Der Steinheimer Torturm

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

„Ist schon Ok“, sagte Harald an die Kollegen der Spurensicherung gewandt und auch Lars auf sie zuging.

„Ja, das ist Alexander Vogt“, bestätigte Janis Petrow, nachdem er einen kurzen Blick auf den Toten geworfen hatte.

Oberkommissar Kai Schmidt von der Kriminaltechnik nickte. „Alexander Vogt, 34 Jahre alt, Wohnadresse Offenbach, Große Marktstraße. Hier sind die Papiere. Ausweis, Bankkarte, Führerschein und so weiter, circa hundert Euro in Scheinen und etwas Münzgeld. Alles noch vorhanden – nur kein Handy und auch keine Hausschlüssel.“

Er hielt einen Kunststoffbeutel in die Höhe. „Nehmen wir mit in die KTU und werden anschließend die Wohnung von Herrn Vogt durchsuchen – auch ohne Schlüssel“, fügte er schmunzelnd hinzu.

Harald nickte.

„Ein gezielter Kopfschuss“, fuhr Kai Schmidt fort. „Noch keine zwei Stunden her – nach den ersten Erkenntnissen. Aber man weiß ja nie, was unsere Leichenfledderer von der Rechtsmedizin noch so alles zum Vorschein bringen.“

„Kai, bitte!“ Harald schüttelte den Kopf.

„Oh sorry. Ging mal wieder mit mir durch“, entschuldigte der sich.

„Ihr Bruder sagte, dass heute kein Warentransport stattfände und der Mann eigentlich gar nicht hier sein sollte. Können Sie sich vorstellen, weshalb Herr Vogt trotzdem hier war?“, stellte Harald Weinert dem jüngeren Petrow die Frage, wohl wissend, dass der Ermordete nicht auf dem Grundstück zu Tode gekommen war.

„Keine Ahnung. Alexander kam immer mit dem Lkw, in den die Waren verladen und abtransportiert wurden.“ Janis zündete sich eine weitere Zigarette an, nahm ein paar Züge und drückte sie diesmal in einem links um die Ecke stehenden mit Sand gefüllten Behälter aus.

„Macht sich nicht gut – Kippen vor dem Eingang – wenn Besuch kommt.“ Er lächelte schief. „Wir erwarten heute Morgen einen Geschäftspartner aus Litauen. Ein Start-up-Unternehmen, das sich auf elektronische Produkte spezialisierte und diese durch uns importiert. Bis um 11 Uhr werden Ihre Leute doch längst weg sein ... und auch die Leiche, oder?“

Mit der Frage bestätigte er die Aussage seines Bruders. Harald Weinert meinte aber zu spüren, dass es Janis Petrow nicht in erster Linie um das Ansehen der Firma ging, sondern um die Situation allgemein.

„Ich denke schon“, antwortete er und folgte ihm, zusammen mit Lars zurück in die Büroräume.

Darius Petrow hatte soeben telefoniert und legte jetzt auf. „Das war Anas Vanagas“, wandte er sich an seinen Bruder. „Er fragte nach Herrn Kudirka. Er könne ihn auf seinem Handy nicht erreichen und wollte wissen, ob er schon bei uns eingetroffen ist.“

„Ich kümmere mich darum “, antwortete Janis und eilte erneut nach draußen, diesmal mit dem Handy am Ohr.

„Sie entschuldigen uns?“ Nicole zog sich mit ihren Kollegen auf den Flur zurück und Lars wiederholte mit leiser Stimme, was er von der Spurensicherung erfahren hatte.

„Dem Einschussloch nach handelt es sich um das gleiche Kaliber wie zuvor bei unseren beiden unbekannten Mordopfern.“

„Demnach könnten die Morde tatsächlich zusammenhängen, genau wie Andy sagte. Nur wurden bei den anderen Toten weder Papiere noch sonstige Hinweise auf deren Identität gefunden. Vielleicht wurde der Täter heute gestört“, fasste Harald zusammen. „Was meint ihr, sollen wir die Fotos der beiden nicht identifizierten Opfer den Brüdern Petrow zeigen? Womöglich sind sie ihnen bekannt.“

„Warum nicht“, antwortete Nicole. „Einen Versuch ist es allemal wert.“

Die drei betraten wieder Petrows Büro und wiederholt blieb Lars‘ Blick auf Christina Graf haften. Aber nicht, weil er von ihrem Äußeren fasziniert war, wie seine Kollegen vermuteten. Er meinte die Frau schon einmal gesehen zu haben, konnte es momentan nur nicht zuordnen.

„Sie werden verstehen, dass wir nach Ihren Alibis fragen müssen. Es geht um die Zeit zwischen sechs und acht Uhr heute Morgen.“

„Sie glauben doch nicht ...?“ Darius Petrow schaute betroffen.

„Dass Sie alle erst nach uns angefahren kamen, haben wir gesehen“, entgegnete Harald kommentarlos. „Aber wo waren Sie in den zwei Stunden zuvor?“

„Bedauerlicherweise war ich heute Nacht alleine. Chris war gestern Abend bei einer Freundin und hat bei ihr auch übernachtet. Entsprechend habe ich für die fragliche Zeit kein Alibi.“

„Geben Sie uns bitte Namen und Adresse Ihrer Freundin“, wandte Nicole sich an Christina Graf. „Und die Telefon-nummer.“

„Ja natürlich.“ Ohne zu zögern, schrieb sie die Daten auf einen Zettel und reichte den der Kriminalbeamtin.

Nicole stutzte, kaum, dass sie die Anschrift las. „Ihre Freundin heißt Viktoria Vogt und wohnt in Seligenstadt? Der gleiche Nachname wie das Opfer?“

„Alexander war Viktorias Bruder.“

„Wie bitte? Wieso sagen Sie das erst jetzt?“, entgegnete Nicole etwas zu laut. „Wir bemühen uns die Identität des Mannes da draußen“, sie fuchtelte mit ihrer rechten Hand und ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung des Fensters, „herauszufinden, und sie halten es nicht für nötig, uns zu sagen, dass Sie den Toten kennen?“

„Entschuldigung, aber ich ... Als ich ... als ich ihn da liegen sah ...“ Christina Graf war kaum zu verstehen und ihre Stimme zitterte. Darius nahm sie sofort wieder in den Arm.

„Viktoria wohnt im Haus ihrer Mutter – Magdalena Vogt“, fuhr sie kurz darauf fort. „Sie ist Model und hat seit einigen Jahren auch eine eigene Modelagentur, weshalb sie oft unterwegs ist. In der wenigen freien Zeit, die ihr bleibt liebt sie es unbeobachtet ausspannen zu können. Und wo kann man das besser, als zuhause bei seiner Mutter. Wann immer Vicky hier ist, treffen wir uns – so wie gestern. Gehen Sie bitte sorgsam mit Viktoria um.“

„Das versteht sich von selbst“, erwiderte Harald.

„Nicht wegen ihres Bruders“, kam es hart von Christina Graf zurück. „Die beiden haben sich seit Jahren nicht gesehen. Vicky wollte keinen Kontakt zu ihm. Alexander kam immer wieder mit dem Gesetz in Schwierigkeiten. Zuletzt saß er in Preungesheim, aufgrund schwerer Körperverletzung, hatte sie mir irgendwann erzählt. Sie können sich vorstellen wie erstaunt ich war, als er hier bei uns auftauchte. Er hatte ausgerechnet einen Job bei der Spedition gefunden, mit der wir zusammenarbeiten.“

„Haben Sie ab und zu mit ihm gesprochen?“, fragte Nicole.

„Nein. Ich bin ihm aus dem Weg gegangen. Ich wollte nichts mit ihm zu tun haben.“

„Der Mann machte einen brutalen Eindruck“, mischte sich Darius Petrow ein, um sogleich hinzuzufügen: „Aber an seiner Arbeit hatten wir nichts auszusetzen.“

Harald zeigte auf seinem Handy die Fotos der zwei, bis dato, unbekannten Leichen.

„Kennen Sie diese Männer?“

Nach einem kurzen Blick verneinten Darius Petrow und seine Verlobte.

„Um was ich Sie bitten wollte“, wandte sie sich erneut den Kriminalbeamten zu. „Also, die Nachbarn ... Ich meine, es wäre Viktoria peinlich und im Übrigen nicht gut für ihr Image und ihre Karriere, wenn die Anwohner mitbekämen, dass Polizei vor der Tür steht. Irgendwo lauert doch stets ein Reporter oder ein Fan. Und sie schläft gerne lange. Wenn Sie also bitte nicht vor 11 Uhr ...?“

„Sollen wir sonst noch etwas beachten?“, unterbrach Nicole leicht säuerlich. Mental setzte sie hinzu: Vielleicht frische Brötchen mitbringen?

„Ihr Bruder und Sie stammen beide auch aus Litauen?“, lenkte Harald das Gespräch sowie die Gedanken seiner Kollegin, die er ihrem Gesicht ablesen konnte, in eine andere Richtung.

„Ich drücke es mal so aus – unsere Wurzeln sind dort“, antwortete Darius Petrow. „Wir wurden hier in Deutschland geboren. Aber durch unsere Eltern und einer Großzahl dortzulande lebenden Verwandten sind wir mit unserem Herkunftsland glücklicherweise noch immer verbunden. Das ist auch der Grund, weshalb wir einheimische Produkte importieren wie Bernstein, Leinen, Wolle und Schwarzkeramik sowie Honig, Apfelkäse und Baumkuchen. Damit wollen wir unserem Heimatland wirtschaftlich unter die Arme greifen – sozusagen.“

„Handeln Sie auch mit Waffen?“

„Was? Nein, natürlich nicht. Ich bin Pazifist. Wie kommen Sie darauf?“ Darius Petrow sah die Kriminalbeamtin entsetzt an und schüttelte beinahe angewidert seinen Kopf.

Ist er tatsächlich beleidigt, fragte sich Nicole oder tut er nur so. „Bis unsere Leute dort draußen fertig sind, nehmen wir Ihr Angebot an, uns durch Ihre Lagerhalle zu führen.“

„Aber gerne.“ Der Firmenchef schien sofort wieder besänftigt. „Bitte, folgen Sie mir. Sie werden erstaunt sein.“

Lars rollte mit den Augen, weswegen Nicole ihm zuflüsterte: „Geh schon mal raus und befrage Janis Petrow nach seinem Alibi für heute Morgen.“

Erleichtert entfernte er sich. Den Jüngeren der Brüder fand er am Ende des Grundstücks, an einer Mauer gelehnt beim Telefonieren. Sobald er den Beamten auf sich zukommen sah, beendete er das Gespräch.

„Und, alles klar?“, erkundigte sich Lars.

Janis Petrow nickte.

„Ich müsste noch wissen, wo Sie in den Morgenstunden gewesen sind, zwischen sechs und acht Uhr.“

„Um halbsieben bin ich aufgestanden und gegen acht Uhr habe ich meine Wohnung verlassen. Oh je, da habe ich wohl schlechte Karten. Ich bin zurzeit solo und habe deshalb auch keine Zeugin.“ Sein Lächeln missglückte. „Ach vielleicht doch. Auf dem Weg hierher habe ich in einem Bäckerladen einen Kaffee getrunken und ein belegtes Brötchen gegessen.“

„Welche Bäckerei“, fragte Lars nach.

„Hier.“ Janis Petrow holte aus seiner Geldbörse eine Quittung. „Dürfen Sie gerne behalten. Kann ich eh nicht als Spesen geltend machen.“

Um kurz vor zehn verließen die Beamten das Gebäude und Josef Maier winkte sie zu sich. „Die Bestatter müssten gleich eintreffen und den Toten in die Rechtsmedizin verbringen. Den Finder der Leiche habe ich gehen lassen. Er sagte, er hätte einen Arzttermin, den er ungern verschieben wolle. Die Personalien haben wir. Es handelt sich um Franz Klein, wohnhaft in der Stettiner-Straße; ist hier um die Ecke, falls ihr noch Fragen habt.“

 

Montag / 07:50 Uhr

Heinz Klein hatte es eilig nach Hause zu kommen. Nicht wegen eines Arzttermins, wie er dem Polizeihauptkommissar vorgeflunkert hatte. Er zitterte so sehr, dass er kaum den Schlüssel ins Schloss der Haustür bekam.

„Herta! Stell dir vor, wir haben einen Toten gefunden.“

„Ach, Franz, bist du mal wieder unbeholfen.“ Herta Klein schüttelte den Kopf, als sie sah, wie ihr Mann versuchte, sich umständlich seiner Jacke zu entledigen.

„Ja, hast du nicht gehört? Rocky und ich haben eine Leiche entdeckt. Mein Gott, war das grauslich.“

Erschöpft und außer Atem stürzte der 77-Jährige in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ein Arm steckte noch immer in der Jacke, sodass seine Frau, die ihm helfen wollte, hinterher torkelte.

„Jetzt halt doch mal still“, moserte sie und befreite ihn aus dem zweiten Ärmel. Nachdem sie mit einem tiefen Seufzer und einem weiteren Kopfschütteln das Kleidungsstück ordentlich in der Garderobe aufgehängt hatte, schenkte sie Kaffee in die bereitstehenden Tassen und schob eine davon ihrem Heinz zu. „Hast du gerade etwas von einer Leiche gesagt, oder habe ich mich verhört?“

„Nein, du hast dich nicht verhört“, antwortete Franz, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. „Wir waren schon auf dem Rückweg, als Rocky plötzlich ganz unruhig wurde und auf das Gelände der Firma Petrow zog. Zuerst dachte ich, er hätte eine Katze aufgespürt. Aber dann sah ich, dass dort jemand liegt, und bin ein bisschen näher ran und ...“

„Du hast den hoffentlich nicht angefasst?“, fiel Herta ihrem Mann ins Wort.

„Natürlich nicht, was denkst du denn? Aber es hätte sich ja auch um einen Obdachlosen handeln können, der da rumliegt und eventuell Hilfe braucht.“

Herta nickte. „Ja, oder um einen, der nur so getan hätte, als ob er Hilfe bräuchte und dir eins über den Schädel gegeben hätte. Davon hört man ja öfters.“ Einen Augenblick sah sie sinnierend aus dem Fenster und dann sorgenvoll zu ihrem Mann. „Ich will mir gar nicht vorstellen, was dir hätte passieren können.“

„Ach na ja. Ich hatte doch Rocky dabei. Der hätte mich schon verteidigt. Stimmt’s Rocky?“ Heinz Klein kraulte seinem Hund – einem sogenannten Maltipoo – einer Kreuzung zwischen Malteser und Pudel, den Kopf.

Herta bezweifelte, dass Rocky, der in jedem Fremden einen potenziellen Kandidaten für Streicheleinheiten sah, aggressiv und bissfest aufgetreten wäre, kommentierte dies aber nicht.

„Ich habe auch gleich bemerkt, dass der tot ist. Mittig auf seiner Stirn war ein Loch. Der ist eindeutig erschossen worden.“

„Was?“ Herta Klein sprang auf. „Das sagst du erst jetzt? Der Mörder könnte noch in der Gegend sein. Vielleicht meint er, dass du ihn gesehen hast und bist in Gefahr.“ Hektisch schaute sie aus dem Küchenfenster, rannte dann, trotz ihrer Körperfülle wieselflink zur Haustür und verriegelte sie. „Das müssen wir der Polizei sagen. Wir brauchen unbedingt Polizeischutz. Bis die da sind, lassen wir alle Rollos runter und verhalten uns ganz still.“

Total fahrig griff sie zum Handy auf dem Tisch und tippte die 112 ein.

„Herta. Jetzt mach mal halblang. Du guckst eindeutig zu viele Krimis. Außerdem hast du den Notruf der Feuerwehr gewählt.“ Heinz riss seiner Frau das Telefon aus der Hand.

Aber schon meldete sich eine tiefe Männerstimme. „Freiwillige Feuerwehr Seligenstadt.“

„Entschuldigung. Falsch verbunden. Meine Frau wollte eigentlich die Polizei anrufen.“

„Beruhigen Sie sich. Ich kann Sie weiterleiten. Um was geht es?“

„Ach nichts. Das ist ... eh war ... nur ein Missverständnis. Nichts für ungut.“ Heinz drückte wie wild auf dem roten Punkt herum. Dennoch gelang es ihm nicht, das Gespräch zu beenden. Der Mann von der Feuerwache war noch immer in der Leitung und rief jetzt so laut, dass Herta mithören konnte.

„Hallo? Sind Sie noch dran? Brauchen Sie Hilfe?“

„Entschuldigen Sie bitte.“ Sie hatte das Handy wieder an sich genommen. „Es war meine Schuld. Bei uns ist alles in bester Ordnung.“

„Sagen Sie das jetzt nur, weil Ihr Mann neben Ihnen steht und Sie Angst haben? Sie müssen sich nicht ängstigen. Ich schicke eine Streife vorbei. Wie ist Ihre Adresse?“

Nun lachte Herta Klein aus vollem Hals, wobei ihr fülliger Körper bebte. „Wenn Sie mich sehen könnten, würden Sie das nicht annehmen. Eher müsste mein Mann Angst vor mir haben. Aber keine Bange, bei uns ist alles in Ordnung. Entschuldigen Sie nochmals die Störung. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“

Noch immer herzhaft lachend umarmte sie ihren Heinz und hauchte einen Kuss auf seine Stirn. Auch er schmunzelte. Dass sie rein von ihrem körperlichen Äußeren so unterschiedlich waren und manche Leute hinter ihrem Rücken über sie tuschelten, war ihnen vom ersten Augenblick an egal und das schon seit mehr als 50 Jahren. Definitiv hatte sie im Laufe der Zeit – und vor allem nach der Geburt ihrer beiden Söhne – einige Kilos zugelegt, während ihr Heinz noch immer seine vergleichsweise schlanke Figur besaß.

Als Herta sich wieder beruhigt hatte, sagte sie: „Hoffentlich bekommen wir jetzt keinen Ärger wegen meinem hysterischen Anruf. Der Mann von der Feuerwehr kann bestimmt, anhand der Telefonnummer unsere Adresse ermitteln. Das ist heutzutage doch alles möglich.“

„Und wenn schon. Was soll passieren? Wir haben nichts verbrochen“, erwiderte Heinz Klein.

In diesem Augenblick schellte es. Erschrocken zuckte das Paar zusammen und schlich, Hand in Hand, in den Flur. Durch den Spion konnten sie niemand vor der Tür sehen. Dennoch wurde die Klingel erneut heftig malträtiert.

„Herta, Heinz! Seid ihr zu Hause?“

„Gundel?“, flüsterten beide in einem Atemzug. „Was will die denn hier?“

Verwundert drehte Herta den Schlüssel um und öffnete.

„Gott sei Dank, ihr seid wohlauf. Wo ist dein Heinz?“

Die 1,45 Meter kleine pummelige Gundula Krämer schaute mit, in den Nacken gelegten Kopf und runden Augen zu der 1,70 großen und kräftigen Herta auf.

„Na hier“, antwortete der Hausherr und streckte sich hinter dem Rücken seiner Frau. „Was ist denn los? Haben wir einen Termin verpasst?“

„Termin? Ach so, unsere Zeichenstunde. Nein, die ist nach wie vor am Mittwochnachmittag. Ich habe gehört, du hast eine Leiche gefunden, ist das wahr?“

„Geht das auch etwas leiser“, zischte Heinz Klein, drängte sich an seiner Frau vorbei und schaute rechts und links die Straße ab. „Woher weißt du davon? Und wieso so schnell?“ Hastig zog er Gundel in den Flur und schob sie in die Küche.

„Ja glaubst du, so ein Polizeiaufgebot bleibt unentdeckt? Außerdem wurdest du beobachtet, wie dich die Polizei vernommen hat. Ach Gottchen, schon wieder eine Leiche hier in unserer Stadt. Hört das denn gar nicht mehr auf. Der letzte Mord ist doch erst gerade mal eine Woche her. Die Einschläge kommen in immer kürzeren Abständen.“ Gundel setzte sich unaufgefordert auf den nächsten Stuhl. „Hast du noch eine Tasse Kaffee für mich?“

„Nein, Kaffee ist alle. Wir haben aber auch keine Zeit.“ Herta Klein rollte mit den Augen und nahm die Warmhaltekanne vom Tisch.

„Wir müssen noch zum Arzt“, kam Heinz seiner Frau zu Hilfe.

„Ach gell, das hat dich doch sehr mitgenommen. Wen wundert‘s, einen Toten findet man ja nicht täglich. Beim ersten Mal ist es gewiss besonders schlimm. Ich möchte mir das überhaupt nicht vorstellen. Du solltest mit Helene und Herbert reden, oder mit Bettina und Ferdinand Roth. Ihr wisst – unsere Senioren-SoKo. Die können euch Tipps geben, wie man das mit den Leichen verkraftet. Aber die melden sich ganz bestimmt sowieso bei euch. Wir müssen doch genau wissen, wie und wann du den Toten gefunden hast.“ Gundel sah Heinz Klein jetzt direkt an. „Das ist wichtig für die Ermittlungen. Ich bin ja auch dabei – also bei den Ermittlern. Kannst du mir schon etwas dazu sagen? Oder stehst du noch zu sehr unter Schock?“

„Genau so ist es. Der Heinz braucht jetzt seine Ruhe“, nahm Herta Gundels Äußerung zum Anlass, packte die kleine Person am Arm und brachte sie zur Tür.

„Dann sehen wir uns am Mittwoch im Zeichenkurs. Also ich tu mich mit der naiven Malerei etwas schwer. Geht euch das auch so?“

Die Mundwinkel von Herta und Heinz zuckten. Was sie bisher von Gundels Malkünsten gesehen hatten, unterschied sich in keiner Weise, ob es sich um Stillleben handelte um ein Blumenarrangement oder eine Landschaft in naiver Kunstrichtung. Ihre Pinselführung hatte einen eigen-willigen Charakter und der Betrachter brauchte eine Menge Fantasie.

„Obwohl es noch so früh ist, brauche ich jetzt einen Schnaps.“

„Ich auch“, stimmte Heinz seiner Frau zu. „Die wird von Tag zu Tag anstrengender.“

Herta kam mit einer Flasche und zwei Schnapsgläschen zurück, die sie randvoll füllte. „Und anscheinend ist ihr kein Weg zu weit, um an Neuigkeiten zu kommen, die sie – heiß wie aus dem Backofen – unter die Leute bringen kann. Prost!“

„Weißt du was? Der machen wir einen Strich durch die Rechnung. Wir rufen jetzt sofort Herbert und Helene an und informieren sie von dem Toten. Die Fotos schicke ich auch gleich.“

„Du hast ein Foto vom Tatort gemacht?“

Heinz Klein grinste über beide Backen. „Na klar. Wo bekommt man schon nochmal so eine Gelegenheit – eine echte Leiche? Und da ich jetzt weiß, wie das mit dem Handy funktioniert ...“

„Du überrascht mich immer wieder, du ausgefuchster Fuchs, du ausgefuchster.“ Herta schlug ihrem Mann sanft mit der Hand auf den Arm. „Und ich dachte, du schläfst vor dem Fernseher.“

Montag / 08:05 Uhr

Andy hielt auf dem Pendlerparkplatz kurz vor der Autobahnauffahrt und tippte die Nummer seines Bekannten ins Handy. „Es wurde schon wieder ein Toter aufgefunden. Exakt die gleiche Vorgehensweise, wie bei den anderen beiden. Heute Morgen auf einem Grundstück im Gewerbegebiet in Seligenstadt – einem Import/Export-Unternehmen. Eigentümer sind die Brüder Petrow. Sagt dir der Name was?“

„Kenne ich nicht. Noch nie gehört“, kam die für Andy zu schnelle Antwort.

„Ich habe mit Nicole und ihren Kollegen geredet.“

„Du hast doch aber nicht meinen Namen genannt?“

Andy hörte die Panik in der Stimme. „Natürlich nicht. Es wäre aber nun wirklich an der Zeit, dass du persönlich mit Nicole sprichst – je früher, desto besser. Du kannst ihr und ihrem Team vertrauen, glaub mir. Und ohne ihre Hilfe bist du sowieso aufgeschmissen und kommst nicht unbeschadet aus der Sache heraus. Mann! Du siehst doch, den Typen macht es nichts aus, Menschen abzuknallen. Soll ich in den nächsten Tagen deine Leiche identifizieren?“

„Kann nicht – jetzt noch nicht. Ich habe eine weitere Spur. Ich brauche erst mehr Beweise.“

„Die kannst du doch zusammen mit ...“

Sein Kontakt hatte aufgelegt. Sollte er ihm trotzdem das Foto des Toten zuschicken? Er entschied sich dagegen – zu riskant.

„Verdammt!“ Andy hieb auf das Lenkrad, startete den Wagen und fuhr auf die A3. Der Garten musste erst einmal warten.

Im Büro angekommen stürmte er an seinen Rechner und konnte es kaum erwarten, bis der sich endlich betriebsbereit erklärte. Er brauchte unbedingt mehr Informationen zu den Petrows und deren Firma, ebenso zum Waffenraub beim MEK. Seine Nachforschungen in der polizeilichen Datenbank waren erfolglos geblieben. Aber das war nichts Neues. Er erinnerte sich an einen ähnlichen Fall im Jahr 2010. Auch damals fand er zu dem Vorkommnis nur eine verstaubte handschriftliche Mitschrift in der hintersten Ecke des Archivs; ein rechtsgültiges Protokoll gab es nicht. Die unschöne Sache sollte – im wahrsten Sinne des Wortes – unter den Teppich gekehrt werden. Doch der Plan ging nicht auf.

Ein bekanntes Enthüllungsmagazin berichtete, dass insgesamt 75 Pistolen und Gewehre aus einem Waffenlager der Bundeswehr gestohlen worden wären, außerdem 57.000 Schuss Munition und berief sich dabei auf eine vertrauliche Quelle sowie ein Geheimdokument des Verteidigungs-ministeriums. Doch damit nicht genug, gelangte eine Liste als Verschlusssache eingestuft, ans Tageslicht.

Demnach wurden intern vier Soldaten als Anhänger einer identitären Bewegung – einer neugerechten Vereinigung, bereits vom Verfassungsschutz überwacht – entlarvt und aus der Truppe entfernt. In drei weiteren Fällen konnte der Verdacht, sich aktionistischen völkisch orientierten Gruppierungen, die ihrem Selbstverständnis nach einen sogenannten Ethnopluralismus vertreten, nicht zweifelsfrei bis zu deren Ausscheiden aus der Truppe ausgeräumt werden. Einer der Entlassenen beging kurze Zeit später Suizid durch Erhängen.

 

Wer war das doch gleich mal? Andy versuchte, sich zu erinnern. Gerade jetzt vermisste er sein Archiv. Stundenlang hatte er sich in verstaubten Akten verloren. Manchmal konnte er einen Cold Case zum Leben erwecken und zur Aufklärung beitragen, indem er den Kollegen in den oberen Etagen den entscheidenden Hinweis gab. Nicht immer erntete er dafür Applaus. Die Einsichtnahme alter ungeklärter Fälle kam bei den Kriminalbeamten nicht besonders gut an. Doch in einer Arbeitsflaute konnten sie die Anordnung Dr. Lechners – damals noch Leiter des K11 – nicht ignorieren. Und letztlich waren sie für Andys phänomenales Gedächtnis dankbar.

Weshalb konnte er selbst jetzt nicht darauf zurückgreifen? Frustriert tippte er wahllos die Stichworte: Bundeswehr – Waffenschmuggel und MEK in die Tastatur.

Er fand einen Artikel über einen MEK-Einsatz in der Hamburger JVA Fuhlsbüttel, der sogenannten „Santa Fu“ von 2016, dieser war aber nicht relevant. Genauso wenig wie die Pressemitteilung in der von vor fünf Jahren in Geschenkpapier verpackten Mini-Maschinenpistolen mit Magazinen und Schalldämpfern berichtet wurde, die ein 25-Jähriger verkaufen wollte.

Dann stieß er auf eine Meldung, die ihn stutzig werden ließ. Es war von einem litauischen Freiwilligenbataillon die Rede und großkalibrigen Gewehren aus deutscher Produktion. Seine weitere Recherche ergab, dass der Verein seit 1989 wieder aktiv ist und nicht nur Soldaten, sondern ebenso Zivilisten aus verschiedenen Berufsgruppen zu deren Mitgliedern gehörten, als auch Geschäftsleute.

Sein nächster Gedanke war zugegebenermaßen weit hergeholt. Dennoch versuchte er sein Glück. Aber Petrow war ein häufiger Nachname in Litauen. Er griff zum Telefon.

„Hi, Dietmar. Schon was Neues zu dem Toten von heute Morgen in Seligenstadt? Ich habe Nicole am Fundort abgesetzt, deshalb weiß ich davon“, kam er schnell dessen Frage zuvor.

„Zumindest wissen wir bei dieser Leiche, um wen es sich handelt.“

„Ach schon? Und wer ist es?“, warf Andy hinterher, in der Hoffnung, nicht allzu wissbegierig zu klingen und dennoch einen relevanten Hinweis zu erhalten.

„Laut den Ausweispapieren haben wir es mit einem Alexander Vogt zu tun, Wohnanschrift Nordend Offenbach und laut POLAS kein unbeschriebenes Blatt. Einbruch, Diebstahl und schwere Körperverletzung. Für Letzteres saß er bis vor einem halben Jahr in Preungesheim. Wieso interessierst du dich dafür?“

„Ach nur so. Wie gesagt, ich habe Nicole dort abgesetzt. Jetzt muss ich mich um den Garten kümmern. Bis dann mal.“ Andy legte auf, bevor Kriminaloberkommissar Dietmar Schönherr weitere Fragen stellen konnte.

Der starrte einen Moment kopfschüttelnd auf den Hörer in seiner Hand, bis sein Handy läutete.

„Hallo Nicole. Die Petrows habe ich schon überprüft. So wie es aussieht, liegt nichts gegen sie und ihre Firma vor. Alles scheint im grünen Bereich. Aber unser Opfer Alexander Vogt hat einiges auf dem Kerbholz.“ Er wiederholte, was er soeben Andy gesagt hatte.

„Was ist mit der Angestellten Christina Graf?“

„Die Dame, die so fantastisch gut aussieht? Lars‘ Aussage, nicht meine. Stimmt das?“ Dietmar lachte. „Die nehme ich mir als nächstes vor.“

„Männer!“, stöhnte Nicole. „Ja, zugegeben, sie sieht gut aus.“ Verdammt gut sogar, setzte sie gedanklich hinterher. „Wenn du die Dame schon unter die Lupe nimmst, dann auch gleich ihre Freundin, Viktoria Vogt. Sie ist die Schwester unseres Toten, ein Model und betreibt eine eigene Modelagentur in Litauen. Ihre Wohnanschrift ist aber Seligenstadt, und zwar bei ihrer Mutter.“

„Wow, das nenne ich mal unterschiedliche Karrieren“, unterbrach Dietmar. „Der Bruder kriminell und sie ein Model.“

„Eh ... ja. Die Graf und die Vogt waren, nach Angaben von Frau Graf, gestern Abend zusammen bis heute Morgen. Harald und ich werden das Model gleich mal aus dem Bett klingeln und die Alibis überprüfen. Ach ja, noch was: Christina Graf ist mit Darius Petrow, dem Älteren der Brüder, verlobt und wohnt bei ihm.“ Nicole lachte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Lars da eine Chance hätte; auch nicht mit seinem neuen Elektroauto.“

„Was? Lars fährt ein E-Auto? Das glaube ich jetzt nicht.“

„Eine Neuerwerbung des Fitnessstudios. Wird er dir aber bestimmt selbst gerne erzählen und auch zeigen wollen. Trotzdem wäre es hilfreich, wenn ihr die Speditionen und die Mitarbeiter mit denen die Petrows zusammenarbeiten, überprüfen könntet, bis wir in etwa eineinhalb Stunden zurück sind. Lars bringt die Liste mit.“

„Willst du jetzt zu Frau Vogt?“, fragte Harald, nachdem Nicole aufgelegt hatte, mit einem Blick auf seine Armbanduhr. „Es ist kurz nach 10 Uhr. Die Graf sagte doch, wir sollten vor 11 nicht bei ihrer ...“

„Sag mal, gehts noch? Seit wann lassen wir uns vorschreiben, zu welcher Tageszeit wir Zeugenbefragungen durchführen? Es wird der Dame bestimmt nicht schaden, wenn sie mal eine halbe Stunde früher aus den Federn kommt. Hat diese Christina auch dir das Gehirn vernebelt?“

„Was? Nein, wie kommst du darauf?“

„Na dann, lass uns fahren.“


Vom Parkplatz des Spielcenters wurde das Ankommen der Polizei, sowie das der Firmeninhaber und von Christina Graf beobachtet. Der Mann hatte die Unterarme auf das Lenkrad gelegt und schaute durch ein Fernglas mit 8-facher Vergrößerung. Er mochte es zuzusehen, wie die SpuSi akribisch vorging und dennoch keine verwertbaren Spuren fanden – außer heute, den Ausweispapieren des Toten. Wenn dieser Alte mit seinem Köter nicht aufgetaucht wäre, dann ...

Eigentlich schade um den Vogt. Er war einer, der seine Arbeit verstand. Die Knastschule machte sich halt doch bemerkbar. Wäre er nur nicht so neugierig gewesen und hätte sich in Dinge eingemischt, die ihn nichts angingen, dann könnte er noch immer am Leben sein. Letztlich aber wurde ihm seine Habgier, vor allem seine Dummheit sich mit der Organisation anzulegen, zum Verhängnis. Ein Loch im Kopf war die Strafe, ebenso wie bei den beiden Litauern.

Waffenhandel ist ein gefährliches Geschäft. Es dauerte lange, bis man sich in der Branche gegenseitig vertraut, wenn man es überhaupt so nennen durfte. Um dieses Vertrauen zu festigen und zu zeigen, dass mit der Interessengruppe und in erster Linie mit dem Bajorai nicht zu spaßen ist, wurden hin und wieder seine Dienste in Anspruch genommen. Er hatte damit kein Problem, im Gegenteil. Im Geheimen nannte er sich selbst den Cleaner.

Für einen erholsamen Schlaf sorgten die Drogen, die er zusätzlich zu seiner äußerst großzügigen Bezahlung erhielt und die kleinen Freuden, die er sich ab und zu gönnte. Bald würde er seinen – manche würden es abartige Neigungen nennen – nachgehen können, ohne sich verstecken zu müssen.

Seine Mundwinkel zogen sich nach oben.

Ein Aufblitzen links von ihm beendete abrupt Zukunftsaussichten. Ruckartig drehte er sich in die Richtung und suchte die Gegend ab und schaute direkt in die Augen der Person, die ihn ebenfalls durch ein Fernglas ansah. Der? Was will der hier?

Noch, während die Worte durch seinen Kopf huschten, spurtete er los, indessen der andere Mann voller Panik zu fliehen versuchte, doch der Motor seines Wagens soff ab.

Er riss die Tür auf und zerrte ihn aus dem Fahrzeug.

„Was zum Teufel machst du hier? Hast du mich etwa beschattet? Wie viel hast du gesehen?“

Die Augen des Mannes sagten genug. Er schlug zu. Gleichzeitig war ihm klar, er hatte ein Problem.