Die Chroniken des Südviertels

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Was mich bei meiner Rückkehr am meisten ankotzte: Der Frühling war noch nicht gekommen und ich konnte nicht nur im T-Shirt rumlaufen. Mit den Chicago Bulls auf der Brust und Kapuze wären meine Aktien sofort gestiegen. Ich musste unbedingt dafür sorgen, dass man sie sah. Deshalb war zumindest mir selbst in der Schule furchtbar heiß, und vor nem Match der Junioren zog ich mich ganz lange um, massierte mir die Beine und zog mein Shirt aus Polen erst ganz zuletzt aus.

Wir nahmen an so nem Juniorenturnier in Šiauliai teil. Auch wenn ich in Warschau den Clown gespielt hatte, zeigte das Training mit den Männern seine Wirkung. Ich staunte nicht schlecht, irgendwer schien mich mit der geballten Kraft vom Terminator, mit der Geschmeidigkeit von Bruce Lee und der Schlauheit des Paten vollgepumpt zu haben. Obwohl, Schlauheit brauchte man eigentlich nicht wirklich. Du kriegst den Ball, rennst los und raffst selbst nicht ganz, warum alle nur so auf alle Seiten davonfliegen, wie Holzspäne. Ich fand das sogar n bisschen langweilig. Du hast ne Wahnsinnslust zu spielen, aber da ist kein richtiger Gegner. Du wartest darauf, dass dich endlich jemand zu Fall bringt, aber wenn sie dich anhalten, dann zu dritt oder so wie Hosenscheißer – einer packt n Bein, der Zweite das andere, der Dritte springt dir an den Nacken. Und als man mir den Preis fürn besten Rugbyjunior der Saison in die Hand drückte, da fand ich das irgendwie auch langweilig. War ja so logisch. Und überhaupt – die Matches der Junioren brachten mich zum Gähnen. Es war von vornherein klar, wer den Pokal gewinnt und alle anderen Turniere. Und du rennst übern Rasen und sammelst diese Punkte. Was macht es denn fürn Unterschied, ob es am Ende 50:0 oder 105:10 steht. Dass die Bulls Meister werden, daran haste auch keine Zweifel, aber da wirds wenigstens manchmal spannend. Die kriegen wenigstens manchmal eins aufs Dach. Aber hier …

Vielleicht war das ja der Grund, dass ich mit nem Chicago-Bulls-Shirt rumlaufen wollte. Das trägste und fühlst, dass dus verdient hast, denn du spielst bei den Juniorenmeistern mit, bist n Champ. Du kannst doch nicht die Urkunde fürn ersten Platz mit dir rumtragen, Chicago Bulls sagt alles viel klarer. Natürlich können auch so Lahmärsche mit den Chicago Bulls rumlaufen, aber du hast es dir verdient. Die Chicago Bulls machen allen sofort klar, dass deine Sicht vom Leben die richtige ist. Und noch viel klarer wird alles, wenn die Kapuze des Chicago-Bulls-Trikots aufm Rücken der Lederjacke landet. Die war sozusagen n Geschenk des Himmels. Ne Freundin von Mum nähte die, jemand hatte eine bestellt, war aber wie vom Erdboden verschluckt. Sie selbst verkaufte die eigentlich nicht, sie nähte sie nur, also fragte sie, ob ich sie haben möchte. Fürn halben Preis. Egal, dass sie aus Flicken genäht war – Leder ist Leder. Und ne Lederjacke mit nem Chicago-Bulls-Shirt drunter – das ist nicht zu toppen! Ich sage es doch, die besten Dinge kann man nicht vorausplanen.

Und Basketball – na ja … zumindest für mich, kann das jeder spielen. Deshalb taten das auch Minde und ich. Nachts NBA in der Glotze gucken und am Morgen die Tricks, die du gesehen hast, nachmachen. Aber wenn schon spielen, dann wie sichs gehört. Will heißen, aufm Hof, denn da sind die Regeln n bisschen anders. Wenn du mit mir zusammenstößt, dann ist das dein Problem, aber das mitm Schiri, das will mir nicht ganz in die Birne. Du preschst aufn Platz und spürst gar nicht, dass so n Storchenbein schon der Länge nach am Boden liegt. Und dann stellt sich heraus, dass du ihn umgelegt hast. Aber alle sehen, dass n Windstoß ihn zu Fall gebracht hat. Oder einmal, da mussten wir gegen Artūrs Javtoks spielen. Wen der den Arm ausstreckt, dann kann er den Ball fast von oben in den Korb schmettern. Aber wenn du mit dem zusammenstößt, dann wirst weiß der Henker warum immer du bestraft, nicht er. Vielleicht, weil man ihn den »Terminator« nennt und er spielen darf, wie er will, und dich kennt hier keiner, also biste nur sein Kanonenfutter?

Das kapierte ich einfach nicht, du musst wissen, wie fallen, wie verteidigen, und wenn du die Hand auch nur anrührst, gibts ne Strafe. Ballett ist das. Im Rugby ist alles sonnenklar:Zuschlagen darfste nicht, dich prügeln auch nicht, aber alles andere – du schiebst, rennst, hältst … Wer stärker, schneller und flinker ist, der ist der Bessere – kein Affentheater. Fällt einer hin und schauspielert, dass man ihn verletzt hat, dann schauen ihn nur alle an wie das letzte Weichei. Sogar die von der eigenen Mannschaft. Natürlich gibts mal ne Keilerei, aber der Schiri kommt nicht angelaufen und treibt die Spieler auseinander wie die Hühner. Wenns was auszumachen gibt, dann sollen die das unter sich ausmachen. Wie im richtigen Leben.

Aber Basketballmatches mit Schiri, bei denen sich Schulteams gegenüberstanden, die konnte ich noch weniger ausstehen als das Duschen nachm Training, den Mathelehrer und die Heuernte aufm Dorf zusammengenommen. Die Schulbasketballmatches waren öffentliche Schäm-dich-Trainings. Spannend war einzig und allein, ob wir mit zwei oder fünfzig Punkten Unterschied auf die Fresse kriegen. Da half es nix, dass ich von morgens bis abends NBA glotzte und draußen alles nachzumachen versuchte. Und auch nicht, dass auf meinen Trikot jetzt Charlotte stand. Auf allen anderen stand ja Chicago Bulls und, Gott behüte, vielleicht auch noch Jordan drauf. Die Chicago Bulls waren für in die Stadt, ich sagte doch schon, dieser Schriftzug hatte gar nix mitm Basketball zu tun, dafür hatte ich Charlotte Hornets draufgeschrieben und die Rückennummer zwei. Larry Johnson. Ja, Johnson, aber nicht Magic. Damit es einer wie ich ist, n normaler Spieler, Durchschnitt, der aber manchmal nen Bombenschuss landet. Und von ähnlicher Statur sollte er sein und auf ner ähnlichen Position spielen. Aber das alles ist völlig egal. Barclay, Morning, Ewing … Du stehst vor Javtoks und könntest es vielleicht schaffen, seinen Flattop zu berühren, mehr nicht. Während wir uns aufwärmen, ruft der Trainer ihm zu, wie er beim Anlaufnehmen und Korbwurf keine Schritte macht, aber das scheint mir unwichtig, denn er muss sich nur lang machen und schon kann er den Ball in den Korb legen.

Wir hatten, glaube ich, in unserem Team keinen aus der Basketballschule. Also reichte den Gegnern einer von denen. Zum Beispiel gegen die 15. Mittelschule – keine Chance, die hatten Slanina. Und die vierzehnte … Keine Basketballschule, aber bei denen spielte ne ganze Armada von dort: Minde Žukausks, noch zwei weitere. Obwohl auch ich in der fünften Klasse das Training bei Sireika besucht hatte, kapierte ich einfach nicht, wie diese Basketballer mich mühelos stehen ließen. Ich wusste, dass man in der Verteidigung die Beine schulterbreit auseinanderhalten musste – in der Sportschule hatte ich so mehr als ne Runde gedreht –, aber offenbar wussten die noch was, denn nachm ersten Jahr warfen sie die nicht raus. Es war klar, dass ich rausfliegen würde, aber n Jahr hielt ich durch. Das ging so: Ich haute einen aus unserer Klasse an und sagte, ich geh mit dir ins Basketballtraining. Das tat ich dann, aber die Einteilung war dort nicht nach Klassen, sondern nach Geburtsjahr. Aber für nen Fünftklässler mit denen aus der sechsten zu spielen – da kannste dich schon im Voraus auf alles gefasst machen. Diese Sechstklässler sahen wie Erwachsene aus und trainierten auch schon seit Jahren. Gut, beim Laufen kam ich ja mit, bei den Sprüngen auch, aber Basketball spielten die fast wie die Profis. Zumindest kam mir das so vor. Deshalb schummelte ich und stellte mich n Jahr jünger als ich war, um mit den Fünftklässlern zu trainieren.

Irgendwas raffte ich dort von Grund auf nicht. Bald pfiff man mich wegen Schritten zurück, bald wegen dieser drei Sekunden, bald blamierte ich mich und traf von unter dem Korb nicht, aber dann zittern dir das ganze restliche Match durch die Hände und du versuchst es besser gar nicht erst, wenn man dich überhaupt aufm Feld lässt. Nach einigen Spielen stand eines auswärts an und wir mussten unsere Geburtsurkunden mitbringen. Am nächsten Tag versammelten wir uns am Bus, und Sireika kam zu mir und gab mir meine wortlos zurück, ich nahm sie entgegen und ging schweigend nach Hause. So musstes ja kommen. Die anderen rafften wahrscheinlich gar nicht, was passiert war.

Aber es gab nicht nur Schulbasketballmeisterschaften, sondern auch solche für Rugby. Wahrscheinlich nur in Šiauliai. Die entschädigten mich mehr als genug für alles. Piepegal, welche Schule wie viele Spieler hatte, die zum Training gingen, das ging immer wie durch Butter. In meiner Schule gab es eigentlich nicht viele, die sich auskannten, vielleicht zwei oder so. Ich erklärte ihnen n bisschen die Regeln, damit sie keinen Scheiß machten, und basta. Und dann nehm ich den Ball und lauf los. Natürlich spielte Žukausks nicht für die vierzehnte Rugby, genauso Slanina nicht für die fünfzehnte. Das hätte mir so richtig in den Kram gepasst. Denen hätte ich die Knochen gebrochen, sie zermalmt, und diesen Javtoks hätte ich so elegant wie n Baum stehen lassen. Aber ich musste ihren Klassenkameraden den Hintern versohlen. Vielleicht würden sie ihnen ja Grüße von mir ausrichten.

Spaß vorbei, morgen ist schulfrei, da haben wir Pläne. Die Lehrer streiken. Die Zeitungen schrieben auch darüber: »Dasgegenwärtige Lehrergehalt ist katastrophal, verboten niedrig. Außerdem liegt das Prestige des Lehrerberufs am Boden. Bis heute arbeiteten die Lehrer fleißig, übten sich in Geduld. Aber die Geduld hat ihre Grenzen.« Ich sagte es doch schon. Was kann diese Mathematikerin uns schon beibringen? Wenn du klagst, dass du katastrophal wenig verdienst, woher soll dann deine Autorität kommen? Das ist wie ne Gleichung, die sie nicht kennt. Autorität ist gleich Kohle plus deren vernünftige Verwendung. Oder im Litauischen, da mussten wir Sprichwörter auswendig lernen: »Wer liest und schreibt, der muss nicht um Brot betteln.« Was meint ihr dazu? Um Brot betteln jetzt alle, aber nicht alle kriegen welches. Und die, die lesen und schreiben, die stehen ganz hinten in der Schlange an. Einige stellen sich gar nicht erst an, denn sie sind absolut pleite. Was bringt es, diese Sprichwörter zu lernen? Wo soll ich mit denen hin? Könnt ihr euch denn den Mafia-Baranis vorstellen, der so nem Esel erklärt, was Sache ist, und plötzlich sagt: »Die Augen sind der Spiegel der Seele, du wirst mich nicht übers Ohr hauen, ich sehe und verstehe alles.« Könnt ihr euch das vorstellen? All diese Sprichwörter haben so nen Bart. Das Lebenist neu, da müssen auch neue Sprichwörter her. Deshalb werde ich den Lehrern sagen: Kannste schreiben und lesen, dann frisste nen Besen.

 

Aber nicht nur zur Schule zu gehen ist fürn Arsch, sondern auch gute Noten – für die darfste dich schämen. Mein Cousin ist kaum älter als ich, aber den sehe ich auch fast nie in der Schule. Der dreht irgendwelche Dinger, und alle respektieren ihn. Ist doch klar: Du musst dich durchschlagen, nicht die Schulbank drücken. Du kaufst was, und bis dus loswirst, sind die Preise gestiegen, aber wenn dus wieder kaufen willst, sind die Preise nochhöher. So läufste wie der Hamster im Rad. Aber wie sollteste auch anders. Wenn du stehen bleibst, dann kannste dir in nem Monat den Arsch mit den Scheinchen abwischen, das Geld muss im Umlauf bleiben, damit du wenigstens auf demselben Level bleibst. Wenn du nicht dauernd läufst, dann kannstes vergessen.

Und die Rentner … Die verlangen, dass man ihre Rente jeden Monat anhebt, aber wie soll das gehen? Meine Mutter kam irgendwie durch, aber Taschengeld gabs fast keins. Fürs Mittagessen, n Kinoticket oder auch in die Disco. N waschechter Feiertag. Sie war Friseurin. Kein Superberuf, aber zum Friseur mussten alle. Natürlich, du kannst dir auch ne Schüssel überstülpen und dir die Haare selbst schneiden, aber dann siehste aus wie Jim Carrey in Dumm und Dümmer. Das ist aber nur im Film saulustig, und wir befanden uns im Leben, und nicht in irgendeinem, sondern in dem, das in Šiauliai stattfand und in dem die bereits erwähnten Autoritätsformeln galten. Deshalb gab es hier einige Grundregeln. Was die Frisuren betrifft, kann ich dazu nur sagen, dass für meine Mum die Anforderungen zu hoch waren. Also ging ich zu ihrer Freundin, die mir auch umsonst die Haare schnitt. Man musste mit nem Flattop rumlaufen. Na, wie Arnie im Terminator oder Pippen von den Chicago Bulls oder Chris Mullins, der zusammen mit Marčiulionis bei den Golden State Warriors spielte. Und auch bei uns – Minde Žukausks, Slanina, Javtoks – alle mit Flattop, deshalb wurde über die Frise nicht diskutiert. Damit war alles klar.

Mein Dad arbeitete als Lagerarbeiter im Fleischkombinat. Falls jemand von euch denkt, das ist scheiße, dann kann ich nur so viel dazu sagen: Er erzählte nie viel von seiner Arbeit, aber an Knete fehlte es nie. Genau damals kaufte er sich wie aus heiterem Himmel n Auto, dabei hatte er nicht mal nen Führerschein. Warum auch, wenn er sich sowieso nie ne Karre würde leisten können. Und jetzt – seht ihn euch an! Da habt ihr euren Lagerarbeiter.

Also, Dad hatte mir geräucherte Würste aus seiner Fabrik organisiert, morgen streiken die Lehrer, also ab nach Riga und wieder zurück mit Kapital, das man mit den Händen greifen kann. Und wenns rund läuft, dann ist alles chicago bulls.

6

Diesmal fuhr ich mit nur einer Tasche, dafür fein säuberlich in Lagen vollgestopft mit geräucherten Würsten. Das ist was ganz anderes als Brot. Bei dem schleppste zwei volle Säcke mit und weißte gar nicht, wohin damit. Und dann kommste zwar nicht in die roten Zahlen, aber zockst dreimal weniger ab als mit den Würsten. Nach meinen Berechnungen hätte ich, wenn alles glatt ging, etwa sechzig Bucks in der Tasche, und damit lässt sichs schon spielen. Etwas zur Seite legen, bei der Bank, die zahlte ja jetzt ganz passable Zinsen, den Rest an verschiedenen Fronten in Umlauf bringen, um sich n bisschen gegen Risiken abzusichern. Jetzt aber hatte ich all meine Knete reingesteckt, die mir noch von Polen geblieben war, und Dad hatte auch noch was dazugelegt.

Wir fuhren also eher ruhig nach Riga. Wem sollte denn schon ne kleine Tasche auffallen, wenn rundherum Säcke voller Brot standen? Wir quatschten mit allen über die Preise und was wo besser lief. So ne Schabracke hatte furchtbares Mitleid mit den Ukrainern am Bahnhof in Šiauliai. Die würden dort einer nachm anderen skalpiert. In Riga wäre das nicht so. Einmal sollen zwei Typen angetanzt sein, angeblich aus der Polizeiwache Prūdelis. Einer zeigte nen alten Ausweis der freiwilligen Hilfspolizei, der andere nen Führerschein. Woher sollten die Ukrainer denn auch wissen, wie die Ausweise der Polente hier aussahen? Zahlen!, sagten die. N andermal kam einer mit nem echten Polypen, nem neunzehnjährigen Lümmel von eben jener Polizeiwache, und verdonnerte n Taras zu ner Geldstrafe von tausend Talonai. Als jener rumzumotzen begann, tauchten andere Polypen auf, na echte, und sahen zu, dass er sich schnell wieder einkriegte. Jetzt standen Name, Vorname und Adresse des Strafgeldforderers in unserer Zeitung. Irgendwie schnallte ich nicht ganz, warum die dort andauernd die Adressen von irgendwelchen kleinen Fischen veröffentlichten. Vielleicht, damit dieser Taras in die Krimstraße gehen und ihn zu Mus hauen kann? Oder vielleicht, damit andere mit nem Businessplan bei ihm vorbeischauen und sich Uniform und Ausweis von ihm ausleihen?

Lauter Zirkus. Genau wie mit diesen Präsidentenwahlen. Mir ja egal, ich konnte weder wählen noch sonst was, aber dafür reichten die Themen, damit im Zug keinem langweilig wurde. Der Geilste war dieser Vilkaitis, der Kandidat des litauischen Ablegers der Weltbewegung der Essenden. Der ratterte durchs ganze Land, verteilte Semmeln und rief: »Wer hat, der beiße!« Ob das denn nicht eine Verhöhnung der Leute wäre, sagte ne Frau, die nicht nur keine Semmeln, sondern auch sonst kein Brot bekamen.

Im TV zeigten sie seinen Stellvertreter, Erlickas, den humoristischen Autor, wie er die Fragen der Journalisten beantwortete. Der brachte die Lippen nicht auseinander, sprach irgendwie ausm Bauch und zeigte irgendwas mit den Fingern, während n anderer den Journalisten zu übersetzen versuchte, was der Vizepräsident sagte. Minde und ich lachten uns krumm, so beknackt war das. Vilkaitis isn guter Schauspieler und Erlickas ist überhaupt n Supertyp. Sie zeigten Ausschnitte aus nem Theaterstück von ihm, da macht er alle Präsidenten und Möchtegernpolitiker voll konkret zur Schnecke.

Als wir uns Riga näherten, sang Minde wieder sein altes Lied.

»Dann also bei den Markthallen?«

»Bei welchen Markthallen denn? Hab dir doch gesagt, dass die uns dort aufsammeln kommen, da kannste Gift drauf nehmen.«

»Mit den Broten haben die uns kein einziges Mal eingepackt, warum sollten sie das jetzt? Unsere Ware geht weg wie warme Semmeln, und dann ab mitm nächsten Zug nach Hause!«

»Einmal ist immer das erste Mal.«

»Beim ersten Mal gibts Blut aufm Laken. Das ist nicht das erste Mal.«

»Was laberste da? Welches Blut denn? Kommt mir mit Laken daher.«

»Fürn Arsch ist das, hierher zu tuckeln und dann nicht richtig Cash zu machen.«

»Hörma, wenn du willst, dann stell du dich doch vor diese Hallen. Wir müssen ja nicht Händchen halten. Und wenn du wieder daheim bist, dann such dir ne Tusse, und dann reden wir weiter über Laken und so.«

Minde hatte echt keine Freundin, und ich hätte das bemerkt, wenn er sich an eine rangemacht hätte. Aber die waren ihm irgendwie schnuppe, na, zumindest war nix von Interesse zu spüren. Leichte Segelohren, aber sonst n klasse Typ. Da waren ständig n paar Hippiemädchen oder so bei ihm, aber ich verwette meinen Kopf, dass er keine von denen knallt. Die gehen irgendwie alle miteinander, schlurfen durch die Gegend, aber am Abend schläft jeder bei sich zu Hause. Sonst hätte er schon längst in hohen Tönen davon gespuckt. Und hier drängte sich ne andere Frage auf: Wenn er also keine Tusse suchte, wozu dann die Knete? Warum riss er sich den Arsch auf? Natürlich brauchte man nicht nur für die Mädels Kohle, sondern auch für Kassetten, Klamotten … Aber das alles war ja nur der Weg zu den Tussen. Seine Alten hatten n affengeiles Teil mit CD, Laserdisc, zwei Kassettendecks, das konnte man nicht einmal voll aufdrehen, sonst kam der Gips von der Decke runter und mit ihm die Nachbarn. Vom Videorekorder und der ausländischen Glotze ganz zu schweigen. Aber ich konnte ja nicht einfach fragen: Minde, wofür brauchste die Knete? Diese Frage, so schien es, widersprach sämtlichen Regeln der Grammatik von Šiauliai. Das wäre, als würde ich fragen: Warum atmeste? Oder: Warum ist deine Haut weiß? Solche Fragen stellen Kinder, die gerade sprechen gelernt haben, aber schon bald sind sie nicht mehr so rhetorisch.

Minde kam doch mit mir, und wir stellten den Inhalt unserer Taschen gleich am Bahnhof unter der Brücke aus. Ich begann schon zu bereuen, dass er nicht allein zu diesen Hallen oder sonst wohin marschiert war, denn es war doch echt witzlos, dass wir einer neben dem anderen standen und die gleichen Teile verscherbeln wollten. Aber ich sagte keinen Pieps mehr, denn ich wollte nicht, dass er wieder mit blutigen Laken oder ähnlichem Gefasel anfing. Aber noch bevor n paar Frauen zu uns kamen und sagten, wir würden zu viel für die Würste verlangen, tauchten auch schon zwei Polypen vor uns auf. Sie wiesen sich aus (warum wohl nur zeigen die ihre Ausweise immer so, dass du Namen und Foto ganz sicher nicht siehst?), fragten um des guten Tones willen, ob wir Genehmigungen hätten, und sagten dann, wir müssten auf die Wache mitkommen. Rundherum n Gedränge – keine Chance zur Flucht oder was. Die Polypen trugen keine Uniform, und mir ging der Gedanke nicht ausm Kopf, das könnten wie in Šiauliai irgendwelche schwachköpfigen Artisten sein. Doch die führten uns durchn Markt in Richtung Polizeiwache, und mit jedem Schritt wurden meine Zweifel immer kleiner und meine Panik immer größer. Was wird jetzt aus uns? Alles beschlagnahmt und dazu ne Geldstrafe? Oder n paar Tage Arrest? Wenn ich heute nicht heimkomme, dreht meine Mum durch.

Und wer hätte mir sagen können, warum man gerade uns aus diesem Ameisenhaufen ausgewählt hatte? Ich habe noch nie im Lotto gewonnen, aber hier fallen gerade unsere Zahlen! Bingo! Ab ins Studio für die Übergabe des Hauptgewinns! Warum ich? Warum unbedingt ich? Der Markt ist doch voller Typen ohne Genehmigung, aber uns packen sie ein. Wir sind überhaupt nur Plankton, das auf diesem Meer aus Scheiße treibt, aber die regelmäßigen Kunden und großen Fische lassen sie halt in Ruhe. Auf der Wache waren vielleicht noch zwei andere Kleinsthändler wie wir, und damit hattes sich. Dort hätten wahrscheinlich sowieso nur die mit Papieren Platz gefunden, um alle anderen hätte man nen schönen Zaun ziehen können – da haste deine Polizeiwache voller Gesetzesbrecher. Aber jetzt war das nur Affentheater.

Ein noch größeres Affentheater begann, als sie uns in n kleines Zimmer schickten und uns sagten, wir sollten uns bis auf die Unterhose ausziehen. Was wollten die in diesem Schwuchtelkontor denn finden? Hatte ich vielleicht ne Wurst in die Hose gesteckt? Wir steckten mit zitternden Fingern das letzte Bare in die Unterhose – vielleicht könnten wir ja zumindest das retten. Minde ging mir mächtig aufn Sack mit seinem Ich-habs-dir-doch-gesagt-lass-uns-zu-den-Hallen-Gehen. Wie oft wollte er mir das denn noch vorhalten? Und wie sollte ich darauf reagieren? Mich entschuldigen? Habe ich ihm denn nicht gesagt, er solle schnurstracks zu seinen Hallen verschwinden?!

»Einmal ist immer das erste Mal, nicht?«, kann er einfach nicht aufhören und stopft die Socken in die Schuhe.

Wir sitzen fast nackt und ohne Dokumente da. In Gedanken verabschiede ich mich von der Knete, habe keinen Schimmer, wie ich meine Schulden bei Dad bezahlen soll, und an weitere Geschäfte ist nicht mal im Traum zu denken. Der Pleitegeier kreist schon über mir. Im besten Fall. Wenn man uns hier rauslässt. Und die es der Schule nicht mitteilen. Die Alten keinen Wind kriegen. In Riga eingekerkert – das wäre n Business. Ich schaue Minde an. Auch er hat die Hosen voll.

Den Polypen erzählen wir lauter Unsinn: Wir haben nicht gewusst, dass man ne Genehmigung braucht. Wir sind überhaupt zum ersten Mal hier. Meine Mutter ist schwer krank, die Medikamente aus staatlichen Beständen sind rationiert, die muss man zu Marktpreisen kaufen, dafür reicht n Gehalt nicht aus. Minde sülzt ihnen vor, sein Vater ist Alkoholiker, versäuft alles, was die Mutter verdient, alles gluck, gluck in die Kehle, verstehen Sie doch – was sollen wir denn da tun? Sie aber halten uns Vorträge über Hygiene, Sauberkeit, allen möglichen Scheiß, aber alle treiben genauso Handel wie wir, doch ne Genehmigung brauchen nur wir. Und falls wir eine hätten, dann wäre sonst was nicht in Ordnung. Die würden sagen, was verkauft ihr ohne weiße Schürze Würste? Die finden schon irgendwas, um uns das Leben schwerzumachen. Einer hält unser Gequatsche über die Probleme in unseren Familien nicht mehr aus und fragt:

 

»Was hat denn deine Mutter konkret?«

»Konkret … Ich weiß nicht … Ich weiß nicht, wie man das auf Russisch sagt.«

»Schon lange?«

»Ja, wir haben schon fast alles Ersparte aufgebraucht, Chef, verstehen Sie doch, wenn diese Krankheit nicht wäre, würden wir in der Schule sitzen, die müssen wir doch abschließen, etwas Vernünftiges muss man doch im Leben lernen …«

Sie haben offenbar genug von unserem Gelaber, drohen uns, wenn sie uns noch einmal erwischen, knallen sie nen Stempel in unsere Pässe und wir fahren nie wieder nach Lettland. Am besten aber wäre, wenn wir uns auch ohne Stempel nicht mehr hier blicken lassen. Und meine Mutter soll bald wieder gesund werden, und deine, sagen sie zu Minde, die soll diesen alten Bock rauswerfen.

Wir verlassen die Wache.

»Wir hätten wie Erlickas bauchreden oder Taubstumme spielen sollen«, sagt Minde.

»Du Genie, sag lieber, was jetzt?«

Wir stehen mit leeren Händen und Taschen da. Die paar grünen Scheine bei den Eiern wärmen nicht, drücken nur auf die Tränendrüsen.

Wo hätten wir die paar Scheinchen denn reinstecken sollen, um aus so ner Scheiße wieder rauszukommen? Mit Plakaten haben wir Šiauliai schon versorgt. Und Spiritus zu kaufen, wenn du gerade bei den Bullen zu Besuch warst, das wäre das Schicksal herausgefordert. Und weiter? Wir ziehen die Bucks aus der Unterhose hervor und hirnen. Muss was Billiges sein, denn wir haben nur neun Bucks zusammengeklaubt. Wir beschließen, nur ne einzige Ware zu kaufen: Bis du kapierst, welche Ware du gut raushauen kannst, vergeht Zeit, also besser kein Hin und Her.

Ich sehe, wie Minde bei so Glitzerzeug für Tussen rumsteht. Ich gehe zu ihm, und er sagt zu mir: »Wir nehmen diese Ohrringe.«

»Ohrringe? Was verstehste schon von Ohrringen? Was weißte denn, was den Tussen gefällt?«

Minde: »Ist doch schnuppe, was ihnen gefällt. Gold ist immer und überall Gold.«

Ich: »Die Indianer finden Alufolie schöner als Gold.«

Minde: »Das war einmal, nicht mehr. Und was sollen überhaupt diese Indianer?«

Ich: »Wir brauchen ne Ware, ohne die die Leute nicht auskommen. In die Sahara würdeste doch auch kein Gold mitnehmen, sondern Wasser und Brot.«

Minde: »Was kommste mir jetzt mit dieser Sahara? Ich rede von Investitionen. Willste vielleicht in Brotlaibe investieren?«

Ich: »Lassen wir das Gequatsche, ich möchte erst was zum Investieren haben.«

Minde: »Also, wenn du kein Gold hast, dann investierste in was Vergoldetes. Wenns nämlich ne Nachfrage nach Gold gibt, dann auch nach vergoldetem Mist.«

Mir wird ganz übel vom Zuhören. Aber vielleicht sollten wir ja mal tun, was Minde sagt? Genug für heute. Wir kaufen also diese Klunker. Dann haben wir viel billigen Mist. Wir investieren also unsere Bucks in vergoldete Blechdinger. Ich starre meine Hände an, die dem Verkäufer das Geld entgegenstrecken, und traue meinen Augen nicht. Jetzt bin ich n Juwelier.

Auf der Rückreise im Zug kam ich n wenig zur Ruhe, denn ich hatte keine Entscheidungen treffen müssen und die Grenze verursachte diesmal auch keinen Stress. Es kam also gar nicht so schlimm, wies hätte kommen können. Die Polypen hatten sich über unsere Elterngeschichten krummgelacht und uns gehen lassen. Das hätten sie nicht tun müssen. Aber ich saß dennoch ganz schön in der Scheiße. Statt sechzig Bucks brachte ich vergoldete Blechdinger nach Hause. Beschissener noch als die Lehrer, die ihre lausigen Talonai erhielten – aber auf Nummer sicher.

Was tun? Ich trainieren und Minde Van Damme spielen? Ohne Kohle ist auch der coolste Typ nur n Bauernlümmel. N mit der Mistgabel trainierender abgebrannter Depp. Wie Antans ausm Training. Einmal hatte der die Verteidigung durchbrochen und preschte vorwärts. Er sah sich noch um, ob ihn auch wirklich niemand verfolgte, und lachte happy dabei. Und so rannte er mit nem Affenzahn mitm Kopf in die Stange, dass er n paar Sekunden lang bewusstlos liegen blieb. Dann stand er auf, als wäre nix gewesen, und spielte weiter. Und genau diese Typen, die du nicht mal mit ner Keule erschlagen kannst, sind eben nicht cool.

Du kannst faktisch n Zwerg sein, aber mit genug Kohle und ner Gang haben alle ne Höllenangst vor dir. Oder du bist n Van Damme mit Chicago-Bulls-Trikot, aber das bringt dir rein gar nix. Wenn deine Mutter dir keine Kopeken gibt, dann lässt man dich nicht mal in die Disco, und eine aus der Klasse durchkneten, das kannste, wenn du Glück hast, am Ende des Schuljahres, wenn die ganze Klasse zelten geht. Könnt ihr euch etwa Van Damme vorstellen, wie seine Mutter ihm Schotter gibt? Zu Edita wollte ich nicht zurück. Ich drängte vorwärts, aber irgendwie ging alles den Bach runter.

Kein Geld, keine Geschäfte, also blieb nur Knochenarbeit. Was denn für welche, in der Stadt? Hier pflanzte niemand Rote Beete an und niemand mistete den Stall aus. Hier wurden Schutzgelder erpresst, Karren abgestaubt, Investitionschecks zusammengekauft. Aber das war ne andere Liga. Wir konnten im besten Fall Fahrräder aus Schuppen klauen, uns draufsetzen und den Tussen die Handtaschen aus der Hand reißen, aber bei diesen Cowboy-Mätzchen schaut nur ne Renterausweis-Sammlung raus, und dabei riskierste, mit Namen, Vornamen und Adresse in unserer Zeitung zu landen, sodass die Rentnerinnen schon bald ne Dauerdemo vor deinem Zuhause organisieren, oder dass du am Ende in der Besserungsanstalt einsitzt. Dasselbe galt für alle anderen Arten von Diebstahl – von Kupfer bis zu Hühnern.

Aber es gab noch andere Handarbeiten. Ich hatte schon n paarmal Petzern tüchtig den Arsch versohlt, auch wenns für ne Karriere als Bodyguard wohl noch zu früh war. N solcher Fall war, als n paar Fuzzis sich nach der Disco die Fäuste an Mindes Segelohren abreiben wollten. Sagten, er hat die Tusse von einem von ihnen angebaggert, obwohl sie eigentlich nur schlecht drauf waren. Ich aber war gleich ganz aggro drauf, und das nicht nur, weil die Minde anmachten. Wie Tadas Blinda, unsern Robin Hood, befällt mich manchmal so n bescheuerter Gerechtigkeitsfimmel, wenn ich sehe, wie sich ne Gruppe von Arschgesichtern aus heiterem Himmel vor lauter Langeweile über nen Typen lustig macht. Nach kurzem Gezanke, während dem sie ihn weiter weg von der Schule drängten, verpassten sie ihm eins auf die Lippe – das Blut quoll hervor. Ich sofort ihrem Obermacker eins in die Fresse, der hatte so was natürlich nicht erwartet und ging zu Boden. Bewegung kam in die Gaffermenge, weißte, jetzt gibts gleich ne richtige Klopperei und nicht nur n paar in die Eier. Die brachtens Maul nicht mehr zu vor Staunen, während sich bei mir die Zunge lockerte:

Was labert ihr Schwuchteln da von Opfern – ihr sammelt eure Siebensachen jetzt ein, aber n bisschen dalli, und macht nen Abgang, schrie ich, ohne zu überlegen, Hauptsache, es klang wie Kriegsgeschrei und ich stinksauer. Ohne Warnung verpasste ich noch einem von diesen Armleuchtern eins mitm Fuß vor die Rübe, bevor er sich wieder einkriegte und checkte, was hier ablief. Die Menge wogte hin und her, alle waren happy und schienen vor Freude gleich ne Schlägerei starten zu wollen. Aber dann hörte man das Klirren von ner Kette, und Minde und ich nahmen wie nachm Startschuss die Beine untern Arm. Hinter uns hörten wir außer den Ketten noch Schwüre, dass sie uns erwischen und uns ne tüchtige Abreibung verpassen, dass sie uns kennen und wir nicht wissen, mit wem wirs aufgenommen haben. Wie immer nur leere Worte des Selbsttrostes.