Das Verlorene Vermächtnis

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Nach dem Mittagessen suchte ich die Regale der Bibliothek ab. Ich erachtete es als echtes Privileg, meine Fingerspitzen über jene Buchbände gleiten lassen zu dürfen, die so viele Jahre unserer Geschichte enthielten: Stanleys persönliches Tagebuch von seiner Odyssee in Afrika bis zur Ankunft bei den Quellen des Nils inklusive der vorherigen Begegnung mit Livingstone. Die schweren Zeiten, die die Forscher der Arktis unter Shackeltons Führung durchmachen mussten, als ihr Schiff monatelang im Eis eingeschlossen war und sie dabei fast umgekommen wären. Das Rennen um die Eroberung des Südpols zwischen Amundsen und Scott, der auf tragische Weise dabei umkam, und verschiedenste andere archäologische Errungenschaften unserer berühmtesten Feldforscher.

Diese Recherche brachte mich meinem Ziel allerdings nicht näher, ich musste mir etwas einfallen lassen.

—Verzeihung, Fräulein, Sie hatten doch gesagt, dass sie abgesehen von den schriftlichen Dokumenten auch Landkarten und Stadtpläne hätten.

—Wir haben nicht nur Landkarten und Stadtpläne, sondern auch Zeitungen und Fotografien.

Wie schon am ersten Tag erblasste ich im Angesicht dieser Frau, die eine unerschöpfliche Quelle guter Neuigkeiten für mich darstellte.

Diesmal musste ich in den Keller. Dort studierte ich verschiedene Karten und Zeitungen des 19. Jahrhunderts. Obwohl die Lektüre sehr interessant war, waren die enthaltenen Informationen bereits dem Großteil der Öffentlichkeit bekannt. Meine Aufgabe war es, etwas Neues zu finden. Doch innerhalb von vier Tagen hatte ich nur ein paar nicht berichtenswerte Geschichtchen ausgegraben.

Ich war ganz in den Zeitungen versunken, die immer noch stark nach Tinte rochen, als mir jemand die Augen zuhielt und der Tintengeruch von einem wohlriechendem Parfum verdrängt wurde.

—Adriana!—rief ich aus, ohne vollständig überzeugt zu sein.

—Bist du jetzt zum Hellseher geworden?—fragte sie lächelnd.

Adriana war aus Sizilien, hatte intensive grüne Augen, lächelte oft und war die beste Tänzerin, die ich kannte. Als Kind war sie mit ihren Eltern emigriert.

—Was führt dich hierher?—fragte sie mich, während sie mir gegenüber Platz nahm.

—Ja, also, bei der Presse ist man an einem Tag im Parlament und am nächsten zur Recherche in der Bibliothek.

—Ich beneide dich. Ich habe den ganzen Tag im Friseursalon verbracht.

Lächelnd nickte ich.

—Sehen wir uns diesen Samstag im Salón?

—Klar. Mit meiner Tanzlehrerin bin ich sehr zufrieden.

—Kenne ich sie?

—Jetzt, da du fragst, fällt mir auf, wie ähnlich sie dir sieht.

Das brachte sie zum Lachen, unser Nebentisch allerdings warf uns böse Blicke zu.

—Ich lasse dich jetzt in Ruhe weiterarbeiten. Der neueste Film von Gloria Swanson läuft heute Abend im Kino. Kommst du mit?

—Unmöglich. Ich habe zu viel zu tun. Wir sehen uns Samstag.

Sie gab mir einen Kuss auf die Wange und schritt lächelnd davon.

Wenig später entdeckte ich zwischen den Regalen den Kerl, der mich schon vor drei Tagen beobachtet hatte. Ohne darüber nachzudenken, stand ich auf und wollte eine Erklärung verlangen, aber als ich dort ankam, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte, war niemand mehr da. Ich suchte die umliegenden Gänge ab, fand ihn aber nicht. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Langsam kam mir das Ganze verdächtig vor.

Am folgenden Freitag kam mir zu Ohren, dass mein Chef mit meiner Arbeit unzufrieden war. Ich hatte ihm wieder und wieder gesagt, dass ich Hilfe bei der Recherche benötigte, aber er nahm meine Empfehlungen nicht ernst.

Ich musste die gesamte Arbeitslast schultern. Das frustrierende daran war, dass Zeitung und Chefredakteur allen Ruhm einheimsen würden, sollte die Rubrik Erfolg haben. Für mich bliebe nur eine kurze Personenbeschreibung unter den Artikeln mit gedrucktem Namen, während ich bei einem Misserfolg alle Schuld auf mich nehmen müsste.

Nach einer Woche Recherche zitierte mich Mr. Dillan in sein Büro. An der Tür angekommen bemerkte ich, dass man die Glasscheiben zu seinem Büro ausgewechselt hatte und sein Name darauf auf einem großen Schild zu lesen war.

—Was haben Sie heute für mich?—fragte er mich skeptisch. Von meinen Kollegen wusste er bereits, dass ich noch nichts Neues entdeckt hatte—. Haben Sie etwas gefunden, das sich veröffentlichen lässt?

Ich nahm Hut und Trenchcoat ab und hängte sie an den Garderobenständer, der gleich neben dem Schirmständer stand. Danach nahm ich in einem abgewetzten Stuhl aus Eichenholz Platz.

—Ich habe ein paar Geschichten über Afrikaforscher, die an der Westküste auf kleinere Flüsse gestoßen sind.

Der Schotte schüttelte mehrmals den Kopf.

Er näherte sich dem Radio und ließ einen langweiligen Vortrag des Premierministers verstummen.

—Wenn wir dem ein kleines Abenteuer hinzufügen und ein wenig ausschmücken, dann lässt sich das schon drucken.

—Mehr haben Sie nach einer ganzen Woche nicht?—antwortete er mit fest auf mich gerichtetem Blick—. Waren Sie etwa im Club mit dieser Braunhaarigen?

Ich schüttelte den Kopf.

—Ich habe jeden Tag im Museum gearbeitet—versicherte ich ihm—. Meine italienische Freundin bringt mir nur den Charleston bei.

—Diese Frechheit von einem Tanz aus Amerika?

—Es macht Spaß—sagte ich lächelnd—. Sie sollten es mal versuchen.

Mr. Dillan strafte mich mit einem so scharfen und unfreundlichen Blick, dass ich verlegen zu Boden blickte.

—Die Geographische Gesellschaft gab uns die Erlaubnis, in ihren Einrichtungen zu recherchieren—verkündete er, während er mir das Dokument überreichte—. Ab morgen arbeiten Sie dort.

—Wunderbare Neuigkeiten, Sir.

—Ich hoffe nur, dass Sie nächstes Mal etwas Besseres für mich haben. Und jetzt verschwinden Sie. Ich habe zu viel zu tun.

Ich wälzte mich noch ein paarmal im Bett herum, bevor ich aufstand und mir einen starken Kaffee machte. An jenem Morgen fühlte ich mich wie neu geboren. Ich freute mich auf meinen erster Arbeitstag in der Königlichen Geographischen Gesellschaft, der höchsten Instanz auf dem Gebiet. Dort durften für gewöhnlich nur Persönlichkeiten forschen, die an den Universitäten Oxford und Cambridge erheblichen Einfluss genossen. Glücklicherweise war Mr. Dillan der Neffe einer der einflussreichsten Mäzenen jener Institution, weshalb mir eine zweiwöchige Recherche in ihren erhabenen Hallen gestattet wurde.

Zwar war die Bibliothek der Gesellschaft etwas kleiner als die des Britischen Museums, doch enthielt sie wahre Schätze. Die ersten Tage meiner Recherche bescherten mir allerdings ähnliche Niederlagen wie die Woche davor. Wieder fand ich lediglich die Namen der berühmtesten Abenteurer, die das Geschichtsbuch des Britischen Empires mit glorreichen Erlebnisberichten gefüllt hatten.

Doch dann stieß ich endlich auf etwas, wo ich es am wenigsten erwartet hatte. Ich ging gerade einige Expeditionen im Nahen Osten durch, als mir ein Name auffiel, der sich im Kontext von Ausgrabungen in den Gebieten Mesopotamiens und Ägyptens mehrmals wiederholte: Henson.

Auffällig war, dass der Name immer nur in den dem Original beigefügten Anhängen auftauchte, nie im offiziellen Tagebuch der Expedition; das machte mich besonders neugierig. Ich führte meine Recherche fort, stieß aber während der nächsten zwei Tage bei keiner anderen Expedition mehr auf seinen Namen. Ich konnte nicht sicher sein, ob der Grund dafür sein Tod oder sein Verschwinden war.

Dieser ungewöhnliche Fall schien mir so interessant, dass ich mich ihm ganz widmen wollte.

Ich begann mit einer detaillierten Suche. Erst ging ich im Index alphabetisch die Namen aller Forschungsreisenden durch und danach chronologisch nach Datum, jedoch tauchte der Name auch dort nicht wieder auf.

Also suchte ich einen anderen Weg und fragte den Archivverantwortlichen, ob er diesen Henson kannte. Leider hatte er den Posten erst seit ein paar Jahren inne und den Namen noch nie gehört.

Nach meiner Mittagspause, genossen mit einer Fleischpastete mit Gemüse, kehrte ich in die Redaktion zurück und fragte Kollegen, die schon länger bei der Zeitung waren als ich, ob ihnen der Name bekannt vorkam. Niemand hatte je von ihm gehört.

Am Nachmittag kehrte ich zurück in die Bibliothek der Geographischen Gesellschaft und suchte stundenlang weiter. Wieder zog ich das Personenverzeichnis zurate, wandte mich danach den persönlichen Tagebüchern zu, die es von einigen der Abenteurer gab, und schloss mit einer Suche im topographischen Verzeichnis ab.

In jenem letzten Verzeichnis entdeckte ich endlich seinen Namen im Zusammenhang mit einer Expedition nach Südamerika. Die Sache wurde immer unglaublicher, da nur wenige britische Forschungsreisen je in diese entlegenen Gegenden vorgestoßen waren.

Außergewöhnlich daran war, dass ich ihn wieder nur in einem beigefügten Dokument entdeckte, im Expeditionsjournal tauchte sein Name nicht auf.

Ich stieß auf insgesamt drei Erwähnungen: zwei im Mittleren Osten und eine in Amerika; allerdings waren die enthaltenen Informationen unzureichend.

Den Rest des Tages verbrachte ich mit der Suche nach etwas Neuem, aber dieser Henson schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

Langsam frustrierte mich die ganze Angelegenheit: Die Leserschaft der Zeitung würde sich mit einer kleinen Entdeckung in Amerika zufriedengeben müssen und erst mit ein paar Ausschmückungen würde die Lektüre ein Mindestmaß an Spannung enthalten.

An jenem Abend ließ ich beim Verlassen des Büros den Kopf hängen. Ein starker Platzregen wurde immer heftiger und ich spannte den Regenschirm auf. Auf der Straße und am Gehweg hatten sich mehrere Pfützen gebildet und die Straßenlaterne von dem Eingang flackerte immerzu.

 

Der Portier, mit dem mich mittlerweile eine Art Freundschaft verband, trat zu mir.

—Wie lief’s mit den Nachforschungen?—fragte er mich, während Regentropfen auf den Schirm prasselten.

—Schlecht. Über diesen Henson lässt sich nichts Erwähnenswertes finden.

—Gestern lief ich dem alten Portier der Geographischen Gesellschaft über den Weg. Er erinnert sich daran, dass es vor ein paar Jahren einen gewissen Henson in der Geographischen Gesellschaft gegeben hat.

—Aber ja! Warum habe ich daran nicht schon früher gedacht? Ich hätte die ehemaligen Angestellten befragen sollen.

Samuel näherte sich der Straßenlaterne und trat ein paarmal dagegen, was das Problem löste. An Regentagen ging das Licht öfter mal aus.

—Wie lange ist hier noch offen?

—Eine halbe Stunde. Freitags schließen wir schon früher.

—Ich muss etwas finden, um weiterrecherchieren zu dürfen.

Rasch lief ich die Treppe wieder nach oben und suchte zwischen den älteren Bänden das Datum, das ich gefunden hatte. Die fruchtbarste Zeit der Unternehmungen der Geographischen Gesellschaft begann ab 1850, wo ich auch meine Recherche begonnen hatte. Gegründet wurde sie allerdings schon 1830, ich hatte also ganze zwei Jahrzehnte einfach ignoriert.

Es bestätigte sich, dass die Aufzeichnungen aus jener Periode nichts mit den anderen aus meiner früheren Recherche gemein hatten: In den ersten Jahren war die Gesellschaft nicht besonders aktiv gewesen.

Ich beschloss also, mir ihre Anfänge näher anzusehen. Alles ging viel schneller, als ich erwartet hatte. Schon auf den ersten Seiten fand ich seinen Namen: Philip Henson. Er war einer der Gründer der Geographischen Gesellschaft und stammte aus Nordengland, genauer gesagt, aus der Stadt Newcastle.

Nach einer Weile machte mich Samuel darauf aufmerksam, dass sie bald schließen würden. Ich war für seine Informationen sehr dankbar, da ich meine Nachforschungen ohne sie nicht hätte fortsetzten können. Jetzt hatte ich etwas Handfestes gefunden und würde mir mehr Zeit für meine Recherche erbitten können.

Die nächsten Tage verbrachte ich in der Bibliothek und las alles über die Geschichte dieses Henson, der aus einer nordenglischen Industriellenfamilie stammte, die mit Kohle ein Vermögen angehäuft hatte.

Seinen Militärdienst hatte er auf dem Stützpunkt Janipur geleistet, wo er auch seine Frau Maureen kennenlernte, deren Familie ebenfalls dort stationiert gewesen war. Nach seiner Rückkehr nach England arbeitete er im Bergbaubetrieb seiner Familie und widmete seine spärliche Freizeit seiner großen Leidenschaft: der Geografie. Er hielt Kontakt mit seinen Kommilitonen von der Universität und ließ sich von ihnen überreden, der erst kürzlich gegründeten Geographischen Gesellschaft beizutreten.

Bald war er jedoch nur noch ein symbolisches Mitglied, da er sich hauptsächlich dem Geschäft widmen musste, und nahm an den Ratsversammlungen nur dann teil, wenn seine beruflichen Verpflichtungen es gestatteten. Er hatte Sprach- und Stimmrecht, schloss sich allerdings keiner der organisierten Expeditionen in die britischen Territorien an. Erst als er in den Norden Spaniens übersiedelte und auf der Iberischen Halbinsel eine Geographische Gesellschaft gründete, unternahm er selbst eine Expedition.

Das ergab keinen Sinn. Ich hatte seinen Namen bei drei Expeditionen gefunden, in seiner Biografie jedoch wurde nur sein Beisitz bei den Ratsversammlungen erwähnt.

Ich verließ die Bibliothek und suchte Samuel, den ich beim Überprüfen des Besucherverzeichnisses fand.

—Ich brauche die Adresse des ehemaligen Portiers. Ich würde ihn heute Nachmittag gern besuchen.

—Wohnadresse ist keine nötig. Mr. Mason frequentiert jeden Tag das Two Swans. Ein Pub am Ende der Kensington Road.

Ohne weiter darüber nachzudenken, machte ich mich zu diesem Pub auf, um mit Mason zu reden. Dabei wollte ich auch gleich einen guten Schmorbraten genießen.

Das Pub lag in einem Kellergeschoß und hatte eine in die Jahre gekommene schwarze Fassade.

Als ich eintrat, fiel mir sofort auf, dass es trotz der Tageszeit schon recht gut besucht war. Der Gin, der dort gebrannt wurde, konnte ein Pferd umhauen, und an der Theke wurde der Geruch noch intensiver.

—Kennen Sie Mr. Mason?—fragte ich den Wirt.

—He, Kumpel! Fragen Sie nach Mason?—rief ein langer, schmaler Typ mit auffälligen Augenbrauen, der an einem Tisch nahe der Bar saß.

—Sind Sie das?—fragte ich.

—Kommt drauf an, wer fragt. Aber wer auch immer mich auf ein Glas einlädt, ist mir willkommen.

Ich wandte mich zur Theke um und bestellte zwei Bier.

Der Wirt nickte und lächelte. Aus der Küche stieg mir der Duft eines frisch zubereiteten Schmorbratens in die Nase; ich hatte einen Riesenhunger. Ich schnappte mir die Biergläser und setzte mich zu Mr. Mason an den Tisch.

—Ich heiße Paul und bin Korrespondent beim Daily Tel…

—Ich weiß, wer Sie sind—unterbrach er mich.

Er machte einen großen Schluck Bier und stellte das Glas dann auf den Tisch.

—Ich erinnere mich nur an einen Henson. Er kam jedes Jahr ein Mal.

—Warum nahm er nicht an den anderen Treffen teil?—wollte ich wissen—. Soweit ich weiß, war er einer der Mitgründer.

—Ganz einfach. Das Bergbauunternehmen, bei dem er beschäftigt war, schickte ihn nach Spanien. Er besuchte die Geographische Gesellschaft nur, wenn er Urlaub hatte.

An einem der Tische wurde aufgeregt wegen einer Partie Bridge diskutiert. Und etwas weiter war zu hören, wie sich Dartpfeile unablässig in die Scheibe bohrten.

—Wissen Sie noch mehr?

Mason schüttelte den Kopf.

—Vielen Dank. Ich habe noch Arbeit zu erledigen—ich schüttelte ihm die Hand und kehrte in die Bibliothek zurück.

Ich befand mich in einer Sackgasse. Philip Hensons Leben war uninteressant. Nach einer ganzen Woche hatte ich immer noch nichts, das veröffentlicht werden konnte.

Also bat ich meinen Chef um ein Interview mit seinem Onkel, der ihn als Einziger noch gekannt hatte. Leider stellte sich das als unmöglich heraus, da sich sowohl Gesundheit als auch Gedächtnis des rund Neunzigjährigen in recht schlechtem Zustand befanden und ihm Besuche strengstens untersagt waren.

Noch blieb mir eine Woche Zeit für die Recherche, aber ich wusste einfach nicht, wo ich mit meiner Suche anknüpfen sollte. Beweise hatte ich nur dafür gefunden, dass seine Familie aus Newcastle stammte und ihr ein Teil des Bergwerksunternehmens North Scale Gießereien gehörte.

Nach einer Tasse Tee machte ich mich zum Sitz der Bergwerksvereinigung in London auf. Das Gebäude mit Ausblick auf den Big Ben erhob sich am Ufer der Themse.

Mr. Harris, ein verdrossener Buchhalter mit tiefen Ringen unter den Augen, empfing mich in einem elegant eingerichteten Büro. Dekoriert war das viktorianische Zimmer mit Fotografien aus der Bergwerksindustrie und ein paar Porzellanvasen.

—Kommen Sie herein und setzen Sie sich—sagte er zuvorkommend—. Wie kann ich Ihnen helfen?

Es war ein windiger Tag und ich musste erst Hut und Schal ablegen, bevor ich mich setzte.

—Ich bin auf der Suche nach Informationen über einen Mann, der in Ihrem Unternehmen einen hohen Posten innehatte: Mr. Philip Henson.

—Ich fürchte, dass ich leider nie das Vergnügen hatte, ihn persönlich kennenzulernen. Mr. Henson ist schon vor einigen Jahren verstorben.

Auf dem Tisch lag ein glänzender Bergarbeiterhelm und ein riesiges Stück Kohle in einem Urnengefäß. Ich machte Anstalten, es anzufassen, hielt mich dann aber doch zurück, weil ich Harris’ finsteren Blick bemerkte.

—Können Sie mir etwas über ihn erzählen?

—Ich weiß nur, dass seine Familie aus der Grafschaft Melvintone stammt, außerhalb von Newcastle.

Die Türen gingen auf und seine Sekretärin erinnerte ihn daran, dass man ihn erwartete.

—Lebt seine Frau dort?

—Mehr weiß ich nicht.

—Vielen Dank, Mr. Harris. Das war sehr nett von Ihnen.

Wir schüttelten uns zum Abschied die Hand und ich verließ das Büro.

Als ich aus dem Gebäude heraustrat, sah ich am Ende der Straße bereits die Straßenbahnstation, von der aus ich meinen Heimweg antreten wollte. Unter den Fahrgästen, die in den Waggon einstiegen, glaubte ich den Kerl wiederzuerkennen, der mich im Museum beobachtet hatte.

Ohne weiter darüber nachzudenken, rannte ich zur Haltestelle; einige der Fußgänger, die ich aus dem Weg stoßen musste, riefen mir verständliche Rügen nach. Die Entfernung schien nicht groß, aber je länger ich rannte, desto mehr blieb mir die Luft weg; ich war alt geworden, ohne es gemerkt zu haben.

Ich schaffte es gerade noch, mich am hinteren Geländer des Waggons festzuhalten, als die Straßenbahn sich in Bewegung setzte. Völlig erschöpft stieg ich ein. Ich ging in die Hocke und musste so stark husten, dass ich mich beinahe übergeben hätte.

Dann geriet meine Umgebung in Bewegung. Als ich aufsah, konnte ich gerade noch beobachten, wie der Kerl durch die andere Tür verschwand, nachdem er mich bemerkt hatte. Doch um ihn noch weiter zu verfolgen, fehlte mir die Kraft.

Noch vor Sonnenaufgang fuhr ich zur Victoria Station und kaufte mir eine Fahrkarte für den Zug nach Newcastle. Das war meine letzte Chance, und die wollte ich mir nicht entgehen lassen.

Die Reise war sehr kurzweilig. Die Fahrt dauerte weniger als vier Stunden, währenddessen ich Gelegenheit hatte, die prächtigen Farben der frühlingshaften Landschaft Englands zu bewundern.

Newcastle präsentierte sich Grau in Grau mit niedrigen Häusern und einer eher mürrischen Bevölkerung, die Fremde nicht allzu herzlich willkommen hieß. Zum Glück hatte ich keinen Urlaub geplant, sondern nur einen Aufenthalt von höchstens zwei Tagen.

An jenem Morgen mietete ich ein Auto und fuhr aus der Stadt hinaus. Die Landschaft war genau so, wie Emily Brontë sie in ihren Romanen beschrieben hatte: nebelige Brachen mit spärlicher Vegetation, übelriechende Sümpfe und kleine Hügel, die der stetig starke Wind und die Kälte schon beinahe abgetragen hatten. Dazu kam noch der ständige Regen, der hier noch intensiver als im Rest des Landes war.

Die Nacht verbrachte ich in einem Dorfhotel, das der Villa der Familie Henson am nächsten lag, und nachdem ich dort eine hervorragende Mahlzeit genossen hatte, wies der Wirt mir den Weg zu ihren Ländereien.

Die Hensons wohnten auf einem Anwesen, das sich über mehrere Hektar Land erstreckte und nicht weit von meiner nächtlichen Herberge entfernt lag. Sie bewohnten ein beeindruckendes doppelstöckiges Herrenhaus aus dunklem Granit, erbaut im 18. Jahrhundert. Es war über und über mit Kletterpflanzen bewachsen, die sich bis zu den großen Fenstern erstreckten. Rechts davon war ein kleiner, von Birken umgebener Teich zu erkennen, in dem mehrere majestätische Schwanenpaare badeten.

Der Butler ließ mich eine Weile an der Tür warten, bevor er mir bedeutete, ihm in den hinteren Bereich der Villa zu folgen, wo sich eine ältere Dame gerade mit herrlichen Rosen beschäftigte.

Es handelte sich um die Schwester, Emma Henson, die zu ihrem silberfarbenen Haar und dem breiten Lächeln ein elegantes weißes Kleid trug.

—Ich freue mich, Sie kennenzulernen—sie nahm den Gartenhandschuh ab und streckte mir die Hand entgegen.

—Ganz meinerseits.

—Ich wurde unterrichtet, dass Sie aus London kommen und zu meinem Bruder wollen.

—So ist es. Ich bin Korrespondent beim Daily Telegraph. Wir arbeiten gerade an einer Reportagereihe über die Geographische Gesellschaft.

Wortlos gab Miss Henson dem Buttler eine Anweisung und wenig später wurde uns Tee mit einem Stück Himbeertorte serviert.

—Wir wissen, dass Ihr Bruder einer der Mitgründer der Geographischen Gesellschaft war und dass er später nach Spanien ging.

—Dort gründete er einen Ableger der Geographischen Gesellschaft von London. Damals war es gang und gäbe, dass im Ausland ansässige Geographen neue Gesellschaften gründeten, die sich am Original orientierten.

Am anderen Ende des Gartens waren die Scheren des Gärtners zu hören, der gerade eine üppige Hecke zurechtschnitt.

 

—Wissen Sie vielleicht, welche Expeditionen die spanische Gesellschaft organisiert hat?

Sie schüttelte den Kopf.

—Was ist mit den Expeditionen nach Südamerika und in den Nahen Osten?

—Von diesen Expeditionen weiß ich nichts. Davon höre ich zu ersten Mal.

Über unserem Tisch begannen sich die von dem süßen Gebäck angezogenen Insekten zu überschlagen, die Miss Henson mit flinken Gesten wieder verscheuchte.

—Wäre es möglich, mit Ihrer Schwägerin zu sprechen? Vielleicht weiß sie mehr darüber.

—Philips Ehefrau ist schon vor einigen Jahren verstorben. Sie war so gut wie ihr ganzes Leben lang krank. Ihr war nur wenig Zeit mit ihrem Ehemann vergönnt.

Ich nahm einen Bissen von einem Gebäck und atmete das Aroma des Jasmintees ein. Da ich sicher war, dass diese Unterhaltung sonst zu nichts führen würde, wollte ich die Teestunde einfach nur genießen. Es wurde immer schwieriger, Fakten zu der Geschichte zu bestätigen.

Doch da lächelte Emma plötzlich.

—Glauben Sie, dass etwas mit den Aufzeichnungen der Geographischen Gesellschaft nicht stimmt?

—Vielleicht betrifft es weniger die Aufzeichnungen als die Person—gab sie zurück—. Suchen Sie auch bestimmt den richtigen Henson?

—Ich verstehe nicht.

—Vielleicht suchen Sie eigentlich James.

—Wer ist James?

—James ist Philips Sohn. Er entwickelte schon sehr früh eine Leidenschaft für Geschichte und Geografie. Als Jugendlicher lebte er einige Jahre in Spanien. Später kehrte er nach England zurück, um an der Universität Oxford Archäologie zu studieren. Er hatte großen Abenteuergeist.

Auf meinem Gesicht zeichnete sich ein breites Grinsen ab. Jetzt wurde langsam alles klar. Die Aufzeichnungen, die ich gefunden hatte, stammten aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.

—Die Datumsangaben, die ich gefunden habe, stimmen mit dem Alter des Sohns überein. Ich konnte zwischen den Informationen, die ich in den letzten Wochen gesammelt hatte und Philip keinen Zusammenhang herstellen.

Sie lachte zufrieden.

—Und sagen Sie mir: Wo kann ich ihn finden?

—Seit seinem Studium habe ich nichts mehr von dem Jungen gehört. Wir haben ihn schon vor Jahren aus den Augen verloren. Das Letzte, was ich von ihm weiß, ist, dass er im Großen Krieg verwundet wurde.

—Können Sie mir beschreiben, wie er war?

—Er war eher dunkel mit den stechend blauen Augen seines Vaters und auch demselben Leuchten. Groß und gutaussehend mit markanten Gesichtszügen—sie hielt kurz inne, bewegt von der Erinnerung an ihren Neffen—. Er war ein aufgeweckter Junge und sehr intelligent.

—Vielen Dank, Lady Emma. Sie waren mir eine große Hilfe. Ich muss den ersten Zug zurück nach London erwischen.

Auf meiner Heimreise ging mir die Angelegenheit einfach nicht aus dem Kopf. Doch endlich nahm die Geschichte Gestalt an, was meinen Chef bestimmt davon überzeugen würde, meine Nachforschungen weiter zu finanzieren.

Ich suchte Mr. Dillan in seinem Büro auf und erzählte ihm die ganze Geschichte. Sichtlich überrascht von den Ergebnissen meiner Recherche sagte er mir so viel Zeit zu, wie nötig wäre, um das Geheimnis zu lüften.

Ohne auch nur einen Augenblick Zeit zu verlieren, machte ich mich nach Oxford auf, von London aus nur eine kurze Strecke.

Im Gegensatz zu Newcastle herrschte in der dortigen Landschaft ein sattes Grün vor. Es breitete sich kilometerweit aus, so weit das Auge reichte, und war durchzogen von vielen Wasserwegen, die noch aus der Zeit der Industriellen Revolution stammten und in unterschiedlichen Teilen des Landes ihren Ausgang nahmen.

Die einige Jahrhunderte alten Gebäude hier waren wahre Perlen der Architektur. Es bereitete mir großes Vergnügen, mich in den Straßen der Stadt zu verlieren und die ihr eigene universitäre Atmosphäre einzuatmen, während aus allen Ecken Studenten strömten.

Ich kam gerade zur Mittagszeit an und nahm in einem gut besuchten Pub im Zentrum ein paar Sandwiches und ein Glas Bier zu mir.

Die Universität selbst setzte sich aus mehreren gotischen Gebäuden zusammen, deren großzügige Verglasung die Innenräume mit Licht füllte. Beim Durchqueren des Campus-Gartens saßen links von mir mehrere Gruppen von Studenten, die sich im Schatten verschiedener Bäume unterhielten, während rechts von mir auf einer großen Wiese ein Rugby-Match seinen Lauf nahm und am Ende des Wegs einige Athleten mehrere Ruderboote auf ihren Schultern transportierten.

Den Pförtner kannte ich bereits von früheren Recherchearbeiten. Ein rundlicher Ire mittleren Alters mit hervorragenden Umgangsformen, der mich stets herzlich willkommen hieß.

—Guten Tag, Richard. Wie geht es Ihnen?

—Sehr gut. Was führt Sie heute hierher?

—Ich suche nach der Biografie eines Studenten, der hier im letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts studiert hat.

—Das sollte sich leicht finden lassen. Kennen Sie seinen vollen Namen?

—Ja, James Henson.

—Gehen Sie zum Sekretariat und füllen Sie ein Formular aus.

Kurz nach Betreten des Gebäudes kam ich an einer Klasse vorbei, aus der die Philosophievorlesung eines Professors zu mir auf den Flur drang.

Es dauerte nur wenige Minuten, bevor ich James’ Lebenslauf gefunden hatte. Während seiner fünfjährigen Studienzeit auf der archäologischen Fakultät hatte er ein Orientalistik-Studium mit Spezialisierung auf Keilschrift abgeschlossen. Das erklärte seine Expeditionen in den Orient, das Rätsel der Südamerikareise konnte ich allerdings immer noch nicht lösen.

Ich wandte mich wieder an Richard und fragte, ob jemand mir in dieser Sache weiterhelfen könnte.

—Die Fakultät der Orientalistik ist die größte am ganzen Campus. Alle Studenten wollen die großen Geheimnisse der ägyptischen Zivilisation lüften.

Ich nickte zustimmend.

—Professor McKingley könnte Ihnen wohl an ehesten weiterhelfen. Er ist aus demselben Jahrgang. Möglich, dass er ihn kennt. Diese Woche ist er allerdings bei einem Kongress über die Archäologie des Nahen Ostens, der in Berlin stattfindet. Auf ihn werden sie warten müssen.

In dem Augenblick läutete die Glocke das Ende des Studientags ein und die Gänge füllten sich mit dem lautstarken Geschwätz der Studenten.

—Wer könnte mir mit der Expedition nach Lateinamerika weiterhelfen?—fragte ich, wobei ich mir Mühe geben musste, den ohrenbetäubenden Geräuschpegel zu übertönen.

—Damit haben Sie etwas mehr Glück. Auf dieses Gebiet sind nur einige wenige hier an der Fakultät spezialisiert. Die führende Expertin auf diesem Gebiet ist Lady Margaret. Ihr Büro liegt im zweiten Stock des Westflügels.

Unterwegs dorthin durchquerte ich das eindrucksvolle Atrium und stieg die zwei Treppen zu ihrem Büro hoch, wo ich an der Tür klopfte. Sie empfing mich freundlich und bat mich in ihr Büro.

Lady Margaret trug ein grünes Kostüm, das ihren Augen eine noch größere Intensität verlieh; ihr blondes Haar hatte sie zu einem eleganten Dutt aufgesteckt, der die Schönheit ihrer Gesichtszüge, insbesondere ihre prominenten Wangenknochen, voll zur Geltung brachte.

—James? Ja, natürlich kenne ich ihn. Wir haben zusammen eine Expedition nach Südamerika unternommen. Wir waren einer präkolumbischen Zivilisation auf der Spur.

—Wann war das?—fragte ich lächelnd.

—Anfang des Jahrhunderts.

—Ich habe zu dieser Expedition Nachforschungen in der Geographischen Gesellschaft angestellt und konnte kaum Informationen dazu finden. Lediglich auf der Rückseite eines Dokuments fand ich seinen Nachnamen.

—Dann haben Sie vielleicht nicht richtig gesucht—antwortete sie sehr überrascht—. Jetzt, da Sie es erwähnen … Als ich das letzte Mal das Register durchsucht habe, fand ich lediglich meine eigenen Angaben. Das kam mir damals auch seltsam vor.

Ihre Worte beunruhigten mich; diese Antwort hatte ich nicht erwartet.

—Sie müssen mich entschuldigen, aber ich halte in wenigen Minuten eine Vorlesung—sagte sie, während sie sich mit ein paar Büchern in der Hand erhob—. Wenn Sie noch mehr wissen wollen, könnten Sie mich heute Nachmittag bei mir zu Hause besuchen.