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Mittwoch / 15:10 Uhr

Als Herbert an diesem Tag erneut am Haus von Sepp ankam, hörte er schon auf dem Weg zur Haustür eine lautstarke Auseinandersetzung. Hauptsächlich vernahm er Elfis Stimme, die zwischen Wut und den Tränen nahe hin und her schwang. Sie schien mit ihren Nerven am Ende.

Durch das immer offene Gartentor eilte Herbert zur Terrasse und betrat die Küche durch die Terrassentür.

„Tach“, sagte er kurz. „Mein Gott, was is en hier los? Mer hört euch ja bis zum Marktplatz.“

Sepp saß am Küchentisch und schaute mit hochrotem Kopf auf. Auf seinem Gesicht zeigten sich Scham aber auch Trotz. Elfi stand zitternd, ebenfalls mit rot glühenden Wangen, vor ihm.

„Gut, dass du kommst. Ich weiß nicht mehr weiter.“

Zur Unterstreichung ihrer Hilflosigkeit schwang sie die Arme in die Luft.

„Was is en los? Ich wollt eigentlich nur ...“

„Heute Morgen verliert er sein Handy“, fiel Elfi Herbert ins Wort, „und dann das.“

Er folgte ihrer Kopfbewegung zu der zerstörten Telefonstation, die Sepp krampfartig in seinen Händen hielt, als wolle er sie nie mehr wieder loslassen.

„Es wird jeden Tag schlimmer. Keine Minute kann man ihn alleine lassen, ohne dass er Unsinn macht.“

„Is mir halt runnergefalle“, brummelte Sepp Richter vor sich hin und senkte wieder seinen Kopf. „Kann doch mal passiern. Isch wollt des ja aach widder zusammeklewe.“

Elfi schnaufte. „Aber doch nicht mit Sekundenkleber! Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

„Was?“, rief Herbert, gleichermaßen fassungslos. „Du hast des Telefon mit Sekundekleber zusammeklebe wolle?“

„Hot ja aach geklappt. Nur moi Finger babbe do jetzt aach dro“, antwortete Sepp kleinlaut.

„Ich habe den Notarzt verständigt“, seufzte seine Tochter. „Die müssten jeden Moment eintreffen. Ich wollte nicht so mit dem Vadder vor die Tür, wegen der Nachbarschaft.“

Herbert wusste genau, wer mit Nachbarschaft gemeint war, vermutete aber, dass ein Krankenwagen, direkt vor dem Haus, die Gleiche die Aufmerksamkeit erregen würde.

In diesem Augenblick klingelte es und Elfi eilte an die Haustür. Nach einem kurzen Stimmengemurmel betraten zwei stämmige Sanitäter die Küche.

„Guten Tag Herr Richter. Na, dann wollen wir mal“, äußerte der Kleinere.

„Auch wenn Sie sehr an Ihrem Telefon hängen“, sagte der andere. „Jetzt müssen Sie loslassen. Wir gehen auch ganz behutsam vor. Tut kaum weh.“

Erschrocken sah Sepp zu den beiden auf. Den Blick würde Herbert so schnell nicht wieder vergessen und Sepp, so hoffte er, nicht die Angst, die ihm im Gesicht abzulesen war.

Nach einer Viertelstunde und etlichen Schweißperlen auf Sepps Stirn war die Prozedur überstanden.

„So, Herr Richter. Jetzt haben Sie es geschafft. Hat doch gar nicht wehgetan, oder?“, äußerte der Größere.

Ohne eine Antwort von Sepp abzuwarten fuhr er fort: „Die Verbände sollten Sie aber in spätestens zwei Tagen erneuern lassen. Am besten Sie kommen zu uns ins Krankenhaus. Dann haben wir vielleicht auch ihr Handy aus dem Pool gefischt. Allerdings mit der Wassergymnastik wird das die nächsten Tage nichts.“

„Des muss aach net soi“, brummelte Sepp und seine Tochter begleitete die Sanitäter hinaus.

„Du hast ihr net erzählt, dass des mit dem Telefon die andere zwei warn?“, fragte Herbert.

„So wie die druff is, tät die dene bestimmt Hausverbot erteile. Und du sechst aach nix. Dass mer uns do verstehe!“

„Schön, dass ihr euch wenigstens versteht“, sagte Elfi, zurück in der Küche. Zum gefühlten zehnten Mal seufzte sie. „Ich verstehe nichts mehr, und will auch nichts mehr verstehe. Zum Glück kommt der Leon so in einer Stunde. Der Bub ist mit seinen 12 Jahren wesentlich vernünftiger, als du mit deinen 92.“

„Was, der kommt heut schon?“, fragte Sepp.

„Ja. Wieso passt dir das nicht?“

„Was soll des jetzt widder heiße? Nadirlich passt mir des. Isch bin immer froh, wenn der Bub kimmt. Warum host de mir des net gesacht?“

„Wollte ich vorhin. Aber, deine Bastelei kam dazwischen.“ Elfi blitzte ihren Vater gereizt an.

„In seiner Schule ist ein Darmvirus im Umlauf“, wandte sie sich Herbert zu. „Und weil sowieso bald die Herbstferien beginnen, hat die Schulleitung alle Kinder, die noch nicht betroffen sind, freigestellt. Nur, Leons Eltern müssen diese Woche noch arbeiten. Deshalb bleibt er die nächsten Tage bei uns.“

„Isch hab Schmerze. Isch brauch a Tablette“, murmelte Sepp und schielte zu seiner Tochter.

„Ich auch. Ich habe Kopfschmerzen“, entgegnete sie und stapfte ins obere Stockwerk.

„Du machst aber auch Sache“, sagte Herbert.

„Du jetzt net aach noch. Isch hab’s ja kapiert. Des war bleed.“

„Des war net nur blöd; des war saublöd.Wo sind eigentlich die Gundel und der Schorsch?“

„Die hawe sich gleich aus em Staub gemacht, nachdem isch do festgebabbt war. Dene werd isch ebbes verzählte, wenn die sisch widder blicke losse; des kannst de mer glawe.“

Mittwoch / 16:05 Uhr

Lars hatte soeben begonnen einige der Aufnahmen vom Fundort der Leiche an die Glaswand, die ihre Büros voneinander trennte, anzubringen, als sein Handy vibrierte.

Er hastete zu seinem Schreibtisch und konnte gerade noch verhindern, dass das Telefon, das er mal wieder achtlos zu nahe an den Rand der Tischkante gelegt hatte, die Schwerkraft ausprobieren konnte.

„Hi, Harry. Na gut amüsiert, bei den Leichenfledderern?“

„Ja, doch, war recht unterhaltsam“, ging Harald auf die flapsige Bemerkung seines Kollegen ein, konnte sich aber im letzten Moment zurückhalten, den misslungenen Auftritt des jungen Staatsanwalts preiszugeben. Stattdessen informierte er Lars über die noch nicht allzu spektakulären Erkenntnisse der Obduktion.

„Nicht gerade viel“, kommentierte der dann ebenso prompt. „Aber, auch bei mir ist nichts Neues zu vermelden.“

„Ich setze mich noch mit der Polizeidienststelle in Seligenstadt in Verbindung“, sagte Harald. „Vielleicht gibt es dort neue Erkenntnisse. Wir kommen so in etwa einer oder eineinhalb Stunden zurück.“

„Aha. Und, was treibt ihr solange, während ich hier schufte?“

„Wir gehen jetzt einen Kaffee trinken. Also bis später.“

Bevor sein Kollege noch irgendeine Bemerkung loslassen konnte, hatte Harald das Gespräch beendet.

„Kaffeetrinken? Dann werde ich mir auch einen Wachmacher holen“, murmelte Lars vor sich hin, verließ das Büro und rannte, immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend in die Kantine.

Dort angekommen, schnappte er sich am Eingang eine Tageszeitung, zwinkerte der charmanten Bedienung hinter dem Tresen zu und bestellte einen doppelten Espresso. Beim Anblick der leckeren Schinkenbrötchen, mit einem Klecks Fleischsalat versehen, knurrte sein Magen und erinnerte ihn an das verpasste Mittagessen. Also orderte er auch noch zwei Brötchen und setzte sich an einen Fensterplatz.

Lars hatte die Angewohnheit, eine Zeitung zuerst von hinten nach vorne durchzublättern. Deswegen fiel ihm der Bericht über die bevorstehende Verleihung des Bundesverdienstordens an einen Staatsanwalt a. D., mit Namen Heinz Hagemann erst ins Auge, als er die Tageszeitung zum zweiten Mal und diesmal intensiver von vorne nach hinten studierte.

Nicht der Bekanntgabe als solche weckte sein Interesse, mehr das Foto des Anwärters auf die Auszeichnung.

Den kenne ich doch, nur woher?

Sekundenlang starrte Lars auf das Foto und zermarterte sich den Kopf. Dann traf es ihn wie ein Blitz.

Das gibts doch nicht.

Hastig schlürfte er seinen noch heißen Espresso und verbrannte sich prompt den Gaumen. Mit unter dem Arm geklemmter Zeitung und dem zweiten Schinkenbrötchen in der Hand spurtete er aus dem Speisetempel.

Im Büro legte er die Wurstsemmel achtlos auf seinen Schreibtisch und begann sogleich die Tastatur seines PCs zu malträtieren.

Nach nur wenigen Klicks landete er auf der Seite des Landgericht Darmstadt. Einige Sekunden später blickte er in das markante Gesicht von Staatsanwalt a.D. Heinz Hagemann.

Der geht auch zum Lachen in den Keller, schoss Lars der Gedanke durch den Kopf.

Der Mann mit den ausgeprägten Wangenknochen und den dunklen stechenden kleinen Augen war ihm auf Anhieb unsympathisch.

Mittwoch / 16:20 Uhr

Der wird von Tag zu Tag anstrengender. Herbert stöhnte. Oh, Äppelkuche?

Der Duft aus der Küche besserte schlagartig seine Laune.

„Helene!“

„Ich bin hier oben.“ Ihre glockenhelle Stimme kam aus dem oberen Stockwerk. „Setz bitte schon mal Kaffee auf. Ich habe einen Apfelkuchen gebacken.“

In der Küche war der Tisch bereits gedeckt und mittig stand ein ofenfrischer Kuchen. Herbert schaute zur Küchentür, brach am Rand ein kleines Stück ab und steckte es sich in den Mund.

„Mm.“

Nachdem er Wasser und Kaffeepulver in die Maschine gefüllt hatte, ging er die Treppe hinauf und fand Helene vor dem Computer.

„Ich habe schon mal angefangen zu recherchieren“, sagte sie, ohne sich umzudrehen.

Herbert beugte sich über ihre Schulter und versenkte dabei sein Gesicht in ihrem Nacken. „Was hast du gefunde?“, brummte er.

„Noch nicht sehr viel. Bis jetzt nur ein paar Informationen über den Staatsanwalt Heinz Hagemann aus dem Landgericht Darmstadt.“

Helene drehte sich mitsamt ihrem Bürosessel Herbert zu. „So lange warst du ja auch nicht weg.“

 

„Mir is es wie e Ewigkeit vorgekomme. Ich sag dir, der wird von Tag zu Tag anstrengender“, wiederholte er seine vorherigen Gedanken.

„Konntest du Sepps Telefon wieder in Ordnung bringen?“

„Dazu bin ich gar net erst gekomme.“

„Warum, was ist passiert?“

Herbert nahm auf dem zweiten Bürostuhl Platz.

„Wie ich vermutet hatte, war der Sepp nur auf den Lautsprecherknopf gekomme und hat net mehr gewusst, wie des rückgängig gemacht werde kann. Nach dem Radau, den wir im Hintergrund gehört habe, müsse sich die Gundel, der Schorsch und der Sepp um die Station gestritte habe und die is dabei wohl runtergefalle und war kaputt. Des Schlimmste is, dass der Sepp versucht hat, des Gehäuse wieder zu klebe – mit Sekundenkleber und …“

„Was … mit Sekundenkleber?“

Herbert nickte. „Seine Finger hat er halt gleich mit angeklebt.“

„Grundgütiger!“, rief Helene.

„Halb so schlimm“, winkte er ab. „Die Sanitäter warn schon da und habe seine Fingerchen wieder vom Rest getrennt; hat aber a Viertelstund gedauert. Jetzt hat er acht von zehn Finger verbunde und sitzt rum und jammert.“

„Die arme Elfi.“ Helene seufzte. „Wenigstens habe ich einige gute Neuigkeiten.“ Sie zeigte auf den Bildschirm.

„Schau mal hier. Das ist Friedhelm Hanke, Richter am Darmstädter Landgericht, bis zu seiner Pensionierung 1998. Ist aber leider schon verstorben.

Heinz Hagemann arbeitete, wie wir schon wissen, dort als Staatsanwalt und eng mit ihm zusammen.“

„Wie bist du denn auf den gestoße?“

„Genauso wie du immer vorgehst habe ich zuerst den Namen des Opfers – Heinz Hagemann – eingegeben und mich dann durchgearbeitet. Dabei stieß ich auf diesen Richter.“

„Mein großes Mädche.“ Herbert küsste Helene in den Nacken. „Aber bitte, lass uns nachher zusamme weitermache. Jetzt muss ich mich erst mal erhole und des geht am beste mit einem Stück frische Äppelkuche.“

Sie gingen beide nach unten in die Küche und Helene schenkte den mittlerweile durchgelaufenen und dampfenden Kaffee in die bereitstehenden Tassen.

„Ich glaube, wir haben Mäuse“, sagte sie mit einem schelmischen Blick auf den Kuchen.

„Dann habe die en gute Geschmack“ Herbert schnitt sich ein großes Stück ab.

„Jetzt steht der Sepp aber ohne Telefon da“, nahm Helene wieder das Thema auf. „Was ist, wenn ihm etwas passiert und er Hilfe braucht?“

„Momentan kann er sowieso net telefoniern. Wie soll en des gehe, mit dene bandagierte Finger? Aber, mach dir da mal keine Gedanke. Die Elfi hat gesagt, dass nachher der Leon kommt und für a paar Tage hierbleibt. Der passt schon auf seinen Opi auf.“

Helene nickte. „Sag mal, du hast doch noch alte Handys. Könntest du nicht eines davon ... ich meine ... vielleicht wenn du eine Karte besorgst ...?“

Herbert seufzte. „Ja, is ja gut. Wenn du mich so anguckst, mit deine große blaue Auge … kann ich ja net anders.“

Mittwoch / 16:40 Uhr

Harald hielt seinem Kollegen eine Tüte unter die Nase, aus der es nach Schinkenbrötchen duftete.

„Danke, aber du kommst zu spät.“

Lars deutete auf seinen Schreibtisch. Dort vollzog sich zeitgleich die Scheidung zwischen Wurstsalat und Schinken und die Mayonnaise überlegte gerade eine Dreierbeziehung mit der darunterliegenden Serviette und der Tischplatte einzugehen.

Angewidert verzog Nicole ihr Gesicht.

Dessen ungeachtet fuhr Lars fort. „Ich habe unser Opfer identifiziert. Heinz Hagemann, Staatsanwalt a.D. wohnhaft in Seligenstadt.“ Er nahm die Zeitung zur Hand und referierte den Artikel.

Bundesverdienstorden für Staatsanwalt a.D. Heinz Hagemann. Der 1947 geborene Baden-Württemberger startete seine Kariere in Seligenstadt am Ortsgericht, bevor er zum Landgericht Darmstadt wechselte. Von seinen Kollegen geachtet, von Straftätern gefürchtet (Hagemann forderte immer die Höchststrafe), stand für ihn Gesetz und Ordnung stets an oberster Stelle. Auch nach seiner Pensionierung stellte Heinz Hagemann seine Arbeitskraft und seine Erfahrungen seinen Mitmenschen zur Verfügung. Wenn einer diese Auszeichnung verdient, dann dieser ehrenwerte Mann.

Der Sermon geht so weiter.“ Lars legte die Zeitung beiseite. „Mutter Teresa scheint ein ganz kleines Licht, gegen diesen Supertypen. Aber, worauf ich eigentlich hinaus will ist: Vielleicht war nicht jeder von Heinz Hagemanns humaner und sozialer Seite überzeugt und der Meinung, dass der Mann diese Auszeichnung nicht verdient hätte. Zumindest lese ich zwischen den Zeilen, dass er als Staatsanwalt seine Machtbefugnisse bis aufs Äußerste ausreizte und bestimmt nicht mit jedem Gut Freund war.“

„Zumindest nicht bei den Verbrechern, die er hinter Gitter geschickt hat, könnte ich mir vorstellen“, stimmte Harald zu.

„Auch wenn er die krassesten Strafen forderte“, entgegnete Nicole, „liegt es doch letztlich am Urteil des Richters.“

„Richtig, Boss.“

Lars klickte in die untere Leiste seines Computers und holte die Dateien, die er dort zwischengelagert hatte, zum Vorschein.

„Auch hier habe ich etwas Feines vorzuweisen. Seht euch das an. Jedes Mal, wenn Staatsanwalt Hagemann die zulässigen Höchststrafen durchsetzen konnte, hatte ein Richter namens Friedhelm Hanke den Vorsitz … ein ehemaliger Unteroffizier. Auch er war für seine strengen Urteile bekannt, wie aus den Unterlagen hervorgeht. Ich würde meinen … ein eingespieltes Team.“

„Na gut. Man könnte sagen, Hagemann war ein harter Hund“, replizierte Nicole. „Aber, warum sollte ihn jemand deswegen und erst jetzt, nachdem er schon lange im Ruhestand ist, töten? Ich nehme mal an, darauf willst du hinaus?“

„Genau“, antwortete Lars. „Ich dachte mir, mit dieser Auszeichnung, die Hagemann erhalten sollte, ist das Fass übergelaufen, wie man so sagt. Irgendwer zog die Reißleine. Vielleicht jemand der jetzt erst seine Strafe abgesessen hat.“

„Gar nicht so verkehrt.“ Harald nickte nachdenklich.

„Dann fangen wir mit den schweren Jungs an, die Hagemann für längere Zeit hinter Gitter brachte und die nun wieder auf freiem Fuß sind. Einen anderen Ansatz haben wir zurzeit sowieso nicht“, schlug Nicole vor und setzte sogleich nach.

„Trotzdem, vergesst nicht, erfahrungsgemäß ist der Mörder im unmittelbaren Umfeld des Opfers zu suchen. Nachdem jetzt die Identität zu 95% feststeht, kümmert euch um die Familienverhältnisse, Freunde, Bekannte und so weiter. Die Vereine nicht zu vergessen, in denen er tätig war. Ach ja, ganz wichtig, der Richter. Wie war noch sein Name?“

„Friedhelm Hanke“, antwortete Lars, wie aus der Pistole geschossen. „Aber den können wir von der Liste der Verdächtigen streichen. Der hat sich bereits 1998 von dieser schönen Erde verabschiedet.“

Nicole nickte. „Dann rufe ich den Doc an. Vielleicht liegen die Ergebnisse des Zahnabgleichs schon vor und wir haben die absolute Bestätigung, dass unser Opfer Heinz Hagemann ist. Nicht, dass ich an deinen Recherchen zweifeln würde, Lars“, fügte sie hinzu.

Gleichzeitig deutete sie auf seinen Schreibtisch. „Beseitige die Schweinerei, bevor dort ein Biotop entsteht.“

Lars rollte mit den Augen, holte aber sofort eine Rolle Küchenpapier aus seiner Schublade.

„Verdammt!“, fluchte er, keine drei Sekunden später.

„Was ist los?“, fragte Harald. „Hat sich die Mayonnaise schon in die Tischplatte geätzt? Oder hast du dir den Daumen eingezwängt?“

„Dass ich nicht sofort daran gedacht habe“, murmelte Lars und wühlte hektisch in den Mappen der unerledigten Fälle, die noch immer hinter ihm auf dem Schrank lagen.

„Hier ist es. Der Akte des vermissten Jungen aus Seligenstadt. Das ... kann ... kein ... Zufall sein!“

„Was meinst du?“

Mit wenigen Schritten stand Harald neben seinem Kollegen. Das Erste, was er sah, war das Foto, rechts oben. Es zeigte einen Jungen mit einem auffällig zarten Gesicht mit graublauen Augen.

Jeder für sich, überflogen die Kommissare, den Text.

Der 17-Jährige hieß Daniel Hagemann, Sohn von Heinz und Maria Hagemann, wurde am 18. Oktober 2001 als vermisst gemeldet, und zwar von seiner Mutter. Tagelang suchte die Polizei fieberhaft die Umgebung ab. Schließlich wurde die Kriminalpolizei eingeschaltet, weil man ein Sexualverbrechen, einen Mord oder beides nicht ausschließen konnte. Aber alle Anstrengungen – auch der Einsatz von Spürhunden – blieben erfolglos.

„Wieso hat nur die Mutter den Jungen als vermisst gemeldet? Wieso stehen da nicht die Namen beider Elternteile?“, stellte Harald mehr sich selbst die Frage.

„Ja, ist allerdings merkwürdig“, stimmte Lars ihm bei.

„Was ist merkwürdig?“ Nicole hatte sich hinter ihren Mitarbeitern postiert. „Habt ihr etwas gefunden?“

„Allerdings. Hier, die Vermisstenanzeige eines Jungen aus Seligenstadt, Oktober 2001“, setzte Harald seine Chefin in Kenntnis.

„Welche Vermisstenanzeige?“

„Ein ungelöster Vermisstenfall; ist scheinbar zwischen die unaufgeklärten Mordfälle gerutscht. Ich wollte Andy die Akte schon zurückbringen, aber dann kam uns der aktuelle Mord dazwischen.“

„Und warum stöbert ihr zwei jetzt darin herum? Was hat das mit unserer Leiche zu tun?“

„Unserem Genie ist die Namensgleichung aufgefallen“, schmunzelte Harald.

„Der Vermisste, damals 17-jährige heißt Daniel Hagemann und unser Opfer – Heinz Hagemann. Klingelt’s?“

Lars sah Nicole herausfordernd an. Als diese nichts sagte, fuhr er fort: „Er ist … oder war Hagemanns Sohn. Er wurde, fast auf den Tag genau, vor 21 Jahren als vermisst gemeldet. Allem Anschein nach aber nur von seiner Mutter. Die Unterschrift des Vaters, Heinz Hagemann, fehlt auf der Anzeige. Das macht uns stutzig.“

„Dafür könnte es verschiedene Gründe geben“, warf Nicole ein. „Möglicherweise ein Versehen. Vielleicht war er an dem Tag, als sein Sohn verschwand, gar nicht zu Hause. Und die Unterschrift wurde dann vergessen. Oder er wollte seine Stellung als Staatsanwalt nicht ausnutzen. Ist das denn so wichtig?“

Harald zuckte mit den Schultern. „Wenn meine Tochter verschwinden würde, egal in welchem Alter, würde ich alle Hebel in Bewegung setzten, um sie zu finden. Und, wenn meine Position als Kriminalbeamter mir dabei hilfreich wäre, würde ich die ohne zu zögern einsetzen.“

„Da gebe ich Harry recht. Auch, wenn ich keine Kinder habe – jedenfalls nicht wissentlich“, Lars grinste, „finde ich das Verhalten des Staatsanwalts schon sehr merkwürdig. Ich glaube eher, dass in dieser Familie etwas ganz und gar nicht stimmte. Oder sogar etwas verheimlicht werden sollte.“

Nicole wiegte nachdenklich den Kopf. „Könnte natürlich auch sein. Wir fragen seine Witwe danach. Wir müssen ihr sowieso mitteilen, dass ihr Ehemann Opfer eines Gewaltverbrechens wurde. Der Zahnabgleich hat es bestätigt. Es handelt sich definitiv um Heinz Hagemann.“

„Ok. Wer überbringt die Botschaft?“, fragte Harald.

„Lars und ich übernehmen das. Ich bleibe dann auch gleich in Seligenstadt. In der Zwischenzeit kannst du dich tiefer in die familiäre Situation der Familie graben. Ich sehe doch, wie es hinter deiner Denkerstirn brodelt. Ach, und wenn du und Andy schon dabei seid den Staub der letzten Jahre aufzuwühlen, schaut, ob in dem Zeitraum eine unbekannte männliche Leiche aufgefunden wurde; sagen wir mal vorerst im Radius von 200 Kilometern.“

„Woher weißt du, dass ich ...?“ Harald schüttelte seinen Kopf. „Wieso frage ich eigentlich noch.“