Das Verlorene Vermächtnis

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Die Stadt war von engen Straßen mit doppelstöckigen Häusern geprägt, von hübschen Portalen und hohen Palmen. Sie schien in ihrer kolonialen Vergangenheit wie in einem Traum gefangen zu sein und niemand, nicht einmal ihre Führungsriege, hatte auch nur die leiseste Absicht, sie aus ihrem Schlaf zu rütteln.

Die Bürger bewegten sich auf Pferden fort, gekleidet in Anzüge und riesige Hüte, die einen Teil des Gesichts verdeckten. Das einfache Volk trug ein Weiß, das alles andere als rein erschien, und wegen der lehmigen Straßen kniehohe Stiefel.

Der Weg vom Hafen zum Hotel war schon ein Hinweis darauf, dass sich unsere Expedition sehr viel komplizierter gestalten würde, als wir anfangs gedacht hatten, ganz zu schweigen von den Abenteuern und unglücklichen Fügungen, die uns noch bevorstanden.

Der Kutscher hielt vor einem Gebäude im plateresken Stil, das schon bessere Zeiten erlebt hatte. Früher einmal als Palacio de la Audiencia bekannt, war es aber sauber und das Personal effizient.

Unser Gepäck trugen auf dem Weg zur Rezeption zwei kaum fünfzehn Jahre alten Jungen. Während wir dort darauf warteten, dass uns unsere Zimmer zugeteilt würden, übergab der Hoteldirektor James ein Telegramm aus London.

Beim Öffnen des Umschlags machte sich schon ein gewisse Beunruhigung in seinem Gesicht breit; offenbar handelte es sich um etwas Unerwartetes. Seine Befürchtungen schienen sich mehr als zu bestätigen, denn seine Miene wurde beim Lesen des Briefs noch finsterer.

—Was ist los?—fragte ich ihn, als er mit dem Lesen fertig war.

Wortlos überreichte er mir den Brief.

Die Geographische Gesellschaft informierte uns, dass die Universität in Quebec eine Expedition vorbereitete, die dasselbe Ziel hatte wie unsere.

Als ich den Blick von der Nachricht löste, sah ich James schon die Treppe hinaufsteigen, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren. Der Professor und ich folgten ihm auf sein Zimmer, ein kleines, spärlich möbliertes Loch mit zwei Betten, an der Wand hingen zwei Fotografien von der Stadt und dazwischen ein großes Kreuz. Dort fanden wir James mit traurigem Blick sein Gepäck auspackten.

—Geht es dir gut?—fragte ich ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter.

Er nickte und legte einen Kompass zusammen mit mehreren Landkarten auf das Bett neben dem Fenster.

—In Kanada beginnen sie jetzt erst mit den Vorbereitungen—sagte ich, um ihn aufzuheitern—. Wir haben reichlich Vorsprung.

—Das beunruhigt mich nicht—gab es zurück, ohne mich dabei anzusehen—. Ich will wissen, woher sie es wussten.

—Die Nordamerikaner haben ihre Tentakel in diese Zone ausgestreckt—gab der Professor zu bedenken, zündete sich seine Pfeife an und stellte sich ans Fenster—. Unsere Handelsunternehmen sind schon einige Male mit ihnen in Konflikt geraten.

—Sie haben es vor uns erfahren—antwortete er—. Wenn sie mit der Unterstützung der Behörden rechnen können, starten sie mit einem großen Vorteil.

—Das stimmt—gab ich zurück und sah ihm direkt in die Augen—. Aber das ist noch lange kein Grund, den Kopf hängenzulassen. Ich studiere diese Kultur schon seit Jahren und du sprichst perfektes Spanisch.

—Ich stimme Ihnen zu—bestätigte der Professor—. Ich glaube nicht, dass sie besser vorbereitet sind als wir.

—Für euer Vertrauen bin ich dankbar—versicherte er uns mit einem Lächeln.

Am nächsten Morgen fragten wir an der Rezeption nach jemandem, der uns auf das Hochplateau führen könnte. Man teilte uns mit, dass sich einige Führer in den Tavernen rund um den gut besuchten Großmarkt trafen, nahe dem imposanten Schloss San Felipe de Barajas, der großen Verteidigungsbastion der Stadt.

Als wir auf dem großen Platz ankamen, breiteten sich vor uns unzählige Marktstände aus, die alle Arten von Vieh und Lebensmitteln feilboten. Die landwirtschaftlichen Produkte stammten aus den der Stadt vorgelagerten Vorstädten. Dort wurden Mangos, Papayas, Yuccas, Kaffee und Kakao angebaut. Darüber hinaus gab es auch alle möglichen tropischen Früchte und exotischen Tiere zu bestaunen, wie zum Beispiel kleine Springaffen, die bei den lokalen Eliten als Gesellschaftertiere sehr beliebt waren.

Zum Frühstück gab es ein paar köstliche, mit Huhn und Tomate gefüllte Maiskuchen. Der Ladenbesitzer erklärte uns, dass zwei Straßen weiter eine Taverne lag, wo sich die Abenteurer gewöhnlich trafen.

Wir durchquerten den Markt und erreichten einen kleinen Platz mit einem Obelisken und einer wunderschönen gotischen Kirche. Dort fanden wir auch das Lokal.

Eine klitzekleine Tür öffnete sich in einen dunklen Innenraum, in dem die Wände wegen der Feuchtigkeit in Stücke zerfielen und die Fliegen fröhlich durch die Luft tanzten, ohne dass jemand versuchte, etwas dagegen zu unternehmen. An der Theke bediente uns ein Eingeborener mit großer Nase und Narbe am rechten Wangenknochen.

Ganz hinten saß ein Mann, der immerzu Befehle gab und wahrscheinlich der Eigentümer war. Sobald wir die Bar betreten hatten, ließ er mich nicht mehr aus den Augen. Die Taverne wurde wohl nicht oft von Frauen frequentiert, jedenfalls nicht von Frauen von meinem Stand.

—Seien Sie willkommen—sagte er mit einem breiten Lächeln—. Wie kann ich Ihnen helfen?

—Wir suchen jemanden, der uns nach Cuzco bringt.

—Ich kenne da zwei, die Ihnen helfen könnten—antwortete er, während er ein paar Gläser mit einem Lappen reinigte, der schon einige Weinflecken erkennen ließ—. Aber ich glaube, dass sie das Militär vor einem Monat festgesetzt hat.

—Sonst reist niemand dorthin?

—Esteban kennt die Gegend wie seine Westentasche—versicherte uns ein alter Mann an der Bar und zeigte dabei auf einen stämmigen Kerl mit breiten Kotletten, der gerade eine Partie Karten im hinteren Bereich des Lokals spielte.

Nachdem der Kellner ihm Bescheid gegeben hatte, setzte er sich zu uns an unseren Tisch neben dem Eingang, um unser Vorhaben zu besprechen.

Eine Karaffe Wein mit vier Gläsern wurde an den Tisch gebracht. Als James mir einschenken wollte, erklärte ich ihm kurz, dass mich keine zehn Pferde dazu bringen könnten, in dieser Spelunke etwas zu trinken.

—Aus wie vielen besteht die Gruppe?—fragte Esteban mit starkem indigenen Akzent.

—Wir sind zu dritt—antwortete James—. Allerdings haben wir viel Gepäck.

—Das Gepäck ist kein Problem, mein Freund. Nur werden wir deswegen langsamer vorankommen—fügte er sein Weinglas leerend hinzu—. Das größte Hindernis ist momentan der Weg selbst.

—Der Weg?

—Der Königsweg wimmelt vor Banditen. Seit die Spanier fort sind, versucht das Militär sie zu bekämpfen, hat aber nicht allzu viel Erfolg dabei.

—Und Alternative gibt es keine?

—Es gibt noch einen anderen Weg, der teilweise durch den Amazonasregenwald führt. Der ist langsamer und auch nicht ungefährlich, aber sehr viel sicherer als der andere.

—Wie viel verlangen Sie dafür, uns dorthin zu führen?

Er nahm den Hut ab und fächelte sich damit zu.

—Mein Partner und ich geben uns schon mit viertausend Peseten zufrieden. Die Maultiere und die Ausrüstung müssen noch zusätzlich gekauft werden.

—Wir haben vor, öfter durch diese Gegend zu reisen. Wenn Sie den Preis noch etwas drücken können, sind wir uns einig.

James füllte Estebans Glas erneut und der trank es in einem Zug aus. Er stimmte ohne weitere Verhandlungen zu, offenbar brauchte er das Geld dringend.

—Haben Sie vielleicht eine Karte, auf der wir uns den Weg ansehen können?

Der Führer nickte.

Er stand auf und holte aus einer Satteltasche mehrere Karten hervor.

—Ich sehe mir beide Wege zusammen mit meinen Kollegen an und gebe Ihnen morgen Bescheid.

—Auf wiedersehen, Freunde—sagte er und verabschiedete sich mit einem Händedruck.

Am Nachmittag studierten wir im Hotelzimmer die Landkarten, die wir von Esteban hatten. Es waren dieselben, die die Spanier schon seit Jahrhunderten verwendeten. Manche davon kamen uns bekannt vor, während andere viel detailreicher als die der Geographischen Gesellschaft waren.

Jahrhundertelang nutzen die Spanier den Königsweg, um Gold und Waren auf dem Landweg vom Hochplateau nach Zentralamerika zu transportierten.

—Wir sollten den Weg durch den Dschungel wählen—meinte James und legte die Karte auf einen kleinen Holztisch—. Der Königsweg ist kürzer, aber zu gefährlich. Was meinen Sie, Professor?

—Was auch immer Sie beide entscheiden, ist mir recht—antwortete er gähnend. Er hatte schon zwei Tage nicht geschlafen.

Aus seiner Tasche holte er Tabak und drehte sich eine Zigarette.

—Und du, Margaret?

—Den Dschungel zu durchqueren ist sehr riskant—bemerkte ich, überrascht davon, wie schnell er die Entscheidung getroffen hatte—. Auch wenn uns auf dem Königsweg Banditen auflauern könnten, im Dschungel müssen wir uns Eingeborenenstämmen, wilden Tieren und unerträglicher Hitze stellen.

—Gefällt dir auch mal etwas?—gab er stirnrunzelnd zurück.

—Willst du damit sagen, dass ich immer Schwierigkeiten mache?—fragte ich beleidigt.

—Schon seit Tagen ist von dir nichts Positives mehr zu hören.

—Du hast dich ja offensichtlich wieder einmal entschieden. Du bestimmst—erwiderte ich höhnisch.

Am nächsten Tag standen wir für unser Treffen mit Esteban früh auf. Wir teilten ihm mit, für welche Route wir uns entschieden hatten, worauf er uns auf den Markt begleitete, um einen Vorrat an Lebensmitteln und Ausrüstung einzukaufen. Danach besorgte er in einem Stall in der Vorstadt noch die Maultiere, die wir für unsere Reise benötigten. Da uns sonst nichts weiter zu tun blieb, beschlossen wir, den Nachmittag damit zu verbringen, jene laute Stadt besser kennenzulernen.

 

Bei Einbruch der Dunkelheit kehrten wir ins Hotel zurück. Eine Gruppe Kanadier checkte gerade ihr Gepäck an der Rezeption ein. Beim Anblick der Koffer und ihrer Kleidung war uns sofort klar, dass es sich um die Gruppe von der Universität Quebec handeln musste. Sie musste am Nachmittag mit dem Schiff angekommen sein.

—Ich wollte erst in ein paar Tagen aufbrechen—sagte James mit vorgehaltener Hand, damit niemand ihn hören konnte—. Aber jetzt ist alles anders. Wir brechen morgen auf.

—Haben wir genug Zeit, um alles vorzubereiten?—fragte ich verdutzt.

—Von jetzt an ist die Expedition ein Wettlauf gegen die Zeit.

Schnaubend nickte ich. Schon unter normalen Umständen wäre die Expedition eine komplizierte Herausforderung gewesen, doch nun kam es auf jede Minute an.

In der Annahme, dass die Kanadier uns nicht erkannt hatten, gingen wir hoch in unsere Zimmer. Wir waren recht sicher, uns nicht verraten zu haben Als Briten hätten sie uns nur an unserem Akzent erkennen können. Kurze Zeit später gingen wir hinunter zum Abendessen. Danach wollten wir bald zu Bett gehen und am nächsten Tag früh aufzubrechen.

Als wir in den Speisesaal eintraten, fanden wir die Kanadier schon beim Abendessen vor. Die Gruppe wurde langsam zu unserem schlimmsten Albtraum. Um so wenig wie möglich aufzufallen, setzte wir uns an einen Tisch am anderen Ende des Speisesaals. Insgesamt waren an jenem Abend nicht viele Gäste anwesend, denn die Regenzeit lockte weniger Ausländer als gewöhnlich in der Stadt.

Die Gruppe bestand aus fünf Männern. Der älteste von ihnen schien ihr Chef zu sein, er war etwa fünfzig Jahre alt mit schon reichlich grauen Haaren. Alle anderen waren jünger, etwa in unserem Alter und, genau wie ich, zum ersten Mal bei einer Expedition dabei.

In aller Stille servierte man uns den ersten Gang.

—Ich habe eine Idee—flüsterte mir James in Ohr—. Ich will nicht aufbrechen, bevor ich sicher sein kann, dass sie von der Expedition wissen.

—Was hast du vor? Willst du einfach zu ihrem Tisch marschieren und fragen?—fragte ich ironisch.

James lächelte.

—Als ich die Treppe herunterkam, konnte ich ihre Zimmer sehen. Es wird sich uns keine bessere Gelegenheit mehr bieten, um ihr Gepäck zu dursuchen.

—Bist du verrückt geworden, James Henson?!

—Nicht so laut—gab er beschwichtigend zurück.

—Wenn sie uns entdecken, haben wir ein großes Problem.

—Warum sollen sie uns entdecken?

—Ich hätte dich für vernünftiger gehalten. Ohne mich kannst du kein einziges Dokument transkribieren—fügte ich augenzwinkernd hinzu.

Ohne dem Professor von unserem Vorhaben zu erzählen, standen wir auf und ließen ihn alleine weiteressen. Für seinen Geschmack nahmen die Ereignisse viel zu schnell ihren Lauf.

Als wir die Treppe hochstiegen, fingen meine Beine zu zittern an, und ich spürte, wie mir der Schweiß von der Stirn tropfte. So etwas hatte ich noch nie vorher empfunden. Während das Adrenalin nur so durch meinen Körper rauschte, fühlte ich mich unglaublich lebendig.

Im ersten Stock dirigierten wir uns so leise wie möglich Richtung der Hotelzimmer am Ende des Flurs.

—Wie willst du die Tür öffnen?

—Ich habe mir den einen oder anderen Trick angeeignet, mit dem ich jede Art Schloss öffnen kann, egal wie lange es schon verschlossen ist.

Der Trick, den er meinte, war ein Taschenmesser, das er bei sich trug. Nur Augenblicke nachdem er es in das Schloss eingeführt hatte, war ein Klicken zu hören und die Tür öffnete sich.

Sobald wir das Zimmer betreten hatten, sahen wir, dass die Kanadier eine Unmenge an Koffern von Quebec mitgebracht hatten. Das konnte bedeuten, dass sie mehr über die Unternehmung wussten als wir. Es bedeutete aber auch eine Unannehmlichkeit, weil sie mehr Träger und Lastentiere anheuern müssten, um all das Gepäck zu transportieren. Sie würden sehr viel länger brauchen als wir.

Wir durchsuchten alles. In einem der Rucksäcke fanden wir eine Mappe mit Landkarten der Andenregion und die Pläne von zwei Ausgraben, die die Universität in den letzten Jahren in zwei präkolumbischen Städten organisiert hatte. Jene Pläne mit unseren zu vergleichen, würde nützlich sein.

In der Zwischenzeit beobachtete der Professor besorgt, wie einer der Kanadier sich von seinem Platz erhob und zur Rezeption ging, um dort mit dem Concierge zu reden. Das Gespräch dauerte ein paar Minuten, danach stieg er die Treppe hoch. Ängstlich verfolgte der Professor die Szene, wusste aber nicht, was er tun sollte.

Nachdem wir das gesamte erste Zimmer durchsucht und uns versichert hatten, dass niemand im Gang war, nahmen wir uns auch das Nebenzimmer vor. Wir durchsuchten das Gepäck, fanden aber hauptsächlich Kleidung und Werkzeug. Im Schrankinneren jedoch entdeckten wir unter einer Jacke einen Rucksack, der etwas sehr Interessantes enthielt. Dabei handelte es sich um zwei Manuskripte. Eines davon war eine Transkription von präkolumbischen Inschriften ins Spanische, eine Art Rosettastein der präkolumbischen Zeit, den ich mit einem breiten Grinsen in meiner Tasche verschwinden ließ. An der Universität Oxford kannte dieses Dokument niemand und scheinbar hatte Quebec nicht die geringste Absicht, es mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu teilen.

Das zweite Manuskript unterschied sich allerdings nur unwesentlich von den Ergebnissen der Nachforschungen, die wir selbst in England angestellt hatten: Es gab den genauen Ort an, an dem sich die Stadt, zu der wir unterwegs waren, angeblich befand.

Dann hörten wir plötzlich Geräusche im Flur.

Offensichtlich hatte der Professor beschlossen, den Tisch zu verlassen und so schnell wie möglich die Treppe hinaufzueilen, um den Kanadier gerade noch aufzuhalten, bevor dieser sein Zimmer erreichte.

—Verzeihung—rief er ihn an—. Ich habe Sie vorhin mit ihren Kollegen sprechen hören. Sind Sie Kanadier?

Der Nordamerikaner nickte bestätigend.

—Wie kann ich Ihnen helfen?

—Ich habe einige Jahre in Montreal unterrichtet. Ihr Akzent erinnert mich unweigerlich an diese wunderbaren Jahre.

—Montreal. Eine tolle Stadt. Was führt Sie nach Kolumbien?

—Ich bin hier auf Geschäftsreise mit meinem Geschäftspartner und seiner Frau. In dieser Region bieten sich hervorragende Expansionsmöglichkeiten.

—Das stimmt. Wenn sie mich jetzt entschuldigen, ich muss noch ein paar Unterlagen aus dem Zimmer holen, bevor ich zurück in den Speisesaal gehe.

—Aber sicher. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich sie aufgehalten habe.

Der Kanadier steuerte erneut auf sein Zimmer zu, während dem Professor das Wasser bis zum Hals stand. Er drehte sich um und wollte wieder an seinen Tisch zurückzukehren, um nicht weiter verdächtig zu erscheinen.

Das Klicken der Tür hörten wir genau in dem Moment, als James durch das Zimmerfenster schlüpfte; dank der Vorwarnung des Professors hatten wir noch rechtzeitig flüchten können und da sich das Zimmer im ersten Stock befand, konnten wir uns problemlos auf die Straße hinunterlassen.

Der Nachmittag hatte zwar schlecht begonnen, war aber zu einem vielversprechenden Abschluss gekommen. Wir konnten den Vorsprung der Nordamerikaner wettmachen, obwohl ihr Studium der Zone weiter fortgeschritten war als unseres. Außerdem würden wir mindestens einen Tag vor ihnen zu unserem Ziel aufbrechen.

Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen sich bei Morgengrauen blicken ließen, brachen wir Richtung des hohen Gebirges auf, das sich an der kolumbianischen Küste entlang zog.

Trotz des steilen Terrains trieb unsere Entschlossenheit uns auf den schmalen Bergwegen voran. Während des Aufstiegs auf die dicht belaubte Bergkette fiel die Temperatur rasant ab. Dazu kam ein starker Wind an jenem Morgen, aber schließlich schafften wir es bis zum Gipfel. Dort angekommen, begannen wir sofort wieder mit dem Abstieg, der uns durch den Dschungel führen sollte.

Mit unseren Fortschritten zufrieden, drangen wir weiter in das Territorium des Amazonas vor, während sich das vor uns ausbreitende Gestrüpp bei jedem Schritt dichter wurde.

Unsere Reisegruppe formte eine lange Schlange, allen voran unser Führer, dem James nicht von der Seite wich. Dahinter kamen die Träger und Maulesel, die das Gepäck schulterten. Der Professor und ich liefen abgeschlagen hinterher.

—Es ist erstickend heiß—kommentierte der Professor die Situation, während wir in ein breites Tal hinabstiegen.

Er blieb einen Augenblick stehen, trocknete sich den Schweiß von der Stirn und trank einen Schluck Wasser aus seiner Feldflasche.

—Ich habe es ihm in Cartagena immer wieder gesagt—gab ich ärgerlich zurück—. Wir hätten den Königsweg nehmen sollen. Immer müssen wir tun, was Henson will.

—Vorsicht, er könnte Sie hören.

—Auf diese Entfernung kann er unmöglich irgendetwas hören. Außerdem habe ich ihm das schon im Hotel gesagt.

Die Macheten der Träger schlugen unermüdlich einen Weg durch das Buschwerk. In manchen Bereichen waren die Baumkronen so ausladend, dass sich die Äste weit in die anderen Kronen erstreckten und kein Sonnenlicht zum Boden durchdringen ließen, und an manchen Tagen konnten wir kaum den Himmel über uns ausmachen. Die Diversität der Fauna und Flora um uns war schier unendlich.

—Sehen Sie sich diese Farben an, Professor—sagte ich und zeigte auf die Baumkronen.

—Das sind dreifarbige Tukane—antwortete er mit einem breitem Lächeln—. In Momenten wie diesen, würde uns jeder Ornithologe beneiden.

—Sie sind wunderschön. Aber der Lärm ist unerträglich. Als würde ein Hammer in meinem Kopf pausenlos hämmern. Nicht einmal in der Nacht ist es hier ruhig.

Der Professor stimmte mir betrübt zu.

—Haben Sie die Primaten gesehen, die über die Äste springen? Sie folgen uns schon, seit wir dieses Tal betreten haben.

—Die sind bloß neugierig. Aber behalten Sie sie im Auge, ein unbedachter Moment und sie rauben uns unser gesamtes Gepäck.

Wir hielten am Ufer eines eher schmalen Flusses. Beim Durchqueren reichte den Trägern das Wasser bis zum Hals. Wir mussten das Gepäck von den Maultieren abladen und die Bündel überkopf tragen, damit sie nicht nass würden.

—Seien Sie vorsichtig, in dieser Gegend gibt es Kaimane—warnte uns der Führer.

Als wir das hörten, beeilten wir uns noch ein wenig mehr. Glücklicherweise war die Strömung in dem Abschnitt nicht sehr stark.

—Habt ihr das gesehen?—rief James auf das andere Ufer zeigend—. So große Pflanzen habe ich noch nie gesehen.

—Das sind Wasserpflanzen—erklärte Esteban—. Sie können einen Durchmesser von mehr als einem Meter haben.

Als wir das andere Ende des Ufers erreicht hatten, sahen wir uns einem Sumpfgebiet gegenüber, durch das wir noch langsamer vorankamen. Die Reise entwickelte sich zu einem beschwerlichen Albtraum.

James trennte sich einen Moment von Esteban, um mir zuzuflüstern, dass wir nicht zu weit hinter der Gruppe zurückbleiben sollten.

—Sie beobachten uns schon seit einiger Zeit.

—Wer beobachtet uns?—fragte ich alarmiert und blickte mich in alle Richtungen um.

—Ich glaube, sie gehören zu einem Stamm. Bleib ruhig. Wenn sie uns angreifen wollten, hätten sie das schon längst getan.

Damit hatte er recht. Sie folgten uns noch einige Zeit, bis wir ihr Territorium vollständig durchquert hatten.

Auch die Nächte gestalteten sich kompliziert. Wir konnten kaum schlafen. Nur ein gutes Feuer hielt die Schlangen, Skorpione und, was noch viel besorgniserregender war, den einen oder anderen Puma auf Distanz.

Eines Abends schlugen wir unser Lager nahe einer kleinen Felshöhle auf und in der folgenden Nacht wurde ich krank. Das Fieber plagte mich unablässig und das Kinin, das mir intravenös verabreicht wurde, zeigte kaum Wirkung. Am nächsten Morgen fühlte ich mich etwas besser und wir konnten die Reise fortsetzten. Doch nur ein paar Stunden später wurde mir wieder schwindlig. Wie schon die Nacht zuvor brannte meine Stirn förmlich und ich fiel vor den Füßen des Professors in Ohnmacht.

Das ist das Letzte, woran ich mich erinnere, bis ich zwei Tage später in einer Binsenhütte erwachte. Ich öffnete die Augen und musste feststellen, dass sich der Raum immer noch um mich drehte. Als ich meinen Kopf nach rechts wandte, begegnete ich dem Lächeln des Professors.

 

—Das Fieber scheint runtergegangen zu sein. Fühlen Sie sich besser?

—Ich bin sehr müde. Aber meine Stirn brennt nicht mehr.

—Das ist ein gutes Zeichen—antwortete er und legte seine Hand an meine Stirn—. Es stimmt, was der Schamane gesagt hat.

—Schamane?—wiederholte ich überrascht.

—Wir sind schon seit zwei Tagen in einem indigenen Dorf. Nur hier konnten sie Sie heilen.

—Wovon reden Sie?

—Sie haben Malaria—antwortet er ernst.

—Daran ist Henson schuld. Wir hätten den anderen Weg nehmen sollen. Er ist nicht einmal da, wenn man ihn am meisten braucht.

—Das stimmt nicht, Margaret. Er ist Ihnen die letzten zwei Tage nicht von der Seite gewichen, hat kaum geschlafen.

Das überraschte mich so sehr, dass mir die Worte fehlten.

—Hätte er Sie nicht in dieses Dorf gebracht, hätten Sie keinen weiteren Tag überlebt. Sie sollten sich aussprechen.

—Aber er hört auf niemanden, außer auf sich selbst. Er muss immer recht haben. Er ist unerträglich.

—Er macht nur seine Arbeit. Würden Sie versuchen, die Dinge auch einmal aus seiner Sicht zu sehen, könnten Sie ihn besser verstehen.

In diesem Augenblick kam James mit einem Lied auf den Lippen zur Tür hinein.

—Ich sehe, es geht dir besser.

—Ich habe mich erholt—bestätigte ich mit einem angedeuteten Lächeln.

—Ich bringe dir Frühstück. Ein paar frische Früchte und Tee. Der Schamane hat mir versichert, dass du dich nach dieser Kräuterbrühe und einer Woche Ruhe wie neu geboren fühlen wirst.

—Wir können keine Woche warten!—rief ich besorgt aus—. Die Kanadier werden uns überholen und die Expedition wird scheitern.

—Vergiss sie. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.

—Ich möchte dir danken, dass du dich die letzten Tage um mich gekümmert hast.

—Das musst du nicht. Es war mir ein Vergnügen.

—Könntest du mir mein Gepäck bringen? Ich muss in einem furchtbaren Zustand sein.

—Wie du wünschst, Maggie—antwortete er mit einem breitem Lächeln—. Obwohl das nicht stimmt.

Das sagte er zum ersten Mal und mit einer solchen Zärtlichkeit, dass mir die Worte fehlten. Von dem Augenblick an änderte sich meine Meinung über ihn langsam.

Zwei Tage später setzten wir unseren Marsch fort. Die ersten Tage verbrachte ich auf dem Rücken eines Maultiers und tat mein Bestes, für den Rest der Gruppe keine Bürde zu sein, obwohl ich völlig erschöpft war.

Endlich konnten wir eines Nachmittags die schroffen Spitzen der Berge am Horizont ausmachen. Wir ließen die letzten Ausläufer des Amazonasregenwalds hinter uns und betraten das Hochplateau. Danach warteten hohe Berge und karge Täler auf uns.

Der Weg war gespickt mit kleinen Dörfern, deren Einwohner größtenteils im Bergbau beschäftigt waren. Schwüle und Feuchtigkeit wurden von einer trockenen Hitze während des Tages und einer intensiven Kälte nachts abgelöst. Ich konnte spüren, wie sich mein Gesundheitszustand zusehends verbesserte.

An einem kalten Morgen kamen wir in Potosí an, dem Epizentrum jener Bergbauregion. Zusammen mit der Mine hatten die Spanier eine Stadt erbaut, um die Silbervorkommen dort auszubeuten. Die indigene Bevölkerung arbeitete für einen Minimallohn unter so menschenunwürdigen Bedingungen, dass viele die Arbeit nicht überlebten. Der Dienst in den Minen dauerte ein Jahr. Danach war es ihnen verboten, wieder in der Mine zu arbeiten, bevor nicht sieben Jahre vergangen waren. Trotzdem heuerten viele Indigene wieder als freie Arbeiter an.

Wir ließen die mehr als mangelhaften Behausungen, wo die Minenarbeiter mit ihren Familien wohnten, hinter uns und betraten das Zentrum der Urbanisation. Der Ort hatte sich zu einem Sündenpfuhl entwickelt. Überall waren Tavernen und Bordelle, wo die Minenarbeiter nach einem anstrengenden Arbeitstag ihr Geld sofort wieder verschleudern konnten. Wir wollten nur lange genug bleiben, um unsere Vorräte aufzufüllen und die Nacht dort zu verbringen.

Am Nachmittag kümmerte sich James um die Einkäufe. Der Professor und ich blieben in einer billigen Pension, in der es von Flöhen und Kakerlaken nur so wimmelte und über die ich lieber nichts weiter sagen will. Nachdem wir uns eine Weile ausgeruht hatten, wollte der Professor ein wenig Luft schnappen, während ich vom Fenster aus den sogenannten Fortschritt beobachtete, der sich so weit in den Fuß eines Berges gebohrt hatte, das schon damals nicht mehr als eine leere Hülle übrig war. Eine starker Geruch von Quecksilber und Schwefel schlug mir ins Gesicht und zwang mich, das Fenster wieder schließen.

Der Professor lehnte am Geländer einer großen Brücke, die sich über den Fluss spannte, und rauchte gerade seine Pfeife, als plötzlich mehrere Kerle auftauchten, ihn grob packten und mit sich wegschliffen. Ich wollte schreien, war aber so verängstigt, dass ich kein Wort herausbrachte. Bis zu James’ Rückkehr saß ich weinend in einer Ecke des Hotelzimmers.

—Haben sie ihn bei helllichtem Tag entführt?

—Es waren kaum Leute auf der Straße—antwortete ich niedergeschlagen.

—Wie haben sie ausgesehen?—fragte er, während er seinen Hut auf einem Stuhl ablegte.

—Sie sahen nicht so aus, als wären sie aus der Gegend. Einer von ihnen erinnerte mich an einen der Kanadier, die in Cartagena zu Abend gegessen haben.

—Mit welcher Klasse von Abschaum haben wir es hier zu tun?!—rief er wütend aus.

—Informieren wir die Polizei—schlug ich verzweifelt vor.

—Das hat keinen Zweck—antwortete er kopfschüttelnd—. Die ist zu bestechlich.

—Was dann?

—Hoffen wir, dass sie bald den nächsten Schritt tun.

Drei Stunden später erhielten wir endlich Nachricht von den Kanadiern. Sie schickten uns den Führer, den sie in Cartagena angeheuert hatten, mit einem Vorschlag:

Sie wollten uns den Professor gesund und munter zurückgeben, wenn wir ihnen dafür das Manuskript, das wir ihnen im Hotel gestohlen hatten, aushändigten. Eines aber passte nicht in unseren Plan: Wir sollten außerdem die Expedition abbrechen und nach London zurückkehren.

Obwohl uns das gar nicht gefiel, hatten wir keine andere Wahl, als den Vorschlag anzunehmen. Die Übergabe fand am selben Abend statt und der Professor kehrte ohne einen einzigen Kratzer zu uns zurück.

Am nächsten Morgen packten wir unsere Habseligkeiten zusammen und schlugen wieder den Weg zurück Richtung Cartagena ein. Die Kanadier ließen uns von zwei ihrer angeheuerten Träger bis zur kolumbianischen Küste eskortieren, von wo aus wir den Dampfer zurück nach Europa nehmen sollten.

Sie hatten nur eine Kleinigkeit übersehen. Um die Mittagszeit sprach James mit ihnen und handelte aus, dass er ihnen eine höhere Summe zahlen würde, als sie von den Kanadiern erhalten hatten. Für sie war es ein gutes Geschäft, sie erhielten Geld von beiden Seiten und verschwanden, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

Wir hingegen kehrten um und gingen denselben Weg zurück. Sie hatten jetzt zwar einen Tag Vorsprung, doch der Weg war noch weit.

In einem tiefen Tal, eingeschlossen zwischen mehreren Bergen, sahen wir endlich die Stadt Cuzco, die ehemalige Hauptstadt des Inkareichs. Der Eingang zur Stadt wurde flankiert von einer dreifachen Mauer, die in Zick-Zack-Form aus großen Steinblöcken erbaut worden war und die gesamte Stadt umgab.

Nachdem wir das geschäftige Tor hinter uns gelassen hatten, stiegen wir auf der Hauptstraße weiter nach oben und vorbei an alten zweistöckigen Kolonialbauten sowie unzähligen Kirchen. Auf dem Weg fiel uns auf, dass jene Stadt kaum etwas mit Cartagena de Indias gemein hatte. Die Bevölkerung setzte sich größtenteils aus Nachfahren der Inkas zusammen, die tief in ihrer Kultur verwurzelt waren.

Als wir einen kleinen Stadtplatz erreichten, durchquerten wir einen gut besuchten Markt, auf dem Eingeborene schwere Bündel auf ihren Rücken herumschleppten, die sie beinahe zu erdrücken schienen. Die Händler transportierten ihre Waren in nicht ganz tauglichen, bis oben hin gefüllten Wagen, und Mütter trugen ihre Neugeborenen in Tüchern, die sie sich um den Hals gebunden hatten, während die Alten neben ihnen her trotteten.

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