Die Entdeckung des Nordpols

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»ICH HABE DEN WUNSCH, MIR EINEN NAMEN ZU MACHEN«

Robert Edwin Peary wurde am 6. Mai 1856 in Cresson unweit von Pittsburgh im amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania als einziges Kind des Küfers Charles Peary und dessen Ehefrau Mary geboren. Die Eltern waren 1858 kaum in das ebenfalls in Pennsylvania liegende Gallitzin umgesiedelt, da starb der Vater im Januar 1859. Seine Witwe kehrte daraufhin mit ihrem noch nicht dreijährigen Sohn in die nordöstlichste Ecke der USA zurück, nach Maine, woher sie stammte. Erst in Cape Elizabeth bei Portland, dann in dieser Hafenstadt selbst sowie im nahen Gorham wuchs Robert Edwin Peary nun heran. Er besuchte die Elementary School, als Nächstes eine private Boarding School und hinterher die High School, die er 1873 verließ, um am Bowdoin College in Brunswick, Maine, zu studieren. Nachdem er dort sein Examen als Zivilingenieur abgelegt hatte, schrieb er seiner Freundin Mary Kilby am 10. Oktober 1877 einen Brief, in dem es hieß: »Ich möchte gerne eine so anziehende Wesensart entwickeln, dass die Leute, wenn ich einmal mit ihnen zusammen war, immerfort Gefallen an mir finden – ob sie wollen oder nicht.«

Er selbst freilich behielt sich vor, seine Gunst nach Gutdünken zu gewähren oder zu entziehen. Und so versprach er Mary Kilby 1878 noch die Ehe, löste das Verlöbnis aber schon im folgenden Jahr wieder auf. »Die Vergangenheit ist tot!«, jubelte er: »Vive la future!«

Er hatte eine Anstellung als Landvermesser beim United States Coast and Geodetic Survey in Washington gefunden, von seinem ersten Gehalt eine der dreihundertfünfundsechzig Inseln in der Casco-Bai vor Portland erworben und im Was-kostet-die-Welt-Überschwang den Entschluss gefasst, sich zu Vorarbeiten für einen Kanal zwischen dem Atlantischen und Pazifischen Ozean nach Nicaragua versetzen zu lassen. Er wollte ein Bahnbrecher werden, ein Wegbereiter ... Southward Ho! »Ich habe den Wunsch«, gestand er seiner Mutter am 16. August 1880, »mir einen Namen zu machen, der überall in Kreisen der Kultur und Bildung als Sesam-öffne-dich wirkt.« Obwohl er trotz des hämmernden Einsatzes von Begriffen wie »glory«, »pride« und »fame« nicht das Plazet Mary Pearys bekam, reiste er – nunmehr in Diensten der United States Navy – Ende 1884 von New York ab, um bis April 1885 das Terrain für den Durchstich im Dschungel zu sondieren. Ein Weltwunder war auf den Messtischblättern zu entwerfen, ein Denkmal des menschlichen Gestaltungswillens. Goethe hatte bereits ein halbes Jahrhundert zuvor darüber sinniert, dass derlei »einem großen Unternehmungsgeiste vorbehalten« sei.

Einen solchen wollte Peary verkörpern. Dass Ereignisse in Mittelamerika dabei zum zweiten Mal Aktivitäten in der Arktis evozierten, gehört zu den Quantensprüngen der Evolution. Denn so wie einst die Nachricht davon, dass Balboa auf der anderen Flanke des Isthmus in ein fremdes Meer hinausgewatet war, letztlich die Suche nach der Nordwestpassage ausgelöst hatte, so pflanzte jetzt die Erinnerung daran, dass Kolumbus durch seine Ankunft in der Karibik Unsterblichkeit erlangt hat, den Keim zur Sehnsucht Pearys nach dem Nordpol, wo gleicher Ruhm zu ernten sei.

Am 28. Dezember 1884 schilderte der Zweiunddreißigjährige seiner Mutter die Vorbeifahrt an San Salvador: »Die Insel blieb im Südwesten zurück, später ging die Sonne prachtvoll dahinter unter. Die lange niedrige Küste mit ihren einzelnen Klippen und Kaps trat deutlich hervor – ein purpurnes Relief vor dem gelben Himmel: die Wiege der Neuen Welt, das Eiland, das als Erstes die Augen von Kolumbus erfreut hat, purpurn gegen den gelben Sonnenuntergang, so wie vor fast vierhundert Jahren, als es lächelnd jenen Mann willkommen hieß, dem in seinem Nimbus alleinig der noch ebenbürtig sein kann, welcher eines Tages dasteht und dreihundertsechzig Längengrade unter seinem ruhenden Fuß hält... Ost und West werden für ihn nicht mehr existieren: für den Entdecker des Nordpols.«

Dieses Dokument, so beiläufig es daherkommt, liefert den Schlüssel für Pearys ganzes Wirken. Hervorgegangen ist es aus dem Traum, ein Heros zu werden – an American Hero –, kein Humboldt und kein Lesseps, kein Weltbaumeister und kein Forscher, sondern ein Held-an-sich, ein Macher – entwachsen aus betörender Rede ... eine Fleisch gewordene Sagengestalt.

Nein, Nicaragua bot trotz seines martialischen Ambientes kein Vorfeld zur Vergötterung! Das Aufmarschrevier lag dort, wohin der Polarstern im Wappen von Maine wie ein Lockmittel weist: im Norden. Also tat Peary zwar fürs Erste seinen Job im Urwald und kehrte sogar im November 1887 für mehrere Monate dahin zurück; doch was ihn seit jenem Abend vor San Salvador bewegte und beherrschte, besessen und verrückt machte, das war der Trieb, das Reich des Saturn aufzusuchen.

Der Grönland-Trip von 1886 auf der »Eagle« wurde ein Testlauf: der Prolog zu einem rätselvollen Abenteuer – und vorausdeutend! Denn nachdem Peary heimgekehrt war und 1887 im Bulletin of the American Geographical Society geschildert hatte, wie er mit dem Dänen Kristian Maigaard oberhalb der Disko-Bai einhundertsechzig Kilometer ins Inlandeis gewandert war, ergab die Überprüfung der Auskünfte des Landvermessers a. D. durch Fridtjof Nansen, dass die relevanten Informationen durchweg nicht stimmten. Im zweiten Band seines Berichts Auf Schneeschuhen durch Grönland (1890) bemängelte er, dass Pearys Längenberechnungen – die sage und schreibe lediglich an einem einzigen Tag gemacht worden waren! – wohl »nur auf einigen Höhenobservationen« beruhten; dass die benutzten Fachausdrücke »nicht ganz deutlich« waren; dass – als Pearys Chronometer stehen geblieben war – die Messungen nicht mit einer Ersatzuhr abgeglichen worden waren; dass ergo die Daten über die zurückgelegte Strecke »nicht als ganz genau betrachtet werden« können. Fazit: »Pearys Angaben in Bezug auf Entfernungen und Höhen sind leider mangelhaft.«

Peary war auf Nansen nicht mehr gut zu sprechen – zumal der Norweger seine Kompetenz bei der Durchquerung Grönlands gewonnen hatte: bei einer Unternehmung, mit der er einem Vorhaben des Amerikaners zuvorgekommen war ... um nicht zu sagen: mit dem er in Pearys Domäne gewildert hatte!

Denn das war nun entschieden: dass Robert Edwin Peary das Podium gefunden hatte, auf dem er das einspielen wollte, was ihn wie nichts im Leben sonst bewegte. An Mary Peary schrieb er am 27. Februar 1887 – als ob sie’s nicht schon oft genug gelesen hätte: »Denke daran, Mutter, ich muss Ruhm erringen.«

Wenig später teilte er der alten Dame im Übrigen mit, dass er seine Zukünftige gefunden hätte, Josephine Diebitsch, eine Professorentochter aus Washington: »Dass sie mich liebt, weiß ich; dass sie mich glücklich machen kann, denke ich schon; außerdem vertraue ich darauf, dass sie mir weniger hinderlich sein wird als jede andere Frau, die ich bisher kannte oder die ich künftig kennen lernen dürfte.«

Das Paar heiratete am 11. August 1888.

»INVENIAM VIAM AUT FACIAM« – ODER: WIE MAN SICH IN ERFOLGSZWANG BRINGT

Und Mrs Peary machte sich nützlich. Denn als ihr Gatte am 6. Juni 1891 zu seiner zweiten Grönland-Reise aufbrach, stand sie ebenso auf der Teilnehmerliste wie der Farbige Matthew Alexander Henson, Pearys Faktotum auf Jahre hinaus, und der New Yorker Arzt Dr. Frederick Albert Cook. Aber mochte an diesem Nachmittag um fünf, als die »Kite« in Brooklyn die Leinen kappte, seine Gemütsverfassung noch so heiter und das vielstimmige »Farewell thee well« noch so ermutigend sein: Zur selbigen Stunde begann ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen Cook und Peary, dessen Ausgang bis heute unbekannt ist.

Wer konnte es ahnen? Verlief doch die Expedition äußerst erfolgreich. Peary und seine Crew errichteten eine Hütte am McCormick-Fjord am oberen Zipfel der Baffin-Bai, »Red Cliff House«; sie befreundeten sich mit einigen Eskimos, die in der Nähe siedelten; und lernten, in der Arktis zu überstehen und sich zu bewegen – vor allem Hunde-Schlitten zu führen. Gut vorbereitet gelang Peary mit dem Norweger Eivind Astrup zwischen dem 3. Mai und dem 6. August 1892 eine mehr als zweitausend Kilometer lange Hin- und-Rücktour bis zu der – von ihnen so getauften – Independence-Bai, einer Bucht im Nordwesten Grönlands, die als solche ein Argument für den Inselcharakter von dessen Landmasse liefert.

Als die Depeschen im September Pearys Heimkunft meldeten, setzte sich in Kristiania – dem heutigen Oslo – Fridtjof Nansen an den Schreibtisch und gratulierte dem Kollegen zu seinem Erfolg. Er selbst sei schließlich »einer von denen, die ein bisschen vom Inlandeis gesehen haben«. Daher könne er die Leistungen Pearys beurteilen und ihn mit Fug und Recht als sein »Bewunderer« grüßen.

Nach diesem Ritterschlag durch einen der prominentesten Polarexperten seiner Zeit fühlte sich Peary umso mehr dazu befähigt, der von ihm selbst an sich ergangenen Berufung zu folgen. Das Marineministerium stellte ihn abermals unter voller Beibehaltung seiner Bezüge von seinen Dienstpflichten frei. Was gleichwohl fehlte, war Geld zur Finanzierung der nächsten Expedition. Die Mitwirkung an George Eastmans etwas verwegen betitelter Werbebroschüre The Kodak at the North Pole (»Die Kodak [-kamera] am Nordpol«, 1892) brachte nicht allzu viel ein. Daher ging Peary zusammen mit Henson ein Engagement als Showstar ein. Windmaschine an! Und Vorhang auf! Eingemummelt in einen dicken Pelz arbeitete sich Peary wie durch einen Schneesturm zur Mitte der Bühne vor, woraufhin Henson unter Peitschenknallen mit einem Hundegespann folgte. Dann legten sich die Huskys vor die Füße des immer ärger ins Schwitzen geratenden Vortragskünstlers, bis sie auf ein verstohlenes Zeichen zum Eisberg- oder Steinerweichen ein gespenstisches Geheul anstimmten. Vorhang zu! Und Windmaschine aus! There’s no business like snowbusiness ...

 

Denn es lohnte sich: Als Peary am 23. Juni 1893 auf der »Falcon« zu seiner dritten Grönland-Fahrt von Philadelphia abdampfte, war er vorbereitet, zwei Jahre auszubleiben. Trotzdem stand das Ganze vom Anfang bis zum Ende unter einem fatalen Omen – nicht zuletzt, weil Dr. Cook es abgelehnt hatte, sich erneut dem monomanen Habitus des Chefs zu unterwerfen. Er, dessen »Professionalität« noch vor einem Jahr nach Pearys Zeugnis maßgeblich zum Gelingen der zweiten Grönland-Mission beigetragen hatte, fehlte nun in einem Trupp, dem einfach nichts mehr glücken wollte.

Die neuerliche Rekognoszierung der Nordkante von Grönland scheiterte zunächst; und als sie dann 1895 gelang, brachte sie nichts anderes als das Wiedersehen mit etwas Bekanntem. Ein Lichtblick war zwar die Geburt von Pearys Tochter Marie Ahnighito am 11. September 1893 in der »Anniversary Lodge« oberhalb des 77. Breitengrades gewesen – nur: Musste man für dergleichen eine Expedition ins Polarmeer abhalten? »Dieses Satanszeug arktische Forschung«, das Peary jetzt verfluchte, wurde auch dadurch bloß geringfügig aufgewertet, dass er bei seiner Heimkehr im Sommer 1895 zwei vermeintliche Meteoriten präsentieren konnte, die er in Grönland ausgegraben hatte.

Den dritten und massigsten Eisenklumpen zu bergen gelang ihm erst 1897. Da hatte Peary schon zwei weitere Exkursionen nach Grönland unternommen, die so belanglos waren, dass sie sein penibler Biograf Wally Herbert in The Noose of Laureis (»Die Lorbeerschlinge«, 1989) in einem Halbsatz abtut.

Robert Edwin Peary war jetzt einundvierzig Jahre alt, ein Medienstar, zweifellos, »The Hero of Heroes«, als der er vor jedem Auftritt angekündigt wurde – und gestresst. Denn seine Zugkraft schwand: Vier der sechs Eskimos, die er – Menschen, Iglus, Sensationen! – exportiert hatte, waren in New York an Lungenentzündung gestorben, die ›Meteoriten‹ hatte »Jo« dem American Museum of Natural History verkauft, im eigentlichen Sinne entdeckt hatte er nichts (nicht einmal die himmlischen Gesteinsbrocken: die kannte schon John Ross 1818) und keinen Rekord aufgestellt; vom Skandal seines Ehebruchs mit der Eingeborenen Aleqasina war noch nichts verlautet. Kurzum: Das hoch geschätzte Publikum erwartete eine neue Attraktion.

Also gab der Äquilibrist – die Wendung sei erlaubt – dem Affen Zucker, indem er kundtat, dass der Hauptzweck aller seiner Anstrengung die Einnahme des Nordpols sei. Und damit auch jeder, Yankee oder Südstaatler, den Stellenwert ermaß, den er der Sache zuschrieb, verließ er 1898 den Hafen von New York am 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag.

Die Parole für das Bevorstehende hatte er – in Abwandlung auf die eigene Person – der Tragödie Hercules furens (um 50 n. Chr.) des römischen Dramatikers Lucius Annaeus Seneca entnommen: »Inveniam viam aut faciam« ... »Ich werde einen Weg finden oder mir einen bahnen.«

Der Ausspruch sollte in einer Weise bedeutsam werden, die niemand in ihrer Zweideutigkeit voraussehen konnte.

DAS BASTA EINES SÜCHTIGEN

Sein Basisdepot legte Peary diesmal circa vier Breitengrade nördlich von »Red Cliff House« und »Anniversary Lodge« an. Denn nachdem er mit der »Windward« Mitte August am Westufer des Smith-Sunds festgemacht und dort die ersten Monate tatenlos verbracht hatte, war er im Dezember mit seinem »Negerdiener«, seinem treuen Sancho Pansa, und vier Eskimos – »Jo« nannte sie in handfestem Rassismus seine »Huskys« – an der Ostseite der Ellesmere-Insel nach »Fort Conger« marschiert, in jenes Camp, das Adolphus Washington Greely 1881 angelegt hatte. Peary zerstörte es und benutzte die dabei gewonnenen Vorräte zur Bestückung des eigenen Lagers.

Zum einen war er da vierhundertfünfzig Kilometer näher am Pol. Zum anderen hatte er die nervös machende Nachbarschaft Otto Sverdrups, des alten Gefährten Fridtjof Nansens, hinter sich gelassen, der mit der »Fram« im Smith-Sund so dicht bei Pearys Quartier ankerte, dass sich die beiden Teams eines Tages zufällig begegnet waren.

Das Opfer, das Peary für den gewonnenen Abstand sowie den Vorsprung vor einem imaginären Rivalen bringen musste – tatsächlich wollte Sverdrup das Kartenmaterial der Arktis präzisieren –, war hoch: Er hatte sich auf dem Weg nach »Fort Conger« die Füße erfroren und war daher gezwungen, zur »Windward« zurückzukehren. Dort wurden ihm am 13. März 1899 alle Zehen amputiert. Zu Henson sagte er: »Na und – was sind schon ein paar Zehen als Preis dafür, zum Pol zu kommen?«

Aber er kam nicht zum Pol. Weder in diesem Jahr noch im nächsten noch im übernächsten. Und als er es dann am 6. April 1902 energisch wieder versuchte, wieder mit Henson und wieder mit vier Eskimos, geriet er in ein solches Labyrinth von tiefen Waken und verkeilten Schollen, dass er das Ganze am 21. April bei 84° 17’ abbrach. Achtzig Meilen waren sie in sechzehn Tagen gegangen, einhundertfünfzig Kilometer – das heißt: nicht einmal zehn Kilometer pro Tag. Da gab sich der ausgebremste Berserker geschlagen und retirierte im August 1902 nach Hause. »Das Spiel ist aus«, erklärte er.

Es war das Basta eines Süchtigen.

Seinen Einsatz hatte er verloren ... Er war verstümmelt; hatte mit Aleqasina, der Mutter seines im Mai 1900 geborenen Sohnes Anaukak (1906 schenkte sie ihm noch den Sohn Kaie), die stets loyale »Jo« betrogen; sich mit Dr. Dedrick, seinem Schiffsarzt und Lebensretter, überworfen – und nicht einmal ein »Farthest North« erreicht: Verglichen mit Umberto Cagnis 86° 34’ waren seine 84° 17’, unter Brüdern, eine Stümperei.

Dass man das durchaus anders sehen konnte, bewies der virulente Nationalismus in den USA. Er interpretierte Pearys sechsmaliges Anrennen gegen die Stellungen des Saturn als Ausdruck eines Pioniergeists, der alles, aber auch alles daransetzen würde, das Sternenbanner am Pol einzurammen.

Folgerichtig wurde Peary daheim nicht etwa als Maniac von der traurigen Gestalt geschmäht, sondern als Ausbund von vaterländischem Kämpfertum auf den Schild gehoben: Ein 1899 gegründeter Peary Arctic Club trug ihm seine Hilfe an. Er wurde in absentia 1901 zum Kapitänleutnant und 1902 zum Fregattenkapitän der United States Navy ernannt. Und am 5. September 1903 beauftragte ihn sein Dienstherr ganz im Stil der Muscovy Society von 1607 kurz und bündig, den Pol zu erreichen: »Unser Nationalstolz ist an dieser Unternehmung beteiligt, und das Ministerium erwartet, dass Sie deren Zweck erfüllen und einer Armee, die auf leuchtende Großtaten zurückblicken kann, eine weitere Glanzleistung bescheren.«

Damit war Pearys fixe Idee sanktioniert. Das Schiff, das er eiligst bauen ließ, erhielt den Namen »Roosevelt« (oder liebevoll »Teddy«). Und als es am 16. Juli 1905 von Manhattan auslief– mit an Bord waren auf der ersten Etappe seine Frau »Jo«, seine Tochter Marie und sein zweijähriger Sohn Robert Edwin jr. –, dürfte dem Explorer in den Ohren geklungen haben, was der Minister als Sprachrohr des Präsidenten der Vereinigten Staaten seiner Sieges-Order noch angefügt hatte: »Nothing short will suffice« ... »Weniger tut’s nicht.«

Durch persönliche Exaltiertheit und kollektive Hybris hatte sich Peary vor seiner siebten Arktis-Fahrt in einem Dilemma verfangen, dessen Knoten er nur als Bezwinger des Nordpols entzweihauen konnte. »Nothing short will suffice.«

Diese ideologische Disposition muss man kennen, um zu verstehen, was hernach passierte ...

Peary fuhr – er hatte es längst »die amerikanische Route zum Pol« getauft – wieder durch den Smith-Sund, das Kane-Becken und den Kennedy-Kanal, vorbei an »Fort Conger« bis Kap Sheridan im Nordosten der Ellesmere-Insel. Doch weil das Eis stark nach Osten driftete, ging er, um direkt auf den Pol zuzuhalten, zuerst einhundertzehn Kilometer nach Westen zum Point Moss und brach dann am 6. März 1906 nordwärts auf.

Es wird immer zu den offenen Fragen um Robert Edwin Peary gehören, warum er – der seit zwanzig Jahren den arktischen Ozean kannte – auf seinem Zug über das Eis keine Kajaks mit sich führte. So geschah es, dass er ständig gezwungen war, vor kleineren und größeren Wasserrinnen auszuharren, bis sie sich schlössen ... oder dass er Umwege um den »Hudson River« oder gar den »Styx« machen musste – mit einem Wort: dass er nicht wie geplant vorankam. Da ihm zudem ein Fehler bei der Berechnung seines Kurses unterlaufen war – er hatte einen falschen Winkel zwischen dem magnetischen und geografischen Pol zugrunde gelegt –, da überdies der Proviant dahinschwand und zu allem Übel das Wetter immer schlechter wurde, blieb ihm nichts anderes übrig, als das, was einmal ein Triumphzug werden sollte, am 21. April 1906 aufzugeben.

Doch niemand weiß, wo er das tat.

Am letzten Spalt hatte er den Heizer Ryan zurückgeschickt und damit allein Henson und sechs Eskimos bei sich. Die aber waren samt und sonders außerstande, mit einem Sextanten zu hantieren. Daher sahen sie lediglich ein Irgendwo, als Peary verkündete: »Wir haben 87° 06’ nördlicher Breite erreicht, und ich habe endlich den Rekord gebrochen.«

Gestern hatte er noch 86° 30’ festgestellt – siebeneinhalb Kilometer unterhalb von Cagnis Marke. Und heute wollte er über eine Distanz von siebenundsechzig Kilometern ohne jeden Schlenker nach rechts oder links dahingeflogen sein ... über das Packeis, den Schnee und die Priele ... auf 87° 06’ ...

Das Original seines Reisejournals ist verloren. Angaben seiner täglichen Marschleistung gibt es nicht. An exakten Daten seiner Positionen auf den Meridianen mangelt es. An verlässlichen Gewährsleuten fehlt es. Ergebnisse von Lotungen liegen nicht vor. Der Zeitpunkt seiner Heimkehr zum Schiff ist unbekannt. Daher blieb jeder Versuch, sein »Farthest North« zu verifizieren, von vornherein Spekulation.

»Nothing less will suffice.« Mochte Peary auch befürchtet haben, als Versager empfangen zu werden, dann hatte er die Rechnung ohne den Peary Arctic Club, ohne die National Geographic Society und ohne den Präsidenten gemacht. Sie alle ließen den amerikanischen Champion von 87° 06’ hochleben und verliehen ihm Ehrentitel und -medaillen. Und je länger bei den Festakten, Festmahlen und Festreden die Scheinwerfer auf ihn gerichtet waren, desto mehr lichtete sich das Clair-obscur um seine Person, bis er als der immer tatendurstige Überwinder dastand und der SUNDAY HERALD am 16. Dezember 1906 mit der Schlagzeile aufmachen konnte: »Peary versichert, der Pol ist bei Anwendung seiner Methoden erreichbar.«

Und hatte er gerade noch die Beendigung seiner »arktischen Tätigkeit« erwogen, so begann das jetzt alles von neuem: das Geldgeber-Suchen, Bemannung-Ernennen, »Roosevelt«-Rüsten – da platzte am 1. Oktober 1907 die Nachricht herein, dass Dr. Frederick Albert Cook, Pearys alter Arzt und Weggenosse, auf dem Marsch zum Nordpol sei.