NOTH GOTTES

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„Wow. Wird ja immer interessanter. Gehört das auch zur Ausbildung zum Profiler?“



„Nee, das mache ich zu meinem Privatvergnügen.“



„Aha. Und, lass‘ mich raten. Du hast rausgefunden, dass auf den städtischen Friedhöfen, wie Offenbach und Frankfurt, mehr Grablaternen gemopst werden, als in den ländlichen Gegenden, weil dort, rein statistisch gesehen, mehrere von den Dingern rumstehen.“



„So einfach ist das nicht“, widersprach Harald. „Es gilt zu unterscheiden zwischen reinem Vandalismus oder auch Antisemitismus, zum Beispiel auf jüdischen Friedhöfen. Dazu kommt die Zerstörung zwecks Diebstahls der Materialien, wie Kupfer oder Bronze.“



„Ich unterbreche eure wissenschaftliche Diskussion nicht gerne. Aber wir haben eine Leiche. Ihr erinnert euch?“



Nicole trank den letzten Schluck ihres jetzt kalten Kaffees und verzog das Gesicht. „Lars, forderst du bitte den Bericht von den Kollegen des KDD an? Harald setz‘ dich bitte mit der Spurensicherung in Verbindung. Wir brauchen so schnell wie möglich die Aufnahmen des Tatortes und ein Foto der Frau, damit wir die Identität feststellen können. Dr. Lechner versicherte mir, dass weder Ausweispapiere noch ein Handy gefunden wurden. Wir haben also, bis jetzt, eine Jane Doe.“



„Frag doch mal deine Vermieterin, Helene“, schlug Lars vor. „Vielleicht kennt sie die Tote. Oder die andere, diese kleine auskunftsfreudige Person, die neben den Verbuddelten wohnte. Wie hieß sie gleich noch? Gerda Weber, Gudrun Walter?“



„Gundula Krämer“, antwortete Nicole gepresst.

 Die würde mir jetzt gerade noch fehlen.



Sofort stellte sich bei ihr ein Druck in der Magengegend ein und erinnerte sie an den Mordfall vor zwei Jahren in Seligenstadt. Damals hätte sie Stein und Bein geschworen, dass es bei diesem einmaligen Kapitalverbrechen bleiben würde. „Ich erkundige mich bei der Gerichtsmedizin. Vielleicht wissen die schon etwas mehr.“



„Die Begeisterung bei den Leichenfledderern wird riesig sein, wenn sie deine Stimme hören“, prophezeite Lars.



„Das will ich doch hoffen.“ Nicole verzog das Gesicht.



Ein kurzes Klopfen. Die Tür wurde aufgerissen.



„Schönen guten Morgen, wünsche ich.“ Ein sommersprossiger, etwa siebzehnjähriger Jugendlicher, mit blonden struppigen und nach allen Seiten abstehenden Haaren, kam mit langen Schritten auf Nicole zu und reichte ihr eine schmale Akte. „Mit bestem Gruß von den Kollegen des KDD. Der Bericht zu der Toten in Seligenstadt.“



Er hob zwei Finger seiner linken Hand an die Stirn. „Wünsche erfolgreiche Ermittlungen.“



„Was war jetzt das?“ Harald starrte zur Tür, durch die der junge Mann schon wieder verschwunden war.



„Würde sagen, dein Ruf eilt dir voraus“, feixte Lars in Richtung seiner Chefin.



„Und ich sage, höflich, fix und guterzogen“, kommentierte Nicole. „Macht Hoffnung auf die Verwirklichung meiner Pension.“



„Und erspart mir ein Telefonat“, fügte Lars hinzu. „Soll ich schon mal?“



Er streckte seinen Arm nach der Akte aus, die Nicole im Schnelldurchgang gerade überflog. Sie überließ ihm die Unterlagen und griff zum Telefon.



Wie von Lars Hansen vorausgesagt, waren die Mitarbeiter der forensischen Abteilung

Feuer und Flamme

, als sie Nicoles Stimme hörten. Dr. Viktor Laskovic, derzeitiger Vertreter von Dr. Martin Lindner, dem leitenden Rechtsmediziner, machte nahezu Freudensprünge.



„Meine liebste Kriminalhauptkommissarin“, tönte es von anderem Ende der Leitung. „Es ist immer wieder schön, ihre sanfte Stimme zu hören, gerade nach sechs längeren Obduktionen. Zumindest die Dahingeschiedenen hatten keine Einwände wegen der Reihenfolge.“



Ein nervöses Lachen folgte. „Der Staatsanwalt schon.“



„So schlimm?“ Nicole versuchte Mitgefühl durch das Telefonkabel zu transportieren.



„Schlimmer. Kaum ist der Doc im wohlverdienten Urlaub, bricht hier auch schon die Hölle aus. Als ob die Mörder sich gegen uns verschworen hätten.“



Nicole hörte ein tiefes Schnaufen.



„Na gut, zwei Unfallopfer waren auch unter den Toten. Die Armen sind vom Gerüst einer Baustelle gestürzt. Sollen illegal beschäftigt gewesen sein, weshalb wir Druck vom Staatsanwalt bekommen, dem wiederum der Oberbürgermeister im Nacken sitzt.“



„Wegen zwei Unfallopfern?“



„Eh …, ja. Es handelt sich um ein Gebäude, das vom Land Hessen in Auftrag gegeben wurde. Die Öffentlichkeit wäre alles andere als begeistert, sollte sie erfahren, dass Vater Staat

illegale

Arbeiter beschäftigt. Wirkt sich garantiert nicht sehr gut auf die demnächst anstehenden Wahlen aus.“



Viktor Laskovic fütterte Nicole eine gefühlte Ewigkeit mit Begründungen, weshalb die Staatsanwaltschaft positive


und für den Rechtsstaat reinwaschende Resultate aus dem rechtsmedizinischen Institut in der Kennedyallee erwartete.



Normalerweise redete Viktor ein gebürtiger Rumäne stets nur das Nötigste und das in einer verständlichen Sprache – den meisten Medizinern unbekannt – und zeitweilig sogar gepaart mit einer Spur neckischem Humor, der ihm jetzt total abging.



Der Ärmste ist echt urlaubsreif. Wie viele Tassen Kaffee hat er wohl schon intus?

, fragte sich Nicole.



„Aber das interessiert sie bestimmt nicht besonders.“



„Aber doch, ja“, gab sie zurück. „Jetzt geht denen da oben der Allerwerteste auf Grundeis, wie man so sagt.“



„Richtig. Allerwerteste. Eh … also, ich, eh …“



Nicole grinste. „Schon gut, Victor. Erzählen sie mir einfach etwas über die Tote aus Seligenstadt. Der Bericht liegt mir noch nicht vor. Das sollte keineswegs ein Vorwurf sein“, ergänzte sie schnell.



„Eh, ja. Also.“



Es wurde ruhig in der Leitung. Lediglich Papier raschelte.



„Victor?“



„Nicole?“ Kurzes Räuspern. „Die Blutuntersuchung ergab einen Alkoholspiegel von 2,3 Promille. Das haut den stärksten Kerl um, geschweige eine junge Frau von kaum fünfzig Kilo. Außerdem zeigte die chemisch toxikologische Analyse einen beträchtlichen Drogenkonsum.“



Erneute Pause. „Eh, ja. Der Tod trat so etwa zwischen zweiundzwanzig und zweiundzwanzig Uhr dreißig ein. Das wäre für den Moment alles. Ach ja, die junge Frau hatte Sex – einvernehmlich.“



Wieder ein Hüsteln. „Mit verschiedenen Personen, ansonsten war sie gesund. Eh … soll bedeuten, definitiv kein Herzinfarkt. Und, sie war Vegetarierin.“



Inwiefern relevant sein sollte, dass die Frau Vegetarierin gewesen war, konnte Nicole nicht mehr erfragen. Die Leitung war augenblicklich so tot wie die Leichen auf Viktor Laskovics Metalltischen.






Freitag, 28. August 2015 – 10:15 Uhr






Nach Sichtung der Videoaufnahmen der Kriminaltechnik, jagte Harald Weinert das Lichtbild der Toten sofort durch die Datenbank. Erfolg gleich null. Im Grunde hatte er auch kein positives Feedback erwartet. Glücklicherweise war nicht jeder, der tot in der Rechtsmedizin lag, im kriminellen Milieu unterwegs und entsprechend aktenkundig. Aber, irgendwo musste er ja ansetzen.



Er hob den Kopf und sah durch die Glasscheibe. Nicole hatte Ihre Beine auf der Schreibtischplatte abgelegt. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich um ein längeres Telefonat handelte, vermutlich noch mit den Kollegen in der Kennedyallee. Am Schreibtisch gegenüber arbeitete Lars sich durch die schriftlichen, wie immer akribisch verfassten Details vom Kriminaldauerdienst.



Harald fixierte eine Weile das Foto des Opfers. Einer plötzlichen Eingebung folgend bearbeitete er die Aufnahme fototechnisch so weit, dass sie als lebende Person durchgehen konnte und schickte sie an ein bekanntes soziales Netzwerk, unter „Freunde suchen“. Einige Minuten später zeigte der Bildschirm etliche ähnliche Abbildungen. Harald ging sie der Reihe nach durch und blieb schließlich an einem Foto hängen.

Es könnte passen

. Sofort leitete er die entsprechende Anfrage ans Einwohnermeldeamt. Während er gebannt auf seinen Monitor starrte, trommelte er mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte herum, was ihm zwei bis drei ärgerliche Blicke seines Kollegen einbrachte. Als der Text der Bitte um Auskunft sich gerade in seine Netzhaut einbrennen wollte, ertönte das akustische Signal für eine eingehende Mail.



„Treffer!“



Lars zuckte zusammen. „Spinnst du?“



„Entschuldigung.“ Total im Ermittlungsmodus gefangen suchte Harald fieberhaft im bekanntesten sozialen Netzwerk. Nach einigen weiteren Klicks ratterte der Drucker und er rief, jetzt in normaler Zimmerlautstärke: „Nicole! Kommst du mal?“



Ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht. „Voilé la.“ Er drehte seinen Bildschirm, sodass Nicole und sein Kollege sehen konnten, was ihn derart in Ektase brachte. „Lisa Sommer, unsere Tote aus der Kapelle. Geboren am 27. August 1995, wohnhaft in Seligenstadt, Schafsgasse. Oh, sie wurde gestern 21 Jahre. Und schaut euch das an.“



Die ausgedruckten Fotos zeigten Lisa Sommer, flankiert von Benjamin und Marco Stratmann. „Den hier“, er deutete auf einen jungen Mann Mitte zwanzig mit braunen kurzen Haaren, an den sich das Opfer sichtlich verliebt anschmiegte „lasse ich gerade durch POLAS prüfen. Sollte …“



Eine Nachricht erreichte Haralds Posteingang.



„Ach? Der junge Mann ist Dominik Wronsky ebenfalls wohnhaft in Seligenstadt und aktenkundig. Verstoß gegen das BTM-Gesetz Anfang des Jahres.“ „Moment mal.“ Lars stützte die Hände auf Harald Schreibtisch. „Das passt zeitlich gesehen genau zur Anzeige der Stratmann-Zwillinge. Schau doch mal bei POLAS nach“, forderte er seinen Kollegen auf.



„Hast Recht, Kleiner. Hier, steht’s. Jetzt ist mir auch klar, weshalb die Stratmanns so glimpflich davongekommen sind. Dieser Dominik Wronsky gestand die Drogen beschafft zu haben.“

 



„Gute Arbeit, Harald.“ Nicole hob beide Daumen. „Jetzt hat unser Opfer einen Namen und wir die ersten Verdächtigen. Läuft! Legen wir los. Ich schlage vor, Lars fährt zu diesem Autohaus, die Stratmann-Junioren befragen. Es geht um die Zeit zwischen 22.20 und 23 Uhr, gestern Abend. Und ich will wissen, was die beiden mit Wronsky und Lisa Sommer zu schaffen haben. Dabei kannst du dir ja schon mal eine dieser Protzkarossen aussuchen, die du dir vielleicht leisten könntest, solltest du dich endlich dazu entschließen, etwas für deine berufliche Laufbahn zu tun.“



Nicole schenkte ihrem Kollegen ein zauberhaftes Lächeln, das mit einem Stirnrunzeln und aufgelassenen Backen beantwortet wurde.



„Harald und ich sehen uns den Fundort der Leiche an.“



„Nimm bitte die Kamera mit. Eigene Aufnahmen können nicht schaden. Wir nehmen meinen Wagen und treffen uns auf dem Parkplatz.“



Voller Tatendrang schnappte Nicole ihre Tasche und spurtete aus dem Büro.



Auf der Toilette tippte sie eine Kurzwahl in ihr Mobiltelefon, woraufhin sich keine zwei Sekunden später die erhoffte Stimme meldete. In kurzen Worten erklärte sie, dass sie einen neuen Mordfall hätten, und zwar in Seligenstadt.



„Oh, ein Heimspiel sozusagen“, klang es amüsiert.



„Ja, kann man so sagen, leider. Aber keine Bange, ich komme zu dir heute Abend. Egal wie spät es wird. Versprochen!“






Freitag, 28. August 2015 – 10:30 Uhr






Bei leicht bewölktem Himmel und gefühlten fünfzehn Grad stiegen Helene und Herbert gegen elf Uhr aus dem hellbeigen betagten Mercedes und schlenderten über den Parkplatz des Einkaufsmarktes zu den Einkaufswagen. Gerade,als Helene ein Eineurostück in den Schlitz des Gefährts schieben wollte, hörte sie eine wohlbekannte Stimme hinter sich.



„Hallo, Heleeene!“



„Oooh, die schon wieder.“ Demonstrativ drehte Herbert der Rufenden den Rücken zu, die mit Schnappatmung jetzt vor ihnen stand.



„Hätte ich gewusst …“ Gundel atmete tief ein und aus, „dass ihr auch hier einkauft …“ Der zweite Atemzug verschaffte ihre genügende Luft, um ihren Satz zu beenden. „Dann wäre ich mit euch gefahren.“



„Wieso? Des passt doch mit deim Hobel.“ Herbert deutete auf Gundels seniorenfreundlichem Fahrrad mit tiefem Einstieg.



„Eh, ja, schon. Aber die Lebensmittel; die sind trotzdem sehr schwer. Und hier, das Waschpulver“, sie zeigte auf einen übergroßen Karton Seifenpulver eines seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bekannten Waschmittelherstellers, das den Lenker ihres Fahrrads unweigerlich auf eine Seite zog, „war im Angebot. Zwanzig Prozent mehr Inhalt als sonst. Da musste ich doch zuschlagen, oder?“



„Dann musste halt zwanzisch Prozent kräftischer in die Pedale trete“, entgegnete Herbert unbeeindruckt.



Gleichzeitig hatte seine linke Körperseite ein Rendezvous mit Helenes Ellenbogen. „Das Waschmittel nehmen wir im Auto mit und bringen es dir später vorbei. Herbert, bist du so gut?“



Am liebsten hätte er den Behälter mit einem Schwung in den Kofferraum befördert, musste aber beim Anheben feststellen, dass er sich damit schwertun würde. Demnach hievte er das Waschmittelpaket

nur

 mit einem missmutigen Gesicht in seinen Mercedes.



„Also ich muss schon sagen, dein Herbert hat ja heute eine miese Laune. Ist er immer noch sauer wegen gestern?“



„Herbert hat nur schlecht geschlafen.“



„Wurde wohl noch spät gestern?“, erkundigte Gundel sich mit einem lauernden Blick. Aber Helene ließ sich nicht darauf ein. „Das mit der Toten geht ihm doch mehr an die Nieren, als er zugeben will, stimmt’s?“, bohrte sie weiter. „Naja, so sind die Männer halt. Müssen immer die starken Kerle mimen.“



„Wird wohl so sein“, antwortete Helene.



„So, die Hundertzwanzig Prozent sinn verstaut. Könne wir jetzt?“



„Bis später dann“, verabschiedete sie sich von Gundel, während Herbert schon mit dem Einkaufswagen auf die Tür des Discounters zustürmte und Helene Mühe hatte, ihn einzuholen.



„Nu sei nicht so gnadderig, du Brummbär.“



„Nenn mich net Brummbär“, brummte er. „Und ich bin net gnadderisch. War ich jedenfalls net bis die nervisch Babbeldasch aufgetaucht ist“, setzte er gereizt nach. „Muss die auch grad jetzt einkaufe?“






Freitag 28. August 2015 – 10:45 Uhr






„Verdammt!“ Wütend schlug Benjamin mit der flachen Hand auf das Lenkrad, während sie im Schritttempo auf der 661 in Richtung Bad Homburg entlangzuckelten. „Der Alte wird wieder kurz vorm Kollaps stehen, weil wir zu spät in der Firma einlaufen.“



„Scheißegal. Der macht doch eh nur Stress.“ Gelangweilt schaute Marco aus dem Seitenfenster der Corvette auf den erneut stillstehenden Verkehr. Mit seinem Zeigefinger zielte er auf die Autos neben und vor ihnen. „Peng, peng.“



„Wann hat sich eigentlich unsere Schwester gestern Abend vom Acker gemacht? Sie war plötzlich verschwunden.“



„Keinen blassen Schimmer“, antwortete Marco. „Das Zeug, das Dom aufgetrieben hatte, war nicht von schlechten Eltern.“



„Hat auch ne Menge Kohle gekostet“, warf Ben ein.



„Und wenn schon.“ Marco grinste. „Hatte einen kurzen Filmriss, nachdem ich mit seiner Kleinen fertig war. Bin dann neben Corinna, dir und Tanja wieder aufgewacht.“



„Tja, netter vierer. War schon lange mal wieder fällig.“ Benjamin lächelte versonnen, wurde aber plötzlich ernst. „Sag‘ mal. Dom und Jana ... meinst du da läuft was Ernstes?“



Jetzt lachte Marco schallend. „No Chance. Jana hält Dom nur so lange bei der Stange bis das Jubiläum vorbei ist, wegen der Drogengeschichte. Du weißt, der Name Stratmann darf keinesfalls in den Dreck gezogen werden.“ Verbitterung lag in seinen Worten. „Darin sind Jana und der Alte sich einig. Möglich, dass er sie sogar dazu ermunterte, sich an Dom ranzuschmeißen, ihn sozusagen mundtot zu machen. Und Jana, die liebende Tochter, tut ihre Pflicht und hat auch noch Spaß dabei. Aber als zukünftiger Kronprinz?“ Marco schüttelte den Kopf. „Unsere Prinzessin angelt sich ganz bestimmt einen Koi, keinen kleinen Goldfisch.“



Benjamin lenkte den Wagen auf die Abfahrt nach Eschborn. „Vielleicht sollten wir uns etwas mehr ums Familiengeschäft kümmern, anstatt auf Partys rumzuhängen.“



„Arbeiten? Oder, wie meinst du das jetzt wieder?“



„Jetzt schau nicht so als hätte ich etwas völlig Irreales vorgeschlagen. Letztlich leben wir von diesem Laden. Früher oder später müssen wir sowieso ran. Wenn der Alte sich aber für Jana entscheidet, lieber Bruder, dann sehen wir alt aus. Lass dir das gesagt sein.“



„Dann entscheide

ich

mich für später.“



Marcos Handy klingelte. Er warf einen kurzen Blick auf das Display.



„Dom“, sagte er zu Ben gewandt. „Hi, Alter, wieder unter den Lebenden? Der Stoff hat ordentlich reingehauen. Wo hast du den her? Nein, sag nichts. Ich will’s gar nicht ...“



„Marco“, schrie Dominik. „Lisa ist tot.“



„Was? Scheiße. Wie konnte denn das passieren? Woher weißt du …?“



„Marie. Sie rief mich gerade an. Außerdem geht’s bereits im Internet herum. Was jetzt?“



„Wie, was jetzt? Was weiß ich?“ Marco warf die Hände in die Höhe. „Ich weiß nur, Ben und ich haben nichts damit zu tun.“



„Ja glaubst du ich?“, fauchte Dominik zurück.



„Warn die Bullen schon bei dir?“



„Keine Ahnung. Bin erst vor kurzem aufgewacht. Kann ich mir aber nicht vorstellen. Wir sollen die auf mich kommen? Lisa hatte keinerlei Papiere bei sich, hieß es im Netz. Aber Beschreibung passt genau auf Lisa. Was machen wir jetzt?“



„Wie meinst du das? Denkst du etwa daran zu den Bullen zu gehen?“



„Ich bin doch nicht bescheuert“, gab Dominik zurück. „Aber wir müssen uns absprechen.“



„Ja, gut. Ich melde mich“, antwortete Marco und legte auf. „Lisa ist tot“, setzte er seinen Bruder in Kenntnis. „Jetzt brauch ich ein ausgiebiges Frühstück. Bei unserem Alten haben wir sowieso verschissen, weil wir zu spät dran sind.“



***



Der Anruf, vor einer halben Stunde, erwischte ihn eiskalt.



„Wo ist Lisa?“, schrie Marie ihn durchs Telefon an.



Wahrheitsgemäß antwortete er, dass er es nicht wüsste. Woraufhin sie ihn mit einer Vielzahl von Vorwürfen bombardierte und letztlich mit der Nachricht, dass in der Kapelle auf dem Seligenstädter Friedhof eine Frauenleiche gefunden worden wäre.

Der Beschreibung nach kann es sich nur um Lisa handeln

, wimmerte Marie, bevor sie auflegte.



Seitdem tigerte Dominik Wronsky unruhig in seiner loftartigen Wohnung hin und her.



W

eshalb ist Lisa tot? Alkoholvergiftung? Überdosis? Schon möglich. Sie ist nichts gewohnt.


Aber wie kommt sie in die Kapelle und warum?



Nicht, dass Lisas Tod ihm sehr nahe ging. Nur die Tatsache, dass sie irgendjemand ausgerechnet in dieser Friedhofskapelle abgelegt hatte, in der er sich mit seinen Käufern traf, machte ihm Sorgen.






Freitag, 28. August 2015 – 10:55 Uhr






Schon von Weitem beeindruckte die etwa vier Meter hohe verglaste Fassade mit dem in Messing gefassten Firmenschild über dem Eingang, zwischen zwei verspiegelten Rundsäulen. Im Innenraum verschlug es Lars Hansen die Sprache. Ein Eldorado für Autoliebhaber. Pure Glückseligkeit. Die Majestäten unter den vierrädrigen Luxuskarossen wie Lamborghini, Maserati, Ferrari und Jaguar gaben sich, auf Hochglanz poliert, hier die Ehre.



„Einen schönen guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?“ Die Resonanz der samtigen Stimme gab der Räumlichkeit den letzten Kick. Und dann schwebte ein hautenges rotes Kleid, das die Grenze der Sittlichkeit gerade noch nicht überstrapazierte auf roten High Heels auf Lars zu. Die langen, fast bis zur Hüfte reichenden schwarzen Haare wippten leicht bei jeder Bewegung. Die kirschroten Lippen waren zu einem bestechenden Lächeln geformt.



So muss es im Himmel sein.

 Lars benötigte eine gefühlte Ewigkeit, um sich den Grund seiner Anwesenheit in dem feudalen Autohaus ins Gedächtnis zu rufen.



„Guten Tag“, krächzte er. „Ich möchte bitte mit den Herren Stratmann reden. Genauer gesagt mit Benjamin und Marco Stratmann.“



„Oh“, hauchte das Wunschbild eines jeden Mannes. Zumindest das von Lars Hansen und sah ihn mit großen dunklen Augen an.



„Mein Name ist Natascha Nowak.“



Ihre zarten Finger legten sich sanft in Lars‘ Hand.



„Ich hatte gehofft, Sie zu einer Probefahrt mit unserer neuesten Corvette überreden zu können.“



„Eh, ja. Das eh, wäre schön“, stotterte er.



Jetzt nimm dich zusammen!

 Er zückte seinen Polizeiausweis. „Das müssen wir bedauerlicherweise auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. Lars Hansen, Kripo in Offenbach.“



Erneut kam dieses gehauchte „Oh“, über die roten Lippen. „Dann will ich mal sehen was ich für die Polizei tun kann. Nehmen Sie bitte solange Platz.“ Sie zeigte auf eine weiße Ledergarnitur in der Ecke. „Ein Glas Prosecco, solange sie warten?“



„Nein, danke. Bin im Dienst.“



„Ach ja.“ Es klang wie ein Seufzer.



Die

Lady in red

 entfernte sich mit geschmeidigen Schritten. Der Duft Ihres dezenten Parfüms blieb zurück.



Lars sank in die bequemen Polster. Sein Blick schweifte ab zu den kostspieligen Fahrzeugen. Warum nur, fragte er sich zum x-ten Mal, hatte er nicht einen anderen, besser bezahlten Beruf gewählt. Damals nach dem Abitur stand ihm die Welt offen. Zuerst wollte er Architektur studieren, dann wieder Medizin und schließlich verkündete er seinen Eltern voller Stolz, dass er sich für das Jurastudium entschieden hatte. Gerade mal drei Semester hielt er durch. Danach lungerte er mehr im Fitnessstudio herum, in dem er auch einen Teilzeitjob angenommen hatte, als dass er sich um eine ernsthafte Alternative für sein zukünftiges Leben bemühte.



Dort lernte er Tom kennen, ein cooler Typ und bei der Kripo – Drogendelikte. Sie verstanden sich auf Anhieb und Lars glaubte, endlich seine Bestimmung gefunden zu haben. Sein Abitur in Hamburg ermöglichte ihm den Direkteinstieg in das Bachelor-Studium. Nach seinem Dienst in einem Fachkommissariat wurde er der Abteilung Diebstahl und Hehlerei zugeteilt. Das war genau sein Ding; die bösen Jungs hinter Gitter zu bringen.



Dann, eines Abends erreichte ihn die Nachricht, dass Tom bei einer Schießerei ums Leben gekommen und der Verdächtige unerkannt geflohen war. Obwohl der Polizeiapparat heiß lief und alle Hebel in Bewegung gesetzt wurden, wurde der Mörder bis heute nicht gefunden. Seit dieser Zeit war für Lars nichts mehr wie zuvor. Seinen Frust und seine Verbitterung projizierte er auf die jeweiligen Delinquenten, deren Geständnis er, über die legalen Methoden hinaus, erzwingen wollte und entkam knapp einer Dienstaufsichtsbeschwerde. Aber auch mit seinen Kollegen rasselte er immer öfter zusammen.

 



Das Angebot, zur K 11, nach Offenbach zu gehen, kam wie gerufen. Dagegen fiel es ihm anfangs schwer, sich von einer Frau sagen zu lassen, wo es langgeht. Doch Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener löste das Problem schnell mit der bekannten Methode – Zuckerbrot und Peitsche. Wurde er aufmüpfig, ließ sie ihn gegen die Wand laufen; lobte ihn aber über den grünen Klee hinaus, wenn er einen guten Job machte. Mittlerweile fühlte Lars sich sehr wohl im K11 in Offenbach und unter Nicoles Fuchtel, wie er gerne betonte. Außerdem hatte sie Sinn für Humor und wusste ihre Mitarbeiter bei Laune zu halten. Ab und an Pizza und Big Mac waren dafür bestens geeignet – fand zumindest Lars.



„Herr Hansen“, brachte die samtige Stimme ihn in die Gegenwart zurück. „Es tut mir leid, aber die jungen Herren Stratmann sind noch nicht im Haus.“



Lars schaute auf die Uhr.



„Es wurde wohl gestern Abend etwas später“, fügte sie hinzu. „Lassen Sie ihre Telefonnummer hier. Ich sorge dafür, dass Sie zurückgerufen werden.“



Lars kramte nach seiner Visitenkarte, hielt dann aber inne. „Sie wissen nicht, so rein zufällig, wo die Herren den gestrigen Abend verbrachten?“



„Wenn ich Ihnen diese Information gebe, bekomme ich großen Ärger“, flüsterte die Empfangsdame, dicht an Lars‘ Ohr.



„Nicht mit mir“, antwortete er mit rauer Stimme.






Freitag, 28. August 2015 – 11:15 Uhr






„Hoffentlich hat Nicole Zeit. Ich bekomme sie ja kaum noch zu Gesicht.“ Helenes Stimme klang sehr traurig.



Herbert vermisste ebenso die gemeinsamen Abendessen und das eine oder andere Glas Rotwein danach.

Letztes Jahr war doch alles noch gut und im Frühjahr, bis Mai oder war es Juni? Is da was passiert? Bin ich schuld? Glaubt sie jetzt doch, ich hätte ihr Helene weggenommen?



„Nicole erzählte mir immer von ihrer Arbeit, obwohl sie das eigentlich nicht durfte“, wurde er von Helene in seinen Grübeleien unterbrochen. „Gelegentlich konnte ich ihr sogar behilflich sein, das ausschlaggebende Signal zuspielen, wie sie es ausdrückte. Das vermisse ich schon ab und an. Aber“, sie seufzte, „man kann nicht alles haben.“ Sie drückte Herberts Arm, was so viel heißen sollte:

Dafür habe ich jetzt dich.



Dessen Aufmerksamkeit richtete sich aktuell auf die Kleinwagen neben seinem Mercedes. Rechts ein kleiner dunkelblauer Renault Twingo, links ein roter Fiat Panda, beide mit enorm hohem Kuschelbedarf.



„Jetzt guck dir diese Idiote an“, fluchte er halblaut.



Noch vor einer viertel Stunde stand sein Oldsmobile alleine auf weiter Flur. Und wie sein Rundblick bestätigte, im Radius der nächsten zehn Parkplätze ebenfalls kein Fahrzeug.



„Fahr besser erst raus, bevor ich einsteige“, riet Helene.



„Erst mal könne“, murmelte Herbert und zwängte sich seitlich zwischen seinen Wagen und den anschmiegsamen roten Fiat. Exakt in dem Moment als er die Schlüssel aus seiner Hosentasche zog, schwang die Tür des Pandas auf. Mit einem tangoverdächtigen Ausfallschritt rettete er sein Schienbein vor einem Zusammenprall. Die Wagentür seines Benz hatte weniger Übung im Schwofen, sodass ein heftiges Tête-à-Tête mit der Tür des roten Fiats verbunden mit einem lauten metallenen Scheppern, unvermeidbar war.



„Ja, bist du noch ganz klar im Kopp?“, schrie Herbert.



Keine Reaktion. Stattdessen kämpfte sich der Jugendliche, Sklave seines Mobiltelefons, mit ebensolchem in den Händen aus dem Auto, wobei die Tür des roten Pandas erneut mit dem Benz intim wurde.



„Du Vollidiot!“ Jetzt hatte Herbert die volle Aufmerksamkeit des etwa Sechzehnjährigen. Schläfrige Augen blinzelten ihn an.



„What’s happend?“



„What’s happend?“, wiederholte der schnaufend wie ein Stier in der Kampfarena.



Er packte den Nacken des schlaksigen Jungen und drückte dessen Kopf, der auf der einen Seite glattrasiert und mit einem Blitz dekoriert war, zu der ramponierten Autotür. „Des is happend, du Simpel. Siehst de des jetzt? Oder soll ich dir des per MMS schicke?“



„War ich das?“, presste der Jugendliche zwischen den Zähnen hervor, die roten Streifen auf dem beigen Lack nur Zentimeter vor seinem Gesicht entfernt.



„Nee, des war de heilische Geist, der hatt grad mal Langweile.“



„Sorry, hab’s nicht gecheckt.“



„Was tun Sie da? Lassen Sie sofort meinen Sohn los!“



Eine Frau stürmte auf den Parkplatz. Kurz vor den geparkten Autos ließ sie ihre vollbepackten Taschen fallen. Eine Mango kullerte über den Asphalt und fand kurzfristig vorgetäuschten Schutz unter einem vorbeifahrenden Auto. Einen Sekundenbruchteil betrachtete die Frau das jetzt zerstörte Obst, um sich flugs erneut der Gefahrensituation zu widmen, in der ihr Sprössling offenbar schwebte.



Zwischenzeitlich hatte Herbert den Teenager wieder in eine aufrechte Position gebracht, nachdem Helene ihn mit einem eindringlichen „HERBERT!“, dazu ersucht hatte. Dennoch stand der Junge noch immer mit gesenktem Kopf im engen Zwischenraum der Autos, in den sich seine Mutter nun auch drängte.



„Paul, was ist geschehen? Geht es dir gut? Was will der Mann von dir?“ Die Frau folgte den Augen ihres Filiusses, die weiterhin den Boden fest im Blick hatten. „Dein neues IPhone! Oh, mein Gott!“



Hastig drehte sie sich zu Herbert um. „Das ist Sachbeschädigung und schwere Körperverletzung. Ich rufe die Polizei.“



„Ich bitte darum!“, erwiderte der gleichmütig und lenkte das Augenmerk der Frau auf den Schaden an seinem Fahrzeug. „Dürfte einiges kosten.



„Was interessiert mich ihre verbeulte Autotür?“



„Entschuldigung, junge Frau“, mischte sich Helene jetzt ein. „Ihr Sohn hat beim Aussteigen diesen Wagen beschädigt. Ich bin Zeuge.“



„Ach ja? Vielleicht war die Tür schon vorher verbeult und Sie wollen nur Geld herausschlagen, für die alte Kiste. Von so etwas hört man immer mal wieder.“



Helene wurde einem Ganzkörperscan unterzogen. Dann wühlte die Frau hektisch in ihrer reisegepäckartigen Designerhandtasche.



„Also, bitte. Die rote Spurn sind ja wohl mehr als eindeutisch.“ Herbert zeigt auf seine Autotür.



„Rote Spuren? Welche roten Spuren?“ Der Blick der Frau flackerte jetzt vom Panda zum Benz und wieder zurück. „Der Wagen ist fast neu! Was haben sie sich dabei gedacht?“



„Mom“, unterbrach der Sprössling seine aufs Äußerste erregte Erzeugerin.



„Das mit der Tür, das ist wirklich meine Schuld und das Handy ist mir aus der Hand gefallen. Tut mir auch mega leid.“



„Aber, aber, wieso fällt dir das Handy aus der Hand? Das war nagelneu. Wenn dein Vater davon erfährt ...“



„Hallo!?“, brachte Herbert sich wieder in Erinnerung. „Was ist jetzt mit der Polizei?“



„Eh … können wir das nicht ohne Polizei …?“



Die Suche in den unendlichen Weiten der Luxushandtasche ging in die nächste Runde. Unterdessen plapperte die Frau pausenlos.



„Wissen Sie, mein Mann war dagegen, dass unser Sohn ein IPhone bekommen sollte. Ein billigeres täte es auch, sagte er. Ich habe es ihm trotzdem gekauft. Weil doch alle in seiner Klasse … Wo ist jetzt mein verdammtes Handy?“ Die Suche ging in die dritte Runde. „Wenn mein Mann wegen dieser Bagatelle, eh – ich meine diesem kleinen Unfall – davon erfährt, gibt’s nur unnötige Spannung. Wir sind gerade in unser neues Haus gezogen und na ja, da ist das Geld ein bisschen knapp. Mein Mann arbeitet Tag und Nacht, um die Kredite abzubezahlen und …“



„Stopp!“, bremste Herbert den Redefluss der Frau. Zudem nervte ihn langsam die Fummelei in dem übergroßen Gucci-Gepäck. „Ihre familiäre und finanzielle Angelegenheite sind mir jetzt grad mal schnuppe. Was mich aber gewaltisch interessiert ist, wer bezahlt den Schaden? Hm?“



„Eh, ja.“



Die junge Frau seufzte und gab die Such