NOTH GOTTES

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Nicht, dass Josef Maier sie jemals gebraucht hätte und – Gott bewahre – hoffentlich nie brauchen würde. Dennoch hätte er sich jetzt ein klein wenig sicherer gefühlt. Sei es drum. Die Fahrradpumpe musste als Verteidigungswaffe genügen.

Er lehnte sein Rad an die äußere Mauer der Kapelle, genau neben den Metallrahmen, an dem die Friedhofsordnung und darunter Schilder die ein Radfahrverbot sowie auch ein Hundeverbot auf dem Friedhof anzeigten, hingen. Maier überlegte kurz, ob er sein E-Bike anketten sollte, letztlich hatte es eine ganze Stange Geld gekostet. Doch suchte er vergebens nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche. Dafür erspürte er ein Feuerzeug. Keine allzu große Lichtquelle – aber immerhin. Die Laterne an der Ecke der Kapelle beleuchtete nur halbkreismäßig den äußeren Bereich und die nächste Straßenlampe befand sich mittig der Dr.-Otto-Müller-Straße, die das Mainufer mit der Aschaffenburger-Straße verband. Beide waren mit Energiesparleuchtmittel ausgestattet und spendeten entsprechend nur unzureichender Helligkeit.

Der Polizeioberkommissar lauschte in alle möglichen Richtungen. Absolute Grabesstille. So, wie man es in der Nacht auf einem Kirchhof erwartet. Außer, man besaß die absurde Neigung, nach Einbruch der Dunkelheit auf Friedhöfen herumzustromern und höchstpersönlich für Unruhe zu sorgen, so wie diese vermaledeiten Grabschänder.

Maier fehlte dafür jedwedes Verständnis. Ebenso für anonyme Anrufer. Wenn man etwas zur Anzeige bringen will, dann soll man auch Manns oder Frau genug sein, seinen Namen zu nennen. Für alle anderen Loser ist das Internet zuständig, so seine Devise.

Kampfbereit, die Luftpumpe fest in der Hand, schlich er durch das Tor und in die Kapelle. Hier herrschte ebenfalls fast totale Finsternis. Abgesehen von zwei Kerzlein hinter den Gitterstäben, die nach Sauerstoff gierten. Ausgelöst durch den Luftzug, den der Polizeioberkommissar beim Eintreten verursachte – nur noch eins. Maier zückte sein Feuerzeug. Es flackerte kaum mehr wie die letzte wehrhafte Kerze.

Und dann sah er sie. Eine Frau, in einem weißen Kleid, die Arme seitlich am Körper anliegend, die Handflächen zeigten nach außen. Ihr Kopf lag in eigenartigem Winkel auf der rückseitigen Gebetbank, umrahmt von hellblonden gewellten Haaren. Die blauen Augen, mit dickem schwarzem Kajal umrandet starrten leblos an die Decke.

Donnerstag, den 27. August – 23:20 Uhr

Aufatmen im K11 des Offenbacher Kriminalkommissariats. Endlich war Dennis Brauer geständig seine Freundin, im Streit, erstochen zu haben. Die Festnahme fand um 14 Uhr 10 statt. Doch ein Alkoholspiegel von 2,3 Promille und sowie erheblicher Drogenkonsum verhinderten von Rechtswegen eine sofortige Befragung des Delinquenten. Lediglich die Tatwaffe, ein Küchenmesser mit einer Schrittlänge von 20 cm, konnte sichergestellt und zur KTU überbracht werden. Nach etwa acht Stunden in einer Ausnüchterungszelle veranlasste Nicole Wegener, Kriminalhauptkommissarin des K11 Offenbach, die Vernehmung Brauers.

Kriminalhauptkommissar Harald Weinert und sein Kollege Oberkommissar Lars Hansen führten das Verhör. Nicole verfolgte das Gespräch aus dem Nebenraum durch die einseitig durchsichtige Spiegelglasscheibe.

Trotz der belastenden Beweise – inzwischen konnten Denis Brauers Fingerabdrücke auf dem Messer eindeutig festgestellt werden – leugnete er zuerst vehement die Tat. Danach versuchte er durch Vortäuschung eines zeitweiligen Gedächtnisverlusts und später durch permanentes Schweigen, glimpflich davonzukommen. Erst nach Eingreifen des Pflichtverteidigers, der die Faxen seines Mandanten genauso dick hatte, knickte Brauer endlich ein.

Sichtlich genervt und müde verließen Hansen und sein Kollege den Verhörraum. Weinert streckte sich. „Der Bericht kann doch bestimmt bis morgen früh warten, oder Boss?“

Nicole nickte. „Wir haben Alles auf Video. Ab nach Hause. Ich lass den Kerl in die Zelle bringen und verschwinde dann auch. Und Jungs, morgen früh erst um zehn Uhr.“

Hansen salutierte stumm mit Zeige- und Mittelfinger. Weinert brachte nur ein müdes „Tschüss“ hervor. Nicole sah den Kollegen nach, wie sie den Gang entlang trotteten.

Ein gemeinsames Essen, ein Glas Rotwein auf seinem kleinen Balkon; soweit ihr Plan für den heutigen Abend. Brauer hatte ihn zunichtegemacht. Ob sie jetzt doch noch anrufen sollte? Nein. Die Uhr zeigte halb zwölf. Ihre Beziehung war noch im Wachsen. Nur keinen Fehler machen, nicht wieder. Nicht gegenseitig auf die Nerven fallen.

Sie ging in ihr Büro, nahm ihre Tasche, machte das Licht aus und fuhr mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage, wo ihr roter MX5 wartete. Auf der Fahrt nach Hause sah sie immer wieder sein Gesicht vor sich. Seine sanften braunen Augen, die einen Hauch von Wehmut ausdrückten und Furcht ... als sie sich zum ersten Mal küssten. Mit einem Lächeln dachte sie an die Nacht, die sie zusammen verbrachten, an ihre Unsicherheit beidseits, die sich jedoch schnell legte.

Mittlerweile kam es Nicole vor, als ob sie sich schon ewig kannten. Und dennoch, oder gerade deshalb, wollte sie kein Risiko eingehen. Nur nichts auf Spiel setzen, was diese Harmonie zerstören könne.

Sie gähnte. Jetzt erst fiel ihr auf, wie müde sie war, und drehte die Musik lauter.

„I want to break free “, schmetterte Freddy Mercury aus dem Autoradio. Der Text, so wird vermutet, drückte Mercurys sexuellen Konflikt aus. Er selbst outete sich offiziell aber niemals als Homosexueller. Nicole drehte noch eine Stufe höher. Den Song konnte – nein den musste man einfach laut hören. Außerdem half ihr, die ohrenbetäubende Musik wach zu bleiben. Erst am Ortsschild von Seligenstadt regulierte sie die Lautstärke.

Ein paar Minuten später stellte sie ihr Auto auf dem notdürftig beleuchteten Parkplatz, einen Katzensprung von ihrer Wohnung entfernt, ab. Im Haus war es dunkel. Nur das Flurlicht brannte. Das machte Helene schon immer so. Bis vor fast einem Jahr stand sie meist sogar in ihrer Tür, wenn Nicole nach Hause kam; oft mit einem Teller in der Hand auf dem ein Brot mit Wurst und Käse lag oder ein paar kalte Frankfurter Würstchen. Das hatte sich geändert, seit Herbert hier sozusagen eingezogen war.

In den Sommermonaten blieben die beiden abends länger weg, gingen am Mainufer spazieren, saßen außerhalb eines netten Restaurants in der Altstadt oder auf Herberts Terrasse. Manchmal war Nicole eingeladen. Aber eben nur manchmal. Ein wenig traurig war sie schon darüber. Insbesondere nach einem Tag wie diesem, hätte sie sich gerne mit ihrer Helene unterhalten, zumindest ihre Gesellschaft genossen.

Nicole seufzte. Nun ja, so ist das Leben. Man muss loslassen können.

Sie erinnerte sich an den Abend, als Herbert quasi bei ihr um Helenes Hand angehalten hatte. Nicht, dass die beiden hätten heiraten wollen. Aber, selbst wenn – Nicole war nur Mieterin in Helenes Haus, nicht ihre Tochter, obwohl sie es sich manchmal wünschte. In den vergangenen Jahren hatte sich zwischen ihnen eine enge freundschaftliche Beziehung entwickelt. Dennoch hatte sie keine Berechtigung, Helene in jeglicher Hinsicht etwas vorzuschreiben. Und das würde sie auch nie tun. Trotzdem hatte sich in ihrem Bauch ein warmes Kribbeln ausgebreitet, als Herbert sich sichtlich nervös erkundigte, ob er im Mädel-Haus, willkommen sei.

Nichtsdestominder fühlte sich Nicole – gerade jetzt – im Stich gelassen, wenn nicht vernachlässigt. Vielleicht war sie aber auch nur müde und deshalb in einem depressiven Stimmungstief.

Sie öffnete die Tür zum Balkon und ließ frische Luft in die Räume. Eine Gewohnheit, die sich im Laufe der Jahre zu einem Rituell entwickelt hatte. Ebenso der Blick über das Balkongeländer, auf die zurzeit gähnend leere Terrasse.

Ein Grund mehr, sich einen Schluck ihres heiß geliebten Greenoore zu gönnen, sozusagen als Trostpflaster. Der irische Whisky war das einzige hochprozentige Getränk, das Nicole sich ab und zu gestattete. Sie füllte die goldene Flüssigkeit einen fingerbreit ins Glas, setzte sie sich mit angezogenen Beinen auf den Liegestuhl und blickte in den dunklen Himmel.

Ein heimeliges Paradies, dachte sie gewiss zum tausendsten Mal. Die Stille wurde gelegentlich nur durch Stimmen später Wirtshausbesucher vom nahen gelegenen Marktplatze unterbrochen. Oder, wie jetzt, durch Nicoles knurrenden Magen. Seit einer kleinen Mahlzeit am Mittag, bestehend aus einem Salat mit Ei, Käse und Schinken, hatte sie nichts gegessen.

Lustlos bewegte sie sich in Richtung Kühlschrank und stellte schnell fest, dass der Inhalt kein kulinarisches Diner zuließ ... wieder einmal. Fast mitleidig lächelte sie das Mönchsgesicht von der Schachtel einer Käseverpackung an. Genug gegrinst, murmelte Nicole. Jetzt bist du fällig.

Mit einer Scheibe Knäckebrot, ihrer eisernen Reserve, dem Käse – die Ränder waren schon etwas gelblich und leicht gewölbt, aber trotzdem noch essbar – sowie einem Glas Cola machte sie es sich auf ihrer Couch bequem und schaltete den Fernseher ein.

Freitag 28. August 2015 – 08:20 Uhr

Etwas kitzelte Helene an der Nase. Bei dem Versuch, dieses Etwas zu verscheuchen, verfing sich ihre Hand in einem Büschel Haare und wurde mit sanfter Gewalt festgehalten.

„Helenchen! Aufwachen! Kaffee ist fertig.“

„Wie spät ist es?“, fragte sie mit langem Gähnen.

„Fast halb neun“, kam die Antwort, gefolgt von einem Kuss auf ihre Wange. Herbert zeigte zu den geschlossenen Fensterrollos, durch dessen Ritzen sich die Helligkeit drängte.

„Verdammischt.“ Helene schnellte von der Couch hoch. „Ich muss wohl eingenickt sein.“

„Nein. Du hast tief und fest geschlafen, mein Schatz.“

 

„Was ist mit den Fotos?“

„Danke der Nachfrage. Ich hab‘ auch gut geschlafe, allerdings allein in meinem Schlafzimmer.“ „Entschuldigung.“

„Die Bilder hatte ich ziemlich schnell hochgelade.“

„Ach? Und weshalb hast du mir die nicht sofort gezeigt?“

„Du hast so wunderschön gemummelt, mein Schatz. Frühstück?“

Helene nickte. „Ich geh‘ ins Bad.“

Das Badezimmer lag im ersten Stock und war bis vor einem Jahr nur eine nutzbare Nasszelle, die sich zwischenzeitlich in eine kleine Wohlfühloase verwandelt hatte. Wo bis vor Kurzem noch spinatgrüne Kacheln die Wände bedeckten, verzierten nun mattweiße Fliesen von der Decke bis zum aus schwarzen Marmorplatten bestehenden Fußboden den Raum. Ein rotes Zahnputzglas für Helene stand neben einem grauen Rauchglasbecher auf der Ablagefläche; darüber ein breiter Spiegel über zwei Waschbecken.

Beim Umbau seines Badezimmers hatte Herbert darauf bestanden, dass Helene ihren Senf dazugab, wie er sich ausdrückte. Dem friedlich blickenden Buddha, zwischen bodentiefer Dusche und Eckbadewanne, schien die Neugestaltung offenbar zu gefallen.

Er spielt noch immer mit dem Gedanken, dass ich früher oder später hier einziehe.

Ein paarmal hatten sie über dieses Thema geredet. Eine Entscheidung ihrerseits war aber bisher ausgeblieben. Nicht, dass sie generell ein Problem damit hätte mit ihm zusammenzuziehen. Das Haus war größer, der Garten harmonisch, von Herbert im fernöstlichen, asiatischen Stil hergerichtet und die Sonne schien von morgens bis in die Abendstunden auf die gemütliche Terrasse. Helene hatte sich vom ersten Moment an wohlgefühlt. Nur konnte sie sich einfach nicht überwinden das Häuschen, in dem sie viele Jahrzehnte ihres Lebens mit ihrem Friedel verbracht hatte, an wildfremde Leute zu verkaufen oder auch nur zu vermieten.

Nachdem sie ihre Zähne geputzt und eine Katzenwäsche hinter sich gebracht hatte, folgte sie dem Duft von Eiern und Schicken und vor allem Kaffee.

„Ah, da bist du ja.“ Herbert füllte die Porzellantassen mit dem Blümchenmuster. „Wir brauchen dringend neues Kaffeegeschirr. Ich kann den alten Plunder einfach net mehr sehe.“

Helene ging nicht auf seine Bemerkung ein. Stattdessen griff sie nach den Ausdrucken der Aufnahmen, die auf dem Küchenschrank lagen.

„Die arme Frau. Wie ist sie wohl zu Tode gekommen? Man kann keine äußeren Verletzungen erkennen.“

„Vielleicht war’s einfach nur en Herzinfarkt. Soll auch bei junge Leut‘ vorkomme.“

„Schon“, stimmte Helene zu. „Ich frage mich aber, was die Frau nachts in der Kapelle auf dem Friedhof zu tun hatte, oder wie sie dahingekommen ist?“ Nachdenklich sah sie einen Fotoausdruck nach dem anderen durch. „Wer ist das?“ Sie hielt Herbert ein verschwommenes Foto unter die Nase.

„Das, mein Schatz, ist deine Aufnahme, bei der ich beinah blind geworde wär.“

„Schade, dass man kaum etwas erkennen kann.“

„Dein Mitgefühl hält sich in Grenze, stell‘ ich fest“, erwiderte er mit einem Seufzer.

„Ich werde die Fotos später noch bearbeite. Vielleicht krieg ich des noch schärfer.“

„Das würde bestimmt helfen“, entgegnete Helene sinnierend. „Das Kleid der jungen Frau. Ich meine das irgendwo schon mal gesehen zu haben. Ich komme aber nicht drauf, wo.“

„Jetzt leg mal die Fotos weg.“ Herbert nahm ihr die Blätter aus den Händen.

„Jetzt wird erst mal gefrühstückt und danach fahren wir zwei Hübschen zum Supermarkt. Ich dacht mir, wir könnte heut nochmal Grillen. Wahrscheinlich wird’s sowieso net mehr allzu viele Gelegenheite dazu gebe. Es wird schon ordentlich kühl abends. Was hältst du davon, wenn wir Nicole dazu einzulade?“

„Gute Idee.“

Freitag, 28. August 2015 – 08:45 Uhr

Nicole streckte sich, wodurch der Teller mit den Resten ihrer kulinarischen Abendmahlzeit zu Boden fiel. Schlaftrunken schaute sie auf die Krümel, die nun den Teppich dekorierten. Zusätzlich schmiegte sich das Stückchen Camembert wohlig in die Fasern. Verdammt!

Ihr Blick wanderte zur offenen Balkontür - kein Wunder, weshalb ihr kalt war – dann auf ihre Armbanduhr. Was? Schon kurz vor neun! Immerhin fühlte sie sich ausgeschlafen und freute sich auf das Wochenende.

Sie schälte sich aus der Wolldecke und setzte ihre Füße in sicherem Abstand zu der frisch entstandenen Verbindung zwischen französischem Weichkäse und taiwanesischen Kunstfaserfäden, auf den Boden. Auf dem Weg zum Badezimmer verfügte sie den sofortigen Dienstbeginn ihrer Kaffeemaschine. Zwecks allgemeinen Vakuums im Kühlschrank musste ein ausgiebiges Frühstück ausfallen.

Dreißig Minuten später spurtete sie die Treppe hinab, horchte kurz an Helenes Tür - alles noch ruhig - und eilte leise zur Haustür hinaus. Zurzeit war der Himmel bedeckt, doch hatte der Wetterbericht einen sonnigen und warmen Tag vorhergesagt. Schnurstracks ging sie auf ihren roten Mazda MX5 zu, der wie ein Osterei im Nest, zwischen den meist dunklen Fahrzeugen und den grün belaubten Bäumen und Büschen herausleuchtete.

Vielleicht sollte ich mir doch ein seriöseres und vor allen Dingen geräumigeres Auto zulegen.

Lars‘ Sympathie wäre ihr auf jeden Fall sicher – das wusste sie. Seit er sich vor circa zwei Jahren genau auf diesem Parkplatz aus ihrem Kleinwagen hatte quälen müssen, lag er ihr in den Ohren, sich doch nun endlich mal von ihrem quietschroten Spielzeugauto zu trennen und einen angemessenen fahrbaren Untersatz zuzulegen.

Freilich hatte der Begriff angemessen für Lars eine andere Bedeutung als für Nicole.

Sie stieg in ihren kleinen Roten und lenkte ihn flott vom Parkplatz durch die enge Mauergasse zur Bahnhofstraße und kam auch zügig durch den Kreisverkehr – und dann, wie immer – Stau bis zum Bahnübergang. Nach endlosen Minuten ratterte die Odenwaldbahn aus dem Seligenstädter Bahnhof in Richtung Hanau. Abermals fragte sich Nicole, weshalb die Schranke eine Ewigkeit vor Abfahrt des Schienenfahrzeugs geschlossen wurde. Längst hätte sie schon auf der Autobahn sein können.

Die gleiche Frage beschäftigte vermutlich auch die beiden jungen Männer in einem schwarzen Sportwagen hinter ihr. Mehrfach schlug der Fahrer verärgert aufs Lenkrad.

Eine Corvette, stellte sie bei näherem Hinsehen fest. Lars wäre begeistert. Genau sein Ding. Nur, mit dem Gehalt eines Kriminaloberkommissars, nicht zu verwirklichen.

Die Luxuskarosse hupte, weil sich die Autoschlange in Bewegung gesetzt hatte und Nicoles direkter Vordermann sich galaktische ein Meter zehn entfernt war.

„Ja, ist ja gut“, knurrte sie.

Zügig bog sie in die Dudenhöfer Straße ab. Der schwarze Flitzer klebte unbeeindruckt dicht an ihrem Kofferraum, bis zur Ampelkreuzung am Ortsausgang. Dort setzte sich die Corvette mit aufheulendem Motor links neben den MX5. Das provokante Lächeln des etwa 25 Jahre alten Beifahrers, mit strohblonden Haaren und braun gebranntem Gesicht, Typ – Mir-kann-keine-Widerstehen – erfasste Nicole. Zumindest kein Stinkefinger.

Dennoch, oder gerade deshalb wollte sie die offensichtliche Herausforderung nicht annehmen und gab bereitwillig ihre Poleposition ab. Das Kennzeichen F-HS-2017 merkte sie sich trotzdem.

Man trifft sich immer zweimal im Leben.

Freitag, 28. August 2015 – 09:35 Uhr

„Jesses noa, Schorsch, was is en gestern Nacht jetzt do eischentlich passiert? Im Radio hawe se gesaacht, es wär e Leiche in de Noth Gottes gefunne warn. Habt ihr die gefunne?“

Josef Richter, genannt Sepp, drängte seinen Nachbarn und Freund Georg Lenz, ihm haarklein über die nächtliche Aktion zu berichten. Dem Ersuchen kam der nur allzu gerne nach. Auch wenn er bei seiner Schilderung einige Ereignisse ausließ.

So zum Beispiel, dass er und Gundel von den Vorgängen im Grunde genommen nichts mitbekommen hatten. Ebenso unerwähnt ließ er, dass er später nach weiteren eins oder zwei Gläschen Wein – wegen ihrer angespannten Nerven – auf deren Couch eingeschlafen war und er sich deshalb kurz vor sechs über die Straße in sein Haus schlich.

Glücklicherweise schliefen Gundel und alle anderen Nachbarn noch den Schlaf der Gerechten; zumindest hatte er das gehofft.

„Isch hatt gedocht ihr wollt die Halunke schnappe, die die Gräber dorschenonner bringe“, riss Sepp ihn aus seinen üblen Gedanken.

„Ja, des hoab isch aach gedocht. Stattdesse sitzt do e Leiche im Kapellche. Ja, so is des.“ Schorsch fuhr sich mit der Hand über seine Glatze. „Ich selbst hoab se net gesehe, die Tote, mein ich. Des wollt isch mir net antue. Aber die Gundel hot gesaacht, des wär en grässliche Oblick gewese.“

„Na, die muss des ja wisse. Die sieht des ja jeden Morche im Spieschel.“

Sepp kicherte und schenkte sich und seinem Freund eine braungelbe Flüssigkeit, die einen eigenartigen Geruch verbreitete, in kleine Wassergläser.

„Des Zeusch schmeckt ja grauslich.“ Schorsch verzog sein Gesicht. „Was is en des?“

„Kräuderligeer. Des hot die Elfi aus de Apothek. Weil, isch tät zu viel Alkehol trinke, hot se gemaahnt. Un de Zeusch do, soll gesund soi.“

Sepp leerte sein Glas in einem Zug und betrachtete voller Abscheu die Flasche.

„Deshalb muss des so schnell wie meechlich weg. Dann kann isch do Schnaps noifille; den hoab isch drauße versteckelt.“

Schorsch guckte ungläubig.

„Du host Schnaps versteckelt, drauße? Isch denk‘ du gehst net raus?“

„Natürlich geh‘ ich in de Gadde, wenn’s schee drauße is. Jetzt, wo isch hier unne, im Erdgeschoss wohne tu und den deuerne Mercedes do hab. Der muss sisch doch bezoahlt mache.“

Sepp deutete auf den funkelnagelneuen Rollator. „Awer, nur wenn die Elfi net do is.“

Schorsch schüttelte den Kopf. „Doi Dochter hots aach net leicht, mit dir.“

„Isch mit ihr aach net. Alles verbiet‘ se mir. Sogar den Schnaps. Isch fraach disch, was hawe mer dann noch in unserm Alder? De Schnaps und die Leut‘ e bissje uze.“

„Apropos, wo hoste den jetzt dann versteckelt?“

Obwohl niemand außer den beiden im Haus war, beugte Sepp sich über den Tisch und flüsterte. „Beim Hoppel, im Stall, ganz hinne im Eck, unnerm Stroh.“

„Hä? Wer is de Hoppel? Un wieso is der im Stall?“

„Na glaabst de ich will des Vieh im Haus hawe?“

Schorsch reagierte mit einem verunsicherten Zucken seiner Schultern.

„Des is de Has vom Leon, en Zwerschwidder. Du kennst doch moin Enkel, der Bub von dem jüngste Sohn von meiner verstorwene Fraa mit ihrm erste Mann. Also quasi der Sohn von der Elfi ihrm Stiefbruder. Un“ – nachdenklich blickte Sepp einen Augenblick in die Gegend – „ich moan, des is dann ja aach moin Enkel. Och, was waas ich? Jedenfalls is der jetzt grad in seine Schulferie bei uns. Und sein Has halt aach.“

Eine wirkliche Klärung zu Sepps Stammbaum und schon gar keine Erklärung, was den Aufenthalt von Leon samt seinem Karnickel im Haus der Richters rechtfertigte, blieb Schorsch letztendlich verschlossen. Weshalb er abwechselnd nickte, mit dem Kopf wackelte und diesen auch mal schüttelte.

„Wie geht’s jetzt weiter?“, schwenkte Sepp wieder auf den Hauptgrund ihres Beisammenseins. „Was mache mer jetzt, weesche der Leich?“

„Ja, nix mache mer, hot de Herbert gesacht. Des wär jetzt die Sach von de Polizei, hot er gemoahnt. Mir hätte unser Schuldischkeit gedoa.“

„Des glaabst de doch selbst net, dass de Herbert do net nochstochert. Wenn net er, dann ganz gewiss die Helene.“

Sepp schlug sich lachend auf die Oberschenkel. „Endlich is mol widder was los. Hatt schon gedocht, mer misste erst selbst oan umbringe.“

„Soll des bedeute, dass mer do all widder mitmache misse?“

„Klar. Außerdem, was heest do misse? Des is doch Ehrensach. Du waast doch, oaner für alle und alle für oan.“

„Du, Sepp. Ich muss dir noch was beichte.“ Mit gesenktem Kopf schielte Schorsch seinen Nachbarn an. „Ich hoab doin Flachmann verlorn, gestern Nacht uf em Friedhof. “

„Was hoaste? Du bist awer aach bleed. Jetzt brauch ich en Schnaps. Aber en richtische. Geh mal zum Stall vom dem Has.“

Freitag, 28. August – 09:50 Uhr

Lange musste Nicole nicht auf das Ergebnis warten. Zugelassen war die schwarze Corvette C7 Stingray auf das Autohaus Stratmann. Die Startseite der Homepage des Nobelautohauses übernahm ein Lamborghini, in seiner ganzen Pracht. Und unter dem Link, unser Team, strahlten sie die Gesichter der Familie an. Darunter das des Yuppies, der sie so frech angegrinst hatte, und das gleich in doppelter Ausführung.

 

Zwillinge, auch das noch. Als ob einer nicht reicht.

„Moin, moin“, grüßte Lars Hansen, bekam aber keine Antwort. „Kaffee?“, versuchte er es erneut.

„Morgen. Danke.“ Nicole winkte ihren Kollegen zu sich. „Schau dir das mal an.“

„Ja, was jetzt? Kaffee – danke, ja oder Danke nein?“ Gleichzeitig beugte er sich über den Schreibtisch seiner Chefin, um einen Blick auf den PC zu werfen. „Haben wir einen neuen Fall?“

„Nee.“ Nicole grinste. „Du siehst aus wie eine alte Schildkröte. Komm rum, sonst verdrehst du dir noch den Hals.“

„Danke für das alt“, entgegnete Lars. „Autohaus Stratmann und Söhne? Du kaufst dir endlich ein neues Auto? Und dann gleich einen Luxusschlitten?“ Er kratzte sich am Kinn. „Wusste gar nicht, dass eine Kriminalhauptkommissarin so viel verdient. Sollte es mir vielleicht doch noch mal überlegen, das mit der Weiterbildung.“

„Das sag ich dir schon seit Jahren“, erwiderte Nicole. „Du wirst dieses Jahr 40 und …“

„Danke für die vorzeitigen Blumen. Das zweite Mal in kaum zwei Minuten, dass du mich an mein Alter erinnerst.“

„Ernsthaft. Denk nicht mehr zu lange darüber nach.“

„Morgen.“ Gut gelaunt kam Harald Weinert, drei Kaffeebecher balancierend, um die Ecke.

„Was schaut ihr euch da so interessiert an?“

Er stellte die Becher auf Nicoles Schreibtisch ab und schnappte sich ein Schokocroissant aus der Tüte. Lars Hansen griff ebenfalls zu, bekam aber von ihr einen Klapps auf die Finger.

„He, wieso darf der und ich nicht?“, maulte er.

Der hat Kaffee mitgebracht.“

„Eh, hallo? Ich habe dich doch gerade gefragt, ob du Kaffee willst.“

„Eben deshalb. Er hat ihn mitgebracht. Bemerkst du den feinen Unterschied?“

Nicole nahm sich einen Becher und hielt Lars schmunzelnd die Tüte mit dem französischen Gebäck entgegen.

„Ah, die Stratmanns, “ stellte Harald Weinert, mit einem Blick über ihre Schultern und auf den Bildschirm fest. „Sorgen die Sprösslinge mal wieder für Stress?“

„Wieso mal wieder?“, fragte Nicole zurück.

„Erinnert ihr euch nicht? Anfang des Jahres wurden die Söhne des Königs der Luxuskarossen mit Drogen erwischt. Selbstverständlich ganz schlecht fürs Image. Und, welch Überraschung, wurde die aufgefundene Menge an Drogen für zu gering erklärt, um eine Anklage wegen Hehlerei zu rechtfertigen. Eigenbedarf, hieß es. Und das bei 200 Gramm Heroin, dass ich nicht lache.“

Harald schnaufte tief. „Solche Typen wie der alte Stratmann“, er deutete mit seinem angebissenen Croissant auf den Bildschirm, „besitzen genügend Moneten und die Connections, um einer Strafverfolgung zu entgehen.“

„Natürlich“, bestätigte Nicole. „Jetzt fällt es mir wieder ein. Deshalb kam mir der Name so bekannt vor. Das scheint die Tochter zu sein, Jana Stratmann.“ Sie zeigte mit einem Stift auf eine hübsche etwa Mitte Zwanzigjährige, mit fast hüftlangem wallendem rotblondem Haar und einer Figur, die jede Frau vor Neid erblassen ließ, sie selbst eingeschlossen.

„Bomben Teil“, bemerkte Lars. „Dagegen sieht der alte Stratmann in seinem dunkelgrauen Anzug und Leichenbittermiene eher aus wie ein Undertaker.“

„Und weshalb schaut ihr euch das an?“ Harald Weinert stopfte sich den Rest des Gebäcks in den Mund und spülte mit Kaffee nach.

„Nicole kauft sich endlich ein neues Auto“, platzte Lars heraus.

„Aha. Und dann gleich solch eine Protzkarre? Hast du ne Gehaltserhöhung erhalten?“ Harald runzelte die Stirn.

„Quatsch“, wehrte sich Nicole vehement. „Selbst, wenn ich mir ein neues Auto kaufen würde – dann bestimmt keinen solchen Luxusschlitten. Es ist nur so. Heute Morgen ist mir eine schwarze Corvette mit Frankfurter Kennzeichen ziemlich auf den Pelz gerückt. Und später an der Ampel hat der Fahrer einen auf dicke Hose gemacht. Ich habe mir das Kennzeichen gemerkt und wollte nur mal sehen, wem die Karre gehört.“

„Mit anderen Worten, er hat dich abgehängt.“ Lars biss schmunzelnd in sein Croissant. „Hätte ich mit der Kiste auch gemacht.“

„Nein. Ich habe ihm den Vortritt gelassen“, widersprach Nicole.

„Kommt auf das gleiche hinaus“, murmelte Lars kauend.

„Strapaziere deine grauen Zellen nicht unnötig.“ Harald sah den Blick seines Kollegen an den Luxuskarossen kleben. „Für dich heißt es eh – nur gucken, nicht anfassen.“

„Nicht du auch noch“, entgegnete er genervt.

Er griff nach der Akte Denis Bauer. „Ich mache mich jetzt an unsere Arbeit. Möchte mich heute mal pünktlich vom Acker machen, falls nicht vorher eine tote Leiche auftaucht.“

„Ich auch.“

Lars und Harald starrten Nicole überrascht an.

„Eh, ich meine, ich habe auch noch genügend Arbeit.“

Als ihre Kollegen im angrenzenden Büro an ihren eigenen Schreibtischen saßen, holte sie ihr Handy aus der Tasche, drehte sich mit dem Gesicht zum Fenster und betätigte eine Kurzwahltaste. Nach dem fünften Klingeln meldete sich eine sanfte Männerstimme.

„Hi, wie geht’s? Hast es wohl gestern Abend nicht mehr geschafft?“

Er klingt enttäuscht, dachte Nicole. „Es wurde sehr spät. Wir waren erst um halbzwölf mit der Vernehmung fertig. Ich wollte dich um diese Zeit nicht mehr stören“, antwortete sie wahrheitsgemäß.

„Hätte mich aber gefreut. Ich konnte sowieso nicht besonders gut schlafen.“

„Oh, das tut mir leid.“ Ich dagegen wie eine Tote, neben Käse und Krümel.

„Wie sieht’s heute Abend aus?“

„Auf jeden Fall. Bis jetzt liegt kein Ermordeter auf meiner Türschwelle.“ Ich hoffe, das bleibt so. Ein ganzes Wochenende für uns. Eins, zwei Gläser Rotwein. Morgen lange ausschlafen und danach…

Ihr Festnetztelefon klingelte. „Ich muss auflegen. Melde mich später nochmal.“

Nicole nahm den Hörer ab. „Ach, Herr Dr. Lechner – Ja, wir sind schon wieder bei der Arbeit. Die Aussage von Denis Brauer erhalten Sie – WIE BITTE? Ein Leichenfund in Seligenstadt? Ja, aber steht denn schon fest? – Ach, schon? – Alkohol und Drogen? – Selbstverständlich.“

Sie legte auf und ließ sich in ihrem Sessel zurückfallen.

„Jungs, Arbeit! Eine Leiche auf dem Friedhof in Seligenstadt“, rief sie anschließend laut durch die geschlossene Tür.

„Nein! Na so was.“ Lars lehnte sich grinsend an den Türrahmen.

„Kein Witz. Gesten Abend wurde eine junge Frau tot in der Friedhofskapelle gefunden. Anfangs schloss der Notarzt auf Herzinfarkt, wurde aber dann misstrauisch. Daraufhin kamen die Kollegen vom KDD zum Einsatz. Die Leiche ist bereits in der Gerichtsmedizin und seziert. Es wurde eine nicht geringe Menge Alkohol und auch Drogen festgestellt. Und nun möchte Dr. Ludwig Lechner, dass wir den Fall übernehmen, weil …“

„… du in dem Städtchen wohnst und mit den netten Leutchen so gut kannst“, beendete Harald den Satz.

„So in etwa drückte der Chef sich aus.“

„Scheiße“, entfuhr es Lars.

Nicoles PC signalisierte eine ankommende Nachricht. Sie öffnete die Mail.

„Eine Mitteilung von Polizeioberkommissar Maier aus Seligenstadt. Bestimmt erinnert ihr euch an ihn.“

Hansen und Weinert nickten unisono.

„Er fand die Leiche der jungen Frau gestern, kurz nach 23 Uhr, in der Kapelle des alten Friedhofs. Und bevor eine weitere intelligente Bemerkung von euch kommt, von wegen, was treibt der nachts auf dem Friedhof? Ein anonymer Anrufer gab den Hinweis.“

„So ungewöhnlich finde ich das jetzt gar nicht“, verteidigte Harald Weinert den Kollegen der Ortspolizei. „Er hätte auch auf der Lauer liegen können, wegen der Grabschänder, die gerade auf dem dortigen Friedhof ihr Unwesen treiben.“

„Was? Welche Grabräuber?“ Konsterniert starrte Nicole ihn an. „Und woher weißt du davon?“

„Stand im Onlinebericht der regionalen Polizeimeldungen.“

Unverständiges Kopfschütteln von Lars Hansen. „Geile Freizeitgestaltung. Dein Liebesleben hält wohl gerade Winterschlaf oder liegt bereits im Koma?“

„Da mach‘ dir mal keine Sorge, Liebling.“ Harald Weinert lächelte seinen Kollegen neckisch an. „Aber zur allgemeinen Info. Ich arbeitete gerade an einer Statistik, zu dem Thema: Der Unterschied zwischen urbaner und ländlicher Kriminalität, unter anderem auch zu Vandalismus auf Friedhöfen.“