909 von Pinguinen verfolgt, die es nur am Südpol gibt

Am 15. Februar 1909 ging es los. Sechsundzwanzig Nordpolstürmer, achtundzwanzig Schlitten und einhundertvierzig Hunde und kein Kajak. Im steten Schrittmachen, Depot-Anlegen und Aufrücken entstand ein Rhythmus des Avancements, aus dem indessen immer öfter Teilnehmer ausscheiden mussten. Entweder hatten sie sich verletzt oder waren erschöpft oder wiesen Erfrierungen auf. Als sie am Ende auf eine Höhe von 87° 47’ geklommen waren und Peary und Henson nur noch vom Kapitän der »Roosevelt« Robert Abram Bartlett und dessen Tross begleitet wurden, schickte Peary den Letzten, der außer ihm Observationen vornehmen konnte – eben Bartlett – zurück. Er wollte die via triumphalis allein betreten (dass der Schwarze sowie die vier Eskimos Etschingwäh, Sieglu, Uquiäh und Utäh für ihn dabei nicht zählten, gab er später unumwunden zu).

Vor ihm lagen zweihundertvierzig Kilometer. Und hatte er bisher im Durchschnitt pro Tag an die zwanzig Kilometer über Packeisblöcke und um Rinnsale herum geschafft – wobei es schon einmal zu einem Maximum von sechsunddreißig Kilometern kommen konnte –, wuchs seine Leistung im selben Augenblick auf über das Doppelte an, als er keinen fachkundigen Zeugen mehr hatte. Und das, obwohl er stellenweise Barrieren von fünfzehn Metern Höhe überklettern musste, mehrfach ins Wasser stürzte, sich am Fuß verletzte, daher zeitweilig auf einen Schlitten gelegt ward und sich am 3. April seinen Weg nur mit Spitzhacken freihauen konnte. Eine Magical MysteryTour!

Sie endete nach Pearys Auskunft am 6. April 1909 damit – dass er ein Nickerchen machte.

Er hatte in der Frühe 89° 57’ gemessen. Dann war er so ermattet, dass er in ein von Henson und den Eskimos gebautes Iglu kroch, um zu schlafen. Noch fehlten fünfeinhalb Kilometer bis zum Ende des Weges. Aber was war das für eine lächerliche Entfernung angesichts der bisherigen Distanzen! »Das Erste, was ich nach dem Erwachen tat, war, folgende Worte in mein Tagebuch zu schreiben: ›Endlich der Pol. Der Preis von drei Jahrhunderten. Mein Traum und Ziel seit zwanzig Jahren. Endlich mein! Ich kann es noch nicht begreifen. Es scheint alles so einfach und selbstverständlich.‹«

Das Einzige, das sich bei Pearys »Eroberung des Nordpols« hieb- und stichfest beweisen lässt, wirklich das Einzige ist: dass der hier gedruckte Wortlaut nicht mit dem ursprünglichen übereinstimmt. Der war länger gewesen und hatte zum Beispiel statt von »Ziel« von »Ehrgeiz« gesprochen. Obendrein war er nicht in das Tagebuch eingetragen, sondern stand auf einem losen Blatt, das zwischen die leeren Seiten vom 6. und 7. April gelegt – aber dort auch nicht herausgerissen – war.

Die sonstigen Umstände seiner Aneignung der »Welttrophäe« liegen nicht nur im Zwielicht, sondern in Stockfinsternis.

Räumt man ihm die Steigerung seines Marschtempos ein, so besagt dies noch gar nichts über das Einlaufen im Ziel, weil Pearys Positionsbestimmung willkürlich war. Genauso wenig wie irgendjemand die von ihm publizierten Daten bestätigen kann, ist es möglich nachzuweisen, dass er sie ermittelt hat und wo die präsentierten Notizen angefertigt wurden. Eine Posse sondergleichen ist es zudem, dass Peary die Nachwelt glauben machen wollte, er sei die ganze Zeit über unbeirrt von jeglicher Drift, von Fehlgängen und Umwegen um Schneeklüfte und Eisschroffen – und ohne eine Missweisungstabelle – mit nachtwandlerischer Sicherheit auf 70° westlicher Länge, das heißt: aufjenem Meridian nach Norden gelaufen, der von Kap Columbia zum Pol geht. Gefragt, was er sich dabei gedacht habe, gab er zur Antwort: »Meiner Meinung nach waren wir imstande, unsern Kurs zu halten. Unter den Bedingungen, die dort herrschten, wäre jeder Versuch, Longitudinal-observationen vorzunehmen, eine Zeitverschwendung gewesen.«

Es war halt ein Wettlauf. Aber im Freestyle ...

Von »Camp Jessup« aus zog Peary kreuz und quer umher, um sicher zu sein, den Nordpol auch berührt zu haben. Dann ging es südwärts, wobei er den Runway, auf dem er sein Tempo beim Anrücken verdoppelt hatte, nicht mehr nur in fünf, sondern in drei Tagen bewältigte. »Kein Mensch in der Geschichte der Polarforschung«, schreibt Theon Wright in seiner Analyse The Big Nail. The Story of the Cook-Peary Feud (»Der Große Nagel. Die Story der Cook-Peary-Fehde«; 1970) »hat jemals auf Dauer vergleichbare Schnelligkeiten erreicht, noch dazu über Meereis.« Kein Mensch vor Peary und kein Mensch nach ihm!


Ende oder Ente? Der New York Herald verkündete jedenfalls am 7. September 1909 Pearys Triumph.

Am 23. April waren die sechs wieder am Kap Columbia und nach weiteren vier Tagen auf der »Roosevelt«. Dort machte Peary eine merkwürdige Aufzeichnung: »Der Captain [Bartlett] kam von 87° 47’ in vierundzwanzig Tagen hierher. Ich kam von -- -- in zwanzig Tagen (achtzehn Märschen) hierher.« Das deckte sich mit der Beschriftung von Pearys Logbuch für das Jahr 1909. Sie lautet: »Nr. 1, von der ›Roosevelt‹ bis -- -- und zurück, 22. Februar bis 27. April, R. E. Peary, United States Navy.«

Mochte Peary also vorläufig offen lassen, woher er von seiner letzten Expedition heimkehren würde – am 5. September 1909 musste er sich entscheiden. Da lief die »Roosevelt« in Indian Harbour auf Labrador ein, und er erfuhr, dass Dr. Cook behauptete, am 21. April 1908 am Nordpol gewesen zu sein. Verzweifelt kabelte Peary daraufhin seiner Frau: »I have the D. 0. P. [damned old Pole].« Ich! Ich! Ich!

Peary? Oder Cook? Oder beide? Oder keiner? Das ist bis heute das Rätsel, obwohl sich Peary bemühte, die Lösung in seinem Buch Die Entdeckung des Nordpols zu geben. In seinem?

Verfasst hat es im Wesentlichen der New Yorker Journalist Albert Ellsworth Thomas, der jüngst ein Drama mit dem Titel Her Husband’s Wife (»Die Frau ihres Gatten«; 1910) zur Aufführung gebracht hatte und sich später mit Stücken wie Come out of the Kitchen (»Komm raus aus der Küche«; 1916) einen bescheidenen Ruf erwerben sollte. Im Todesjahr Pearys, 1920, veröffentlichte er das Schauspiel The Champion.

WAS IST »DIE EROBERUNG DES NORDPOLS«?

»Thomas’ Tätigkeit«, beschwor Peary am 12. Juli 1910 seinen Verleger Frederick Stokes, »muss absolut geheim bleiben.« Er sprach das Problem an, das einer hat, der Mitwisser besitzt.

Infolgedessen wurde aufgedeckt, dass ›seine‹ Reportage The Discovery of the North Pole (»Die Entdeckung des Nordpols«) in HAMPTON’S MAGAZINE vom Sommer 1910 von der Ghostwriterin Elsa Barker geschrieben war. Und so kam zu guter Letzt auch Thomas’ Manuskript zu ›seinem‹ Buch zum Vorschein.

Wally Herbert hat in seiner grandiosen Peary-Biografie eine Passage aus jener Druckvorlage wiedergegeben, die die Arbeitsweise von Albert Ellsworth Thomas illustriert.

Da der »ganz und gar nicht zufrieden« war mit dem, was ihm Peary an Informationen über seine Rast am Pol geliefert hatte, setzte er zeilenschindend zu einem Kitsch an, in dem die in der Eiswüste verlassen baumelnden Stars and Stripes das Letzte sind, was Peary bei der Umkehr vom Nordpol sehen kann. Das kam, wie eine Anmerkung des Lektors demonstriert, dem Verlag nun doch zu bunt vor, weshalb Peary es tilgte. Genauso wie er – allerdings ohne Anstoß seines Publishers – aus Thomas’ Resümee, am 6. April 1909 sei ein Unterfangen vollendet worden, an dem »ich und andere« viele Jahre gearbeitet haben, die Wörter »und andere« strich.

 

Die Entdeckung des Nordpols verdankt ihre Entstehung der Vorstellungskraft von Albert Ellsworth Thomas. Die war zwar aufgebaut worden mit Hilfe der Skizzen und Korrekturen ihres vorgeblichen Urhebers, bleibt jedoch als nomineller Text aus der Feder von Robert Edwin Peary eine Fälschung – und just deshalb authentisch und ihrem Thema adäquat.

Gibt doch die Aura des Fiktiven, welche die Taten jenes Hercules redivivus umweht, auf subtile Weise Erfahrungen von dort wieder, wo alles diffus ist und vage und fließend ... wo jede Wahrnehmung zu einer Großen Impression verschmilzt. Der deutsche Arktis-Reisende Freddy Langer schrieb einmal nach der Rückkehr aus dem ewigen Eis: »Der Nordpol [...] ist die Phantasie in ihrem festen Aggregatzustand, die einzige überzeugende Verkörperung des Begriffs Idee.« Dem entspricht Die Entdeckung des Nordpols. Sie ist ein moderner Mythos und als solcher ein Appell an unsere Imagination.

Daher spannen wir jetzt die Schlittenhunde an und brechen mutig auf, um im Reiche des Saturn den Schatz zu heben, den

»Die Sterblichen nimmer entdecken«.

Detlef Brennecke

* Die beiden folgenden Abschnitte orientieren sich an dem Kapitel »›Das Erste ist die Lust an Kampf und Ruhm‹ oder: Eine kleine Vorgeschichte der Erforschung der Arktis« in meiner Biografie über Roald Amundsen (Reinbek bei Hamburg 1995) [Anmerkung des Herausgebers].

ROBERT E. PEARY

DIE ENTDECKUNG DES NORDPOLS

DER PLAN

Man könnte wohl die Erreichung des Nordpols mit dem Gewinnen eines Schachspiels vergleichen, in dem alle die verschiedenen Züge, welche zu dem günstigen Schluss führten, lange, ehe das gegenwärtige Spiel begann, im Voraus überlegt worden waren. Es war für mich ein altes Spiel, ein Spiel, das ich dreiundzwanzig Jahre mit wechselndem Glück gespielt hatte. Immer war ich freilich geschlagen worden; aber mit jeder Niederlage erhielt ich neue Kenntnis von dem Spiel, seinen Verwicklungen, seinen Schwierigkeiten, seinen Feinheiten, und mit jedem neuen Versuch kam der Erfolg etwas näher. Was früher unmöglich oder im besten Falle äußerst zweifelhaft erschienen war, begann den Anschein von Möglichkeit anzunehmen und zuletzt gar von Wahrscheinlichkeit. Alle Niederlagen wurden in jeder Beziehung auf ihre Ursachen hin untersucht, bis es möglich wurde zu glauben, dass diese Ursachen in Zukunft vermieden werden könnten und dass bei etwas gutem Glück das verlorene Spiel von fast einem Vierteljahrhundert in einen endlichen vollkommenen Erfolg verwandelt werden könnte.

Aber wenn es auch wahr ist, dass man die Entdeckung des Nordpols mit einem Schachspiel vergleichen kann, soweit Plan und Methode in Betracht kommen, so gibt es doch natürlich einen offensichtlichen Unterschied. Beim Schach kämpft Geist gegen Geist; bei der Eroberung des Pols aber war es ein Kampf von menschlichem Geist und menschlicher Ausdauer gegen die blinden, wilden Gewalten der Elemente, die oft unter fast unbekannten oder nur wenig von uns verstandenen Gesetzen und Impulsen handelten, die uns deshalb vielfach launisch und grillenhaft und nicht mit einiger Sicherheit vorherzusehen erschienen. Während ich also wohl die Hauptzüge meines Angriffes auf den eisigen Norden planen konnte, ehe wir von New York abfuhren, war es nicht möglich, alle Züge der Gegenseite vorherzusehen. Wäre dies möglich gewesen, dann hätte schon meine Expedition von 1905 bis 1906, die bis zu dem damals fernsten Nordpunkt von 87° 06’ gelangte, den Pol erreicht. Aber jeder, der mit den Ereignissen jener Expedition vertraut ist, weiß, dass ihr völliger Erfolg durch einen von jenen nicht vorherzusehenden Zügen unseres großen Gegners vereitelt wurde. Ungewöhnlich heftige und anhaltende Winde zerbrachen das polare Packeis, trennten mich mit ungenügenden Nahrungsmitteln von meinen Hilfsabteilungen, sodass ich umkehren musste, weil die Gefahr des Verhungerns drohte, gerade als das Ziel in erreichbare Nähe kam.

In Anbetracht der Art und Weise, in welcher der endliche Erfolg meine Prophezeiungen rechtfertigte, mag es vielleicht von Interesse sein, in einiger Ausführlichkeit den Feldzugsplan in Vergleich zu ziehen, den ich mehr als zwei Monate vor der Abreise der »Roosevelt« aus New York auf ihrer letzten Reise nach dem Norden bekannt gemacht hatte, mit der Art und Weise, in der dieser Feldzug nun auch wirklich ausgeführt wurde.

Anfang Mai 1908 skizzierte ich in einem veröffentlichten Rechenschaftsbericht den folgenden Plan:

»Ich werde dasselbe Schiff, die ›Roosevelt‹, benutzen, werde New York Anfang Juli verlassen, werde die gleiche Route einschlagen, Sydney (Kap Breton-Insel), Belle-Isle-Straße, Davis-Straße, Baffin-Bai und Smith-Sund, werde dieselben Methoden, Ausrüstungsgegenstände und Nahrungsmittel benutzen, werde eine kleine Anzahl von weißen Männern haben, die wir durch Eskimos ergänzen, werde diese Eskimos und Hunde wie früher in der Gegend des Walfischsundes aufnehmen und werde versuchen mein Schiff bis zu denselben oder doch ähnlichen Winterquartieren an der Nordküste von Grant-Land hinaufzuzwingen, alles gerade so wie im Winter 1905/06.

Der Schlittenmarsch wird wie zuvor im Februar beginnen, aber meine Marschroute wird folgendermaßen abgeändert werden: Zuerst werde ich der nördlichen Küste nach Westen bis zum Kap Columbia, möglicherweise auch noch weiter folgen, statt das Land schon bei Point Moß zu verlassen, wie ich es ehemals getan hatte.

Zweitens: Sobald wir das Land verlassen haben, wird mein Kurs mehr nach Nordwesten gehen als früher, um zu vermeiden oder, wenn man will, in Anschlag zu bringen den östlichen Bruch des Eises zwischen der Nordküste des Grant-Landes und dem Pole, den ich auf meiner letzten Expedition entdeckt hatte. Eine andere wesentliche Änderung wird eine energische Beisammenhaltung meiner Schlittenabteilungen auf dem Marsche sein, um zu verhindern, dass ein Teil der Expedition von den Übrigen abgetrennt wird und dann ungenügende Nahrungsmittel hat, um einen lang ausgedehnten Vorstoß zu machen – wie es mir ja bei der letzten Expedition ging.

Ich hege keinen Zweifel, dass jene Große Rinne (eine Straße von offenem Wasser), die ich bei meiner letzten Expedition auf dem Hinmarsch und dem Rückmarsch traf, ein wesentliches und dauerndes Merkmal von diesem Teil des arktischen Ozeans ist. Ich habe wenig Zweifel, dass ich diese Rinne anstatt der Nordküste des Grant-Landes mit voll beladenen Schlitten werde zum Ausgangspunkt wählen können. Ist dies geschehen, so wird es den Weg nach dem Pol um einhundertfünfzig Kilometer abkürzen und die Sache entschieden vereinfachen.

Bei dem Rückmarsch werde ich bei der nächsten Expedition voraussichtlich das freiwillig tun, was ich das letzte Mal unfreiwillig tat, d. h. ich werde mich auf die Nordküste von Grönland zurückziehen, anstatt zu versuchen an die Küste des Grant-Landes zurückzukommen. Ein Zusatz zu diesem Programm wird voraussichtlich die Errichtung eines Depots auf der Nordküste Grönlands sein, das die erste Hilfsabteilung, welche zum Schiff zurückkehrt, anzulegen hat.«

Die hauptsächlichsten Charakteristika dieses Programms fasste ich folgendermaßen zusammen:

»Erstens die Benutzung des Weges durch den Smith-Sund, der so genannten ›Amerika-Route‹. Diese Route muss heute als der beste von allen möglichen Wegen für einen ernsthaften Angriff auf den Pol bezeichnet werden. Ihre Vorteile liegen in einer Festlandbasis, die einhundertfünfzig Kilometer näher an den Pol heranreicht, als es an irgendeinem anderen Punkte der ganzen Peripherie des arktischen Ozeans vorkommt, einer langen Strecke Küstenlinie, auf der man seinen Rückmarsch nehmen kann, und eine sichere und (mir wenigstens) wohl bekannte Rückzugslinie, die von jeder Hilfe unabhängig macht, falls dem Schiff ein Unglück zustoßen sollte.

Zweitens die Wahl einer Winterbasis, die einen größeren Bezirk des inneren Polarmeeres und seiner umgebenden Küsten beherrscht. Kap Sheridan ist tatsächlich ebenso weit entfernt vom Crockerland als von dem bis jetzt noch unbekannten Teil der nördlichsten Küste von Grönland und von dem von mir im Jahre 1906 erreichten äußersten Nordpunkte.

Drittens die Benutzung von Schlitten und Eskimohunden. Männer und Eskimohunde sind nämlich die einzigen so anpassungsfähigen Maschinen, dass sie die großen Anforderungen und Zufälligkeiten arktischer Arbeit ertragen. Luftschiffe, Kraftwagen, abgerichtete Eisbären usw. sind alle ungeeignet, ausgenommen als Mittel, die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen.

Viertens die Benutzung der hyperboräischen Eingeborenen, der Eskimos des Walfischsundes für die Schlittenarbeit. Es erscheint unnötig, die Tatsache besonders hervorzuheben, dass Männer, deren Erbschaft, Leben und Arbeit gerade in jener Gegend ist, das beste Material für das Personal einer ernsthaften arktischen Expedition sein müssen. Dies ist mein Programm. Der Gegenstand des Werkes ist die Aufklärung oder wenigstens die Festlegung in den allgemeinen Zügen der noch übrigen großen Probleme in dem amerikanischen Teil der Polargegenden und die Eroberung jener großen Welttrophäe, welche während der letzten drei Jahrhunderte der Gegenstand von Anstrengung und Wetteifer unter tatsächlich allen zivilisierten Nationen der Welt gewesen ist, für die Vereinigten Staaten.«

Und nun vergleiche man diesen Plan mit der Ausführung. Wie es geplant worden war, reiste die Expedition von New York Anfang Juli 1908, genau am 6. Juli, ab. Sie fuhr von Sydney am 17. Juli, von Etah am 18. August ab und kam in Kap Sheridan, dem Winterquartier der »Roosevelt«, am 5. September an. Bis auf eine Viertelstunde genau waren wir an derselben Stelle drei Jahre vorher angekommen. Der Winter wurde angewendet zu Jagden, zu verschiedenen Ausflügen, zur Herstellung der Ausrüstung für unsere Schlittenreise und zum Transportieren von Nahrungsmitteln von der »Roosevelt« längs der nördlichen Küste des Grant-Landes nach Kap Columbia, das unser Ausgangspunkt vom Lande auf unserer Polarreise selbst sein sollte.

Die Schlittenabteilungen verließen die »Roosevelt« vom 15. bis 22. Februar 1909, trafen sich in Kap Columbia, und am 1. März verließ die Expedition dies Kap und marschierte über das Polarmeer dem Pole zu. Der 84. Breitengrad wurde am 18. März überschritten, der 86. am 23. März: den italienischen Rekord schlugen wir am nächsten Tag. Den 88. Breitengrad erreichten wir am 2. April, den 89. am 4. April, und am Nordpol war ich am 6. April zehn Uhr morgens. Hier am Pol blieb ich dreißig Stunden mit Matt Henson, Utäh, dem treuen Eskimo, der im Jahre 1906 mit mir bis auf 87° 06’, damals dem fernsten Nordpunkte, gegangen war, und drei anderen Eskimos, die ebenfalls auf früheren Expeditionen bei mir gewesen waren. Wir sechs verließen auf der Rückreise den so viel ersehnten Pol am 7. April und erreichten das Land in Kap Columbia wieder am 23. April.

Die außerordentliche Schnelligkeit der Rückreise muss der Tatsache zugeschrieben werden, dass wir nur unsere alte Spur wieder aufzunehmen und keine neue zu machen hatten, und weil wir so glücklich waren nicht aufgehalten zu werden. Ausgezeichnete Bedingungen von Eis und Wetter trugen ebenfalls dazu bei, nicht zu erwähnen die Tatsache, dass die Freude des Erfolges unseren rot gelaufenen Füßen Flügel verlieh. Freilich, Utäh, der Eskimo, hatte seine eigene Erklärung. Er sagte: »Der Böse Geist schläft oder hat mit seinem Weibe Ärger, sonst würden wir nicht so leicht zurückgekommen sein.«

Bei dieser Zusammenstellung fällt auf, dass tatsächlich nur in einem einzigen Punkte von dem Plan wesentlich abgewichen wurde, und zwar, indem wir nach Kap Columbia an der Küste des Grant-Landes zurückkehrten, statt weiter östlich nach der Nordküste von Grönland zu gehen, wie ich es im Jahre 1906 getan hatte. Diese Änderung wurde aus guten Gründen, die später klargelegt werden sollen, vorgenommen. Auf meiner Reise liegt nur ein Schatten, und zwar ein recht tragischer. Ich denke dabei an den beklagenswerten Tod von Prof. Ross G. Marvin, der am 10. April, vier Tage, nachdem der Pol erreicht worden war, auf der Rückkehr 86° 38’ nördlicher Breite als Führer einer der Hilfsabteilungen zweiundsiebzig Kilometer nördlich von Columbia ertrunken ist. Mit dieser traurigen Ausnahme ist die Geschichte der Expedition ohne Flecken. Wir kehrten in unser Schiff zurück, zerschlagen, aber unverletzt, in ausgezeichneter Gesundheit und mit dem Protokoll eines völligen Erfolges.

 

Ohne die Hilfe unserer treuen Eskimos hätten wir schwerlich Erfolg gehabt; und auch mit ihnen würden wir ihn nicht gehabt haben ohne unsere Kenntnis ihrer Fähigkeiten in Bezug auf Arbeit und Ausdauer und ohne das Vertrauen, das jahrelange Bekanntschaft sie gelehrt hatte in mich zu setzen. Ganz gewiss hätten wir auch ohne die Eskimohunde keinen Erfolg gehabt, welche die Zugkraft für unsere Schlitten lieferten und uns so in den Stand setzten, unsere Nahrungsmittel dahin zu schaffen, wohin keine andere Kraft der Erde sie mit der nötigen Eile und Sicherheit geschafft haben könnte. Es kann auch sein, dass wir nicht erfolgreich gewesen wären ohne den verbesserten Schlitten, den ich konstruieren konnte, der in seinem Bau Kraft, Leichtigkeit und bequemes Fortbringen vereinigte und die schwere Aufgabe der Hunde sehr viel leichter machte, als sie ohne das gewesen wäre. Es kann auch sein, dass es uns misslungen wäre, hätten wir nicht solch ein einfaches Ding wie einen verbesserten Wasserkocher gehabt, den ich glücklich genug war auszudenken. Durch seine Hilfe waren wir in der Lage, in zehn Minuten Eis zu schmelzen und Tee zu machen. Auf unseren früheren Reisen hatte dies eine Stunde in Anspruch genommen. Tee aber ist eine absolute Notwendigkeit auf solch einer Schlittenreise, und diese kleine Erfindung sparte jeden Tag eineinhalb Stunden, während wir auf jener Reise dem Pol zustrebten, wo Zeit die Vorbedingung des Erfolges war.


Eskimo mit Schlittengespann

Jede nur mögliche Zufälligkeit, die mich Jahre von Erfahrungen zu erwarten gelehrt hatten, war vorgesehen worden, jeder schwache Punkt wurde bewacht, jede Vorsicht geübt. Ich hatte ein Vierteljahrhundert das arktische Spiel Eskimo mit Schlittengespann gespielt. Ich war dreiundfünfzig Jahre alt, ein Alter, über das hinaus vielleicht, mit einziger Ausnahme von Sir John Franklin, kein Mann je versucht hatte im Gebiet der Arktis zu arbeiten. Ich war ein wenig über den Höhepunkt meiner Kraft hinaus, es fehlte mir vielleicht ein wenig an der überschäumenden Elastizität und dem Elan jüngerer Jahre; aber diese Beeinträchtigungen wurden vielleicht völlig ausgeglichen durch eine geübte und abgehärtete Ausdauer, eine vollkommene Kenntnis meiner selbst und wie ich meine Kraft bewahren konnte. Ich wusste, es war mein letztes Spiel auf dem großen arktischen Schachbrett. Es hieß diesmal gewinnen oder für immer geschlagen sein.

Der Reiz des Nordens! Er ist ein sonderbares und mächtiges Ding. Mehr als einmal bin ich von den großen Eisgefilden zurückgekommen, zerschlagen und verbraucht und verspottet, zuweilen zum Krüppel gemacht, sodass ich mir selbst sagte, ich hätte meine letzte Reise hierher gemacht, begierig nach der Gesellschaft der Menschen, den Annehmlichkeiten der Zivilisation, dem Frieden und der Heiterkeit der Heimat. Aber es vergingen immer nur wenige Monate, bis das alte Gefühl ungeschwächt wieder über mich kam. Die Zivilisation begann für mich ihren Reiz zu verlieren.

Ich sehnte mich nach der großen weiten Wüste, den Kämpfen mit dem Eis und dem Sturm, der langen, langen arktischen Nacht, dem langen, langen arktischen Tag, der Hand voll von seltsamen, aber treuen Eskimos, die jahrelang meine Freunde gewesen waren, dem Schweigen und der Unermesslichkeit des großen, weißen, einsamen Nordens. Und ich ging also zurück. Einmal nach dem andern, bis zuletzt mein jahrelanger Traum Wirklichkeit wurde.