Der Steinheimer Torturm

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Wie immer, wenn er einen Auftrag erledigt hatte, rief er die Nummer an, die auf seinem Handy mit Bajorai angezeigt wurde.

„Alles nach Plan gelaufen“, sagte er.

„Gut. Hat ER die Nachricht endlich verstanden?“

„Denke schon. Aber ...“ Er zögerte einen Moment.

„Was aber?“, fragte die blechern klingende Stimme am anderen Ende.

„Ich wurde beobachtet! Den Kerl habe ich vorerst ruhig-gestellt und sein Equipment habe ich auch. Soll ich ihn kaltmachen?“

„Wer ist es?“

„Joachim Brunner vom MEK, unser Bauernopfer.“

„Wie konnte das passieren?“ Einen Moment herrschte Schweigen. Dann sagte die Stimme: „Verpasse ihm einen Schuss und schaffe ihn, sobald es dunkel ist nach Seligenstadt in den Torturm und dort in den kleinen Raum neben dem Funkraum. Ich werde mich um ihn kümmern.“

„Geht klar. Wieso aber in diesen Turm?“

„Stell keine Fragen – tu was ich sage.“

„Und wo genau ist der Turm?“

„Navi“, kam die schnelle Antwort. „Und pass diesmal auf, ansonsten war das dein letzter Auftrag und du weißt, was dann geschieht.“

Und ob er das wusste. Er selbst sorgte dafür, dass schlampige Arbeit, ohne Wenn und Aber bestraft wird. Allerdings fragte er sich jetzt, wer ihn bestrafen würde ... der Chef?

„Der Schlüssel liegt neben der Eingangstür“, wurde er aus seiner Überlegung gerissen.


Dieser Dummkopf hatte sich erwischen lassen. Jetzt war schnelles Handeln erforderlich. Den MEK-Mann Brunner einfach töten wäre zu simpel und die gegen ihn anfänglich mutmaßlich ausgestreuten Beschuldigungen, die mittler-weile längst zu überprüfbaren Beweisen umfunktioniert worden waren, würden im Falle seines Todes womöglich intensiver unter die Lupe genommen werden. Sicher, früher oder später würde ein IT-Techniker der Polizei feststellen, dass die Dokumentationen in Brunners Personalakte als auch die Fotos gefaket waren. Bis dahin aber musste er erst einmal aus dem Verkehr gezogen werden, um den Ablauf des Geschäfts nicht zu gefährden. Zudem musste geklärt werden, was der MEK-Mann wusste und wem er davon erzählt haben könnte.

Eine Kleinigkeit für jemanden, der von klein auf die Praktiken kennenlernen durfte, mit denen man Leute zum Reden bringt. Der historische Torturm war für Verhöre der ideale Ort. Brunners Transport in den zweiten Stock würde zwar etwas Schwierigkeiten bereiten – aber das war Rowohlts Problem. Letztlich hatte er die Sache verbockt.

Montag / 08:40 Uhr

„Du glaubst net, was passiert ist und wer da grad am Telefon war.“ Herbert stürzte ins Bad, wo Helene sich die Haare föhnte. „Des war der Heinz Klein, der mit dem strubbelische Hund, den wir schon öfter am Main getroffe habe.“

„Was?“, fragte sie und stellte den Haartrockner aus.

Herbert wiederholte mit lauter Stimme.

„Du musst nicht schreien. Ich höre noch ganz gut.“

„Jetzt schon“, knurrte er. „Stell dir vor, jetzt hat der auch en Tote gefunde – im Gewerbegebiet, da in Nähe, wo er wohnt. Er sagt, der Mann wär erschosse worde.“

„Ach? Woher will er das wissen? Hatte der Tote ein Einschussloch mitten auf der Stirn?“

„Genau.“ Herbert starrte Helene mit offenem Mund an. „Kannst du jetzt auch noch hellsehen?“

„Im Ernst?“ Sie ließ die Bürste sinken. „Schon wieder ein Mordopfer? Wer ist es?“

„Der Heinz hat gehört, dass so en Lange von der Kripo – des kann doch nur der Lars gewese sein – den Namen Alexander Vogt erwähnte. Aber er will mir gleich die Fotos auf mein Handy schicke.“

„Der hat die Leiche fotografiert?“, rief Helene mit in Falten gezogener Stirn.

Zeitgleich erklang die Melodie Strangers In The Night von Frank Sinatra. Herbert zog sein Smartphone aus der Hosentasche.

„Hier. Guck dir des an.“ Er hielt Helene das Handy so nahe vor ihr Gesicht, dass es fast ihre Nase berührte.

„So kann ich nichts sehen“, sagte sie verärgert und nahm das Telefon an sich. Sekundenlang mit zu Schlitzen reduzierten Augen starrte sie auf die Fotos.

„Was ist? Kennst du den?“ Herbert streckte seinen Kopf über Helenes Schulter.

„Ich bin mir nicht ... Aber, ja, das ist wirklich Alexander, der Sohn von Magda Vogt, ein schwieriger Junge. Immer mal wieder hat er mit der Polizei zu tun, schon als Jugendlicher. Du musst dich doch auch noch erinnern ... die Sache mit den Funkern im Steinheimer Torturm? Na ja, ist so 20 oder 22 Jahre her; stand aber damals groß in der Zeitung – natürlich nicht mit Namen.“

Weil Herbert nicht direkt reagierte, fuhr Helene fort. „Der Alexander und ein Kumpel von ihm sind dort eingebrochen. Die suchten vermutlich nach Geld, um ihren Drogenkonsum finanzieren zu können, fanden aber keines. Wohl deshalb hatten sie viele der Funkgeräte zerstört und ein erhebliches Chaos hinterlassen, auch in finanzieller Hinsicht.“

„Wie kamen die damals überhaupt dort rein? Das ist doch eine massive Tür.“

„Alexander hätte den Schlüssel seines Vaters genommen, hieß es. Johann Vogt war Mitglied der Amateurfunker. Und weil er ja nur ein paar Meter entfernt wohnte, hatte man ihm einen Schlüssel überlassen. Natürlich wurde mein Friedel ... eh ...“ Sie warf Herbert einen verunsicherten Blick zu.

„Ist schon ok“, sagte der.

Längst hatte er sich daran gewöhnt, dass Helene – wann immer sie von ihrem verstorbenen Mann sprach – ihn meinen Friedel nannte. Anfangs war er darüber gekränkt und auch ein bisschen eifersüchtig. Aber im Laufe der gemeinsamen Jahre war er zu der Ansicht gekommen, dass ein Toter wohl keine große Gefahr mehr darstellte.

„Was ich sagen wollte ist, dass Friedel mit der Aufklärung betraut worden war und auch schnell die beiden Jugendlichen als Täter überführen konnte. Nicht zuletzt deshalb, weil der Vater selbst seinen Sohn anzeigte. Alexander hat ihm das nie verziehen. Das erfuhr ich aber erst Jahre später, als ich Magda zum Tod ihres Mannes einen Kondolenzbesuch abstattete.“

„Sind des eigentlich ihre eigenen Sprösslinge oder sind die angenomme? Ich mein, die Vogt ist ja schon weit über 80.“

„Frau Vogt“, korrigierte Helene. Sie mochte es absolut nicht leiden, wenn jemand nur mit seinem Nachnamen genannt wurde.

„Genau kann ich das nicht sagen. Die Familie kam mit den beiden Kindern nach Seligenstadt und haben sich gleich sehr gut integriert. Sie waren bei jedermann beliebt. Übrigens ist Magda Vogt 78 Jahre – also genauso alt wie du.“

Einige Minuten schwiegen sie, bis das anhaltende Klingeln der Türglocke die Stille unterbrach.

„Oh, ich ahne Schlimmes“, äußerte Herbert und: „Der Heinz hat gesagt, dass die Gundel von ihnen alles aus erster Quelle hörn wollt – was net geklappt hat. Kannst du mir die vom Hals halte?“ Er schaute Helene flehend an.

„Wer kann diesem Blick widerstehen? Ich werde mein Bestes tun.“

Schmunzelnd ging sie nach unten und öffnete die Tür. Ihr „Komm herein“, wurde von der im Juli 80 Jahre alt gewordenen aber quirligen Gundula Krämer glattweg überhört. Die trippelte wie immer an ihr vorbei in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Gleichzeitig plapperte sie ohne Punkt und Komma munter drauf los.

„Der Heinz Klein hat eine Leiche gefunden. Stell dir das mal vor! Er und das strubbelige Etwas, das er seinen Hund nennt, haben einen Toten gefunden. Er konnte mir aber keine Fragen beantworten, so fertig war der Ärmste. Die wollten auch gleich zum Arzt. Ich habe ihm und der Herta geraten, Hilfe bei euch zu holen. Ihr wisst, doch wie man mit so einer Entdeckung am besten umgeht – von wegen Trauma oder wie man das nennt. Die werden bestimmt bald bei euch anrufen.“

„Du hast was? Sag mal ...? Weder Herbert noch ich sind Psychologen. Wenn der Heinz wirklich Hilfe braucht, dann von einem Spezialisten.“

„Na ja, so außer der Fassung kam er mir jetzt auch nicht vor“, verteidigte Gundel sich.

„Woher wusstest du eigentlich von dem Toten und wer ihn gefunden hat?“

Die grade mal 1,45 Meter kleine Person, rutschte auf dem Stuhl hin und her.

„Na ja, ich ... ich hab den Polizeifunk abgehört.“

„Was? Bist du nicht mehr ganz bei Trost?“ Helene schüttelte den Kopf. „Hat dir der Polizeieinsatz in deiner Wohnung vor einer Woche noch nicht gereicht? Du bist knapp an einer Haftstrafe vorbeigeschrammt, hätte Nicole sich nicht für dich eingesetzt. Ist dir das klar?“

„Ja – doch – schon. Mir ist manchmal halt langweilig, seit der Sepp nicht mehr da ist und Schorsch und Brigitte treffe ich auch nur einmal in der Woche und die Malerei füllt mich auch nicht ganz aus.“

Trotzig schaute sie auf; hatte dabei aber feuchte Augen „Wem schade ich denn, wenn ich die Polizei abhöre? Niemandem! Und keiner weiß davon – außer dir, jetzt“, jammerte sie und tat Helene schon wieder leid.

„Wer hat dir geholfen? Und sag jetzt nicht, dass du das mit dem Polizeifunk alleine hinbekommen hast.“

„Die Körner-Jungs von gegenüber. Den Funkscanner – so nennt sich das Gerät – habe ich mir aber selbst aus dem Internet bestellt. Damit haben die nichts zu tun.“

„Was du gemacht hast, wird mit bis zu drei Jahren Haft bestraft.“ Herbert lehnte amüsiert am Türrahmen. Keine der Frauen hatte ihn bis jetzt bemerkt. „Bei Anstiftung von Minderjährigen zu einer Straftat – vielleicht noch ein paar Monate mehr“, setzte er einen drauf.

„Wie alt sind die zwei, 13 und 15?“

„Aber ... ihr werdet mich doch nicht anschwärzen ...?“ Gundel schaute abwechselnd von Helene zu Herbert.

 

„Wenn der Felix und der David dichthalte, dann mache wir des auch“, versprach er und konnte er sich das Grinsen kaum verkneifen. „Du lässt ab jetzt aber deine Finger von dem Gerät! Net, dass die vom MEK nochmal bei dir vor der Tür stehe.“

Gundel nickte heftig, sprang wie ein Wiesel vom Stuhl und rannte fast aus dem Haus.

„Ich denk‘, des muss se erst mal verdaue und wir habe vorerst Ruh. Aber wir sind diesmal fett dabei, oder?“ Er schmunzelte verschmitzt. „Ermittlunge im eigene Umfeld – des is doch genau unser Ding.“

Aufgrund der Angaben von Heinz Klein, dem Foto des Toten, sowie Helenes Informationen, hatte Herbert schon eine ganze Menge zusammengetragen. Jetzt war er dabei eine Akte anzulegen.

Dermaßen in seine Tätigkeit vertieft, zuckte er zusammen, als seine Liebste dicht an seinem Ohr sagte: „Erinnerst du dich an die beiden Toten, von denen Nicole letzte Woche erzählte? Den Männern wurde ebenfalls mitten in die Stirn geschossen. Sie erwähnte auch, dass es sich eventuell um Leute aus Osteuropa handeln könnte, deren Identität noch immer nicht feststünde und der oder die Mörder auch noch nicht gefunden wurden? Dann war da noch die Razzia in einer Offenbacher Wohnung. Hierbei wären sie auch noch nicht weiter und keine Ergebnisse, außer einem Geständigen, dem der Waffenbesitz nachgewiesen werden konnte. Also, wenn du mich fragst, klingt das nach Organisierter Kriminalität und die gestohlenen Waffen und die Morde hängen zusammen.“

„Du meinst, dahinter steckt die Russen-Mafia? Sollte wir dann net besser die Finger davon lassen.“

Helene schüttelte energisch den Kopf. „Unsinn. Wir betreiben doch nur Recherchen und geben die dann an die Kriminalpolizei, genau wie mit Nicole abgesprochen.“ Sie lächelte. „Du willst doch auch, dass unser Deern die Verbrecher endlich dingfest macht?“

Nickend stimmte Herbert zu. Das ungute Gefühl in seinem Hinterkopf blieb.

Montag / 09:50 Uhr

Sobald Joachim Brunner versuchte, seinen Kopf anzuheben, blitzte und donnerte es. Seine Augen waren verbunden, in seinem Mund steckte ein Lappen, der unangenehm nach Öl roch und einen ständigen Würgereiz auslöste. Der Knebel war zusätzlich mit einem Tuch fixiert. Ebenso waren Hände und Füße mit Kabelbinder gefesselt. Bei der geringsten Bewegung schnitt das robuste Kunststoffband in Hand- und Fußgelenke und verursachte quälende Schmerzen.

Er brauchte eine ganze Weile, um sich an das zu erinnern, was geschehen war, und jeder Gedanke glich einem Martyrium. Dennoch versuchte er, sich selbst zu motivieren.

Atme ruhig – komm runter. Es gelang ihm nur bedingt.

Kurz nach dem Telefonat mit Andy hatte er die Beweise, die er noch gebraucht hatte und ihm eine SMS geschickt, dass er einem Treffen mit Kriminalhauptkommissarin Nicole Wegener und ihrem Team zustimmte. Die Verabredung um 13 Uhr im Polizeipräsidium in Offenbach würde er nun nicht einhalten können.

Wie spät kann es jetzt sein?

Er hörte Stimmen – gedämpft. Waren es Halluzinationen verursacht durch den Schlag gegen seine Schläfe? Nein, es waren zwei Männer. Sie unterhielten sich unmittelbar in der Nähe. Er wollte sich bemerkbar machen, doch mehr als ein Wimmern kam nicht aus seinem Mund. Oder bildete er sich das auch nur ein? Als Nächstes vernahm er ein Geräusch wie das Öffnen eines Kofferraumdeckels und ein Luftzug streifte sein Gesicht. Mein Gott ich liege im Kofferraum eines Autos, schoss der Gedanke durch seinen Kopf.

„Warum hast du ihn nicht gleich umgenietet?“, fragte einer der Männer. „Was, wenn der Kerl schon mit jemandem geredet hat?“

„Ich habe sein Tablet und seine Kamera. Außerdem glaubt dem sowieso niemand. Sein Hals steckt bereits in der Schlinge. Dafür hat der Bajorai gesorgt. Und wenn ich ihn jetzt abmurkse, bekäme ich keine Moneten. Im Übrigen habe ich Anweisung den Kerl in den ...“

„Geld, immer geht es bei dir nur ums Geld. Was machst du eigentlich mit der Knete? In Kleidung scheinst du jedenfalls nicht zu investieren – wenn ich dich so ansehe.“ Der Mann lachte spöttisch. „Und ständig dieses: Der Bajorai sagt dies, der Bajorai will das. Du hast offensichtlich eine teuflische Angst vor jemandem, den bis heute niemand gesehen hat und den keiner kennt. Immer nur Anweisungen mit einer verzerrten Stimme.“

„Halt dein Maul. Wir haben uns nun mal auf die Sache eingelassen; du ebenso wie ich. Und du brauchst die Knete noch dringender als ich. Wenn dein Bruder heraus ...“

„Wehe, du sagst ein Wort.“

„Du willst mir drohen? Wer plaudert denn gerne mal, wenn er zu viel getrunken hat? Und, von wem glaubst du, habe ich die Anweisung, die Leiche vor eurer Firma abzulegen? Das war eine letzte unmissverständliche Warnung. Die ersten beiden Toten waren lediglich zarte Mahnungen und verhältnismäßig weit entfernt von hier und deiner feudalen Wohnung. Aber anscheinend hast du noch immer nicht begriffen. Die Organisation lässt sich nicht an der Nase herumführen und mit dem Bajorai ist schon gar nicht zu spaßen. Jeder, der ihm dazwischenfunkt, wird aus dem Weg geräumt – auf die eine oder andere Weise.“

Der Mann schluckte. „Und wo sollst du den Kerl hinbringen? Übrigens fängt er an zu zappeln.“

Bevor Jo die Antwort hören konnte, traf ihn ein Schlag am Kopf.

„Verflucht! Das Handy. Der muss doch ein Handy gehabt haben.“ Der Mann öffnete noch einmal den Kofferraum und durchsuchte Brunners Hosentaschen, ohne dass dieser zuckte oder auch nur einen Mucks von sich gab. Ein Mobiltelefon fand er nicht. „Was solls. Ich hatte nie telefonischen Kontakt mit dem. Also – alles im grünen Bereich.“ Er sah auf seine Uhr. „Jetzt muss ich aber los, bevor man mich vermisst.“

„Ja, hau ab!“, presste sein Gesprächspartner zwischen den Lippen hervor, drehte sich um und lief mit schnellen Schritten über die Straße. Anweisung vom Bajorai wiederholte er gedanklich die Worte. Dass Alexander Vogt in letzter Zeit aufsässig wurde und immer unverschämter, war nicht hinzunehmen; das sah er genauso. Er musste von der Bildfläche verschwinden, ebenso wie die beiden Litauer, die einfach zu viel wussten. Aber weshalb direkt vor unserer Firma? Sollte es wirklich eine Warnung sein?

Er wischte über seine Stirn und damit die Überlegungen aus seinem Kopf.

Montag / 10:20 Uhr

Bei der von Frau Graf genannten Adresse in Seligenstadt suchten Nicole und Harald vergeblich nach einer Viktoria Vogt. Nur eine Magdalena Vogt war auf Klingelschild und Briefkasten angegeben. Also drückte die Kriminalbeamtin ihren Daumen auf die Klingel.

„Wer ist denn da? Hören Sie um Gotteswillen sofort mit dem Läuten auf“, meldete sich eine Frauenstimme über die Gegensprechanlage.

„Frau Vogt?“, fragte Nicole.

„Ja, wer sonst? Sie haben doch bei mir geklingelt.“

„Wir sind von der Polizei und möchten mit Ihnen und Ihrer Tochter reden. Sie wohnt doch hier?“

„Was wollen Sie von Viktoria – und von mir?“

„Könnten wir das bitte in Ihrer Wohnung besprechen?“, erwiderte Harald.

„Eh ... ja, natürlich.“

Es knackste in der Gegensprechanlage. Fast zeitgleich wurde die Haustür geöffnet.

Nicole und Harald sahen sich einer großen etwa 80-jährigen Frau gegenüber, die ihren Kopf herausstreckte und hektisch nach rechts und links blickte.

„Nun kommen Sie schon rein. Müssen die Nachbarn ja nicht mitkriegen, dass Polizei vor der Tür steht; gar nicht irgendwelche Paparazzi. Die sind wie die Geier hinter meiner Tochter her.“

Nicole und Harald sahen ebenfalls die Straße entlang, konnten aber nur eine junge Frau mit einem Kinderwagen sehen und in einiger Entfernung einen Mann, der mit einer Tüte in der Hand vermutlich aus der nahen Bäckerei kam. Von lauernden Journalisten oder Fotografen, keine Spur.

„Warten Sie bitte hier. Ich muss erst einmal schauen, ob Viktoria schon wach ist. Normalerweise schläft sie um diese Zeit noch.“

Derweil Frau Vogt die linksseitige Treppe in den ersten Stock hinauflief, standen die Beamten in einem engen dunklen Flur. Ganz leise wurde oben eine Tür geöffnet und ebenso lautlos geschlossen. Nach endlosen Minuten – so Nicoles Empfinden – kam die Hausherrin endlich bis zur Hälfte die Stufen herab und sagte: „Kommen Sie bitte.“

Sie führte die Kommissare in eine loftartige Wohnung. Nur die freigelegte Balkenkonstruktion erinnerte an ein Fachwerkhaus. Nicole war vor einigen Jahren schon einmal in einem solchen, nur etwa 100 Meter entfernt, welches aber wesentlich beengter und sehr dunkel gewesen war und von einer Vier-Frauen-WG bewohnt wurde.

„Viktoria, hier sind die Leute von der Polizei.“

Eine circa Ende zwanzig Jahre alte, etwa eins achtzig große Frau, drehte sich von der bodentiefen Fensterfront weg, der sich ein Balkon anschloss und sah die Kriminalbeamten mit seitlich gesenktem Kopf skeptisch an. Sie trug einen schwarzen legeren Overall, der ihre schlanke Figur zusätzlich unterstrich.

In Nicole blitzte sofort das Konterfei einer bekannten Sängerin einer ehemaligen englischen Girl-Band auf, die später ihre eigene Modekollektion herausbrachte. Die herablassende, fast ironische Mimik war auf jeden Fall die gleiche. Ebenso registrierte sie, dass die Frau nicht eben erst aufgestanden sein konnte; das bezeugten die kinnlangen dunkelbraunen glatten und frisch geföhnten Haare.

„Hast du dir die Ausweise zeigen lassen?“, fragte sie mit einer dunklen Stimme.

„Ach herrje. Nein, Entschuldigung mein Schatz.“ Sofort stellte sich Frau Vogt schützend vor ihre Tochter und sagte fordernd zu den Kriminalbeamten. „Wenn ich bitten darf?“

Nicole und Harald zückten ihre Dienstausweise. Die alte Dame sah sich diese genau an und entschied: „Ich denke, die sind echt.“

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Viktoria Vogt in herablassendem Ton.

Spätestens jetzt war Nicole klar, dass an der Behauptung, jeder Mensch hätte mindestens einen Doppelgänger auf der Welt, etwas dran ist. Definitiv stand hier der „Zwilling“ dieser britischen Sängerin.

„Wir müssen Ihnen leider eine schlimme Nachricht überbringen. Ihr Sohn Frau Vogt und Ihr Bruder“, wandte Nicole sich von der Mutter zur Tochter, „wurde heute Morgen tot auf dem Grundstück der Firma Petrow hier in Seligenstadt aufgefunden.“

„Oh mein Gott!“ Magdalena Vogt schlug eine Hand vor ihren Mund, während Viktoria lediglich ein Schnauben von sich gab und die Frage: „Was hat das mit uns zu tun? Wir hatten mit Alexander schon lange keine Verbindung mehr.“

„Wie sollen wir das verstehen?“, antwortete Nicole mit einer Gegenfrage.

„Na so, wie ich es gesagt habe“, gab Viktoria Vogt schnippisch zurück. „Mein Bruder kam schon in jungen Jahren immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt und ist mit gerade Mal 17 abgehauen. Das wars. Sie sehen, wir können Ihnen nicht helfen.“

Magdalena Vogt bemerkte den Blick, den sich Nicole und Harald zuwarfen.

„Meine Tochter hatte schon immer eine klare Vorstellung von richtig und falsch“, schaltete sie sich ein. „Das hat sie von ihrem Vater. Auch bei ihm gab es nur schwarz und weiß – keine Grauzone – wie man heute so sagt. Nachdem mein Mann herausgefunden hatte, dass Alexander dort drüben“, sie zeigte in die Richtung des nur wenige Meter entfernten Steinheimer Torturms, „eingebrochen war, hat er ihn sofort bei der Polizei angezeigt. Es meinte es gut und wollte den Jungen dadurch wieder in die richtige Bahn bringen, doch erreichte gerade das Gegenteil. Alexander zog, kurz bevor er 18 wurde aus und hat sich seitdem nicht mehr bei uns gemeldet – nicht mal als mein Mann, sein Vater, gestorben war und jetzt ... ist es zu spät.“

Dass die Frau sich noch immer nicht mit der Situation abgefunden hatte, sahen die Kriminalbeamten ihrem gequälten Gesichtsausdruck an.

„Sie sind doch nicht nur gekommen, um uns über Alexanders Tod zu unterrichten?“

„Nicht nur“, antwortete Nicole ähnlich abweisend auf Viktoria Vogts Frage. Sie fand das Verhalten der jungen Frau befremdlich und ihrer Meinung nach total unangebracht gegenüber ihrer offenkundig trauernden Mutter. Oder wusste sie schon vom Tod ihres Bruders?

„Alexander wurde auf dem Grundstück der Petrows tot aufgefunden. Und so leid es uns tut, müssen wir wissen, wo Sie beide heute Morgen zwischen sechs und acht Uhr waren.“

 

Magdalena Vogt stöhnte auf.

Im Gegenzug kam von ihrer Tochter, einem Fauchen gleich: „Wie bitte? Sie wollen damit doch nicht andeuten, dass wir etwas mit dem Tod von Alexander zu tun haben?“

„Wir deuten gar nichts an – wir ermitteln“, setzte Nicole dagegen.

„Viktoria hat geschlafen. Das kann ich bestätigen“, griff Frau Vogt ein. „Ihre Freundin Christina war seit gestern Nachmittag hier und blieb auch über Nacht. Sie und ich haben heute Morgen um etwa sieben zusammen gefrühstückt. Dann fuhr sie zur Arbeit. Sie können sie gerne befragen.“

„Die Polizei hat Chris garantiert schon danach befragt, sonst wären sie nicht hier“ wandte Viktoria sich, jetzt wieder in einem gemäßigten Ton, ihrer Mutter zu. „Stimmt doch?“

„Das haben wir“, gab Nicole zu.

„Was wollen Sie dann noch von uns?“

„Haben Sie, nachdem Ihre Freundin gegangen ist, nochmals mit ihr gesprochen?“, hakte Harald nach. Ebenso wie Nicole kam er zu dem Schluss, dass die junge Frau über den Tod ihres Bruders Bescheid wusste, bevor sie hier ankamen.

„Ja“, gab Viktoria zu. „Chris rief mich an. Sie war hörbar aufgelöst. Ich konnte sie aber schnell beruhigen. Schließlich hat sie mit Alexanders Ermordung nichts zu tun – ebenso wenig wie wir.“

„Ermordung? Alexander wurde ermordet und du wusstest es? Oh mein Gott.“ Frau Vogt schlug die Hand vor ihren Mund. „Jetzt verstehe ich, warum du früher als gewohnt wach bist.“

„Ich wollte nicht, dass du dich aufregst. Deshalb habe ich dir nichts gesagt.“

„So wie bei allen Angestellten der Firma Petrow, inklusive der beiden Inhaber“, nahm Nicole das Gespräch wieder auf, „müssen wir die Alibis überprüfen. Ich nehme an, Sie kennen die Brüder Petrow?“

„Ja natürlich. Chris stellte mir Darius anlässlich ihrer Verlobung vor zwei Jahren vor, ebenso wie dessen Bruder Janis.“

„Sie haben den Verlobten Ihrer Freundin erst bei der Verlobungsfeier kennengelernt?“

„Ja. Wie Sie sicher schon wissen, bin ich Model und ständig unterwegs. Mir bleibt nicht viel Zeit mich, um Freundschaften zu kümmern. Chris versteht das. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass es in der Branche hart zugeht. Die eigenen Belange müssen hintangestellt werden, sonst ist man schnell weg vom Fenster – salopp gesagt.“

„Ach, Frau Graf ist auch Model?“, fragte Harald.

Viktoria Vogt hob den Kopf und schaute den Kriminalbeamten direkt ins Gesicht. „Sie war es. So haben wir uns kennengelernt. Aber Chris war für diesen harten Job nicht geeignet. Sie konnte dem Druck nicht standhalten. Zum Glück traf sie auf Darius Petrow. Ich meine, es war sogar auf einer Fashion-Week in Litauen. Aber so genau kann ich mich nicht erinnern. Am besten Sie fragen Chris selbst danach. Ich möchte nichts Falsches sagen, sonst verhaften Sie mich am Ende noch wegen Falschaussage.“

Ihre Mundwinkel zuckten, als wollte sie lächeln. Doch es war nur eine Momentaufnahme und ihre Gesichtszüge wirkten wieder maskenhaft frostig. Genau so, wie Models in den letzten Jahren allgemein über den Catwalk stöckelten.

Womöglich brennt sich diese überhebliche Mimik ins Gesicht ein und färbt sogar auf den Charakter ab. Vermutlich können die Damen heute schon gar nicht mehr anderes schauen, ging es Nicole durch den Kopf und sofort hatte sie die Ähnlichkeit mit der Engländerin wieder vor Augen.

„Sie hingegen haben sich anders entschieden und sogar eine eigene Modelagentur gegründet. Warum in Litauen?“, ließ Nicole einen Teil ihres Wissens durchblicken. Dass Viktoria Vogt offenbar mit Litauens oberster Gesellschaftsschicht turtelte und einige davon, so vermutete die Kriminalbeamtin, womöglich auch die Geldgeber waren, behielt sie für sich.

„Die baltischen Länder erobern sich gerade ihren Platz in der Modebranche; zudem haben wir litauische Wurzeln.“

Litauische Wurzeln? Die Formulierung hatte Nicole heute doch schon einmal gehört. Es erklärte den leichten fremdartigen Zungenschlag von Magdalena Vogt, den sie zuvor nicht recht zuordnen konnte.

Offenbar erinnerte sich Harald ebenfalls. „Ach, Sie stammen auch aus Litauen?“

„Ja.“

Ihre Mutter nickte, sagte jedoch nichts weiter.

„Danke, fürs Erste. Und Entschuldigung, dass wir Sie so früh geweckt haben.“ Die kleine Spitze konnte Nicole sich nicht verkneifen. „Wir möchten Sie aber bitten, für die nächsten Tage keine Reisepläne zu machen. Es könnte sein, dass wir noch Fragen haben.“

Jetzt kam zu ersten Mal Leben in die Frau. „Wie bitte? Ich kann Ihnen nicht ganz folgen. In drei Tagen fliege ich mit meinen Models nach Moskau zu einer Fashion-Show, danach gleich weiter nach Estland und Finnland. Die Termine stehen seit über einem Jahr fest und meine Anwesenheit ist unbedingt erforderlich.“

„Meine Viktoria arbeitet sehr hart und genießt die wenigen Tage Ruhe hier bei mir.“ Fürsorglich legte Magdalena Vogt ihrer Tochter den Arm um die Schultern. Die ließ es geschehen und ihr Gesicht nahm einen sanfteren Ausdruck an.

„Lass gut sein, Mamutschka. Die Beamten können nicht einschätzen, wie viel Arbeit in eine Modelagentur investiert werden muss“, setzte sie zynisch hinzu. „Jetzt habe ich Hunger auf Frühstück. Was hast du Gutes für mich vorbereitet?“ Viktoria drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und drehte den Kriminalbeamten den Rücken zu. Für das Topmodel war das Gespräch beendet.

„Augenscheinlich sind die Models im wahren Leben ebenso arrogant wie auf dem Laufsteg“, stellte Harald fest, sobald er und Nicole zu ihrem Wagen gingen.

„Nicht alle“, widersprach sie. „Jedenfalls früher nicht. Ich habe selbst mal gemodelt – während meines Studiums. Bin ich etwa arrogant?“

„Du hast gemodelt? Jetzt nimmst du mich aber auf den Arm.“ Harald lachte.

„Nein, tue ich nicht“, entgegnete Nicole, schon beinahe gekränkt. „Damals in München haben das viele Studenten und Studentinnen gemacht, um sich ein wenig Geld hinzuzuverdienen. Wir hatten alle gut zu tun. Die Modebranche boomte und die bayerische Landeshauptstadt war ein angesagtes Pflaster. Manche sind sogar dabei geblieben und haben ihr Studium an den Nagel gehängt.“

Dass sie ebenso häufig in den bekannten Nachtklubs verkehrte, behielt sie für sich. Nicht einmal Andy hatte sie von ihrer wilden Zeit in München alles erzählt.

„Zudem hatte ich damals noch eine super Figur“, setzte sie, ein wenig kleinlaut, hinzu.

Harald sah sie von der Seite und in einigem Abstand an und schmunzelte. „Die hast du auch noch heute – wenn ich das sagen darf – ohne, dass du mir gleich sexuelle Annäherung unterstellst.“

Jetzt lächelte Nicole und hauchte ein: „Danke“ in Richtung ihres Kollegen.

„Sagt Andy dir doch bestimmt auch immer wieder … oder?“

„Schon. Aber, du weißt ja, dem Propheten im eigenen Land … und so weiter. Aber im Ernst; ich müsste wirklich regelmäßiger Sport treiben.“

„Dann kommt doch beide mit uns. Marion und ich gehen einmal in der Woche in die Muckibude von Lars. Anschließend nehmen wir einen schicken Drink an der Bar und hauen uns alles wieder drauf, was wir abtrainiert haben.“ Harald lachte. „Es tut wirklich gut.“

Nicole nickte sinnierend. Hatte Andy vor nicht einmal zwei Stunden ebenfalls davon gesprochen? „Du hast recht. Jetzt lass uns ins Büro fahren. Mal hören, was Dietmar und Lars herausgefunden haben. Außerdem schwirrt mir ständig im Kopf herum, dass der Doc gesagt hat, bei unseren beiden ersten Leichen könnte es sich um osteuropäische Männer handeln. Der Sache müssen wir auf den Grund gehen. Womöglich können wir die Kollegen in Litauen oder auch Estland um Hilfe bitten – so auf dem kleinen Dienstweg – und kommen endlich voran.“

„Meinst du, die arbeiten mit uns zusammen?“ Harald zog zweifelnd die Stirn in Falten.

„Warum denn nicht? Die Beziehungen zwischen unseren Ländern sind gut. Und, wie heißt es: Schau’n wir mal – dann seh’n wir schon.“

Der Ausspruch war das einzige, was an Nicoles Münchner Herkunft erinnerte und sie hatte ihn immer dann auf den Lippen, wenn sie sich selbst motivieren wollte.

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