Die Chroniken des Südviertels

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Im Training konnte ich nicht mit den Männern mithalten. Da gab es welche, die ließen mich einfach stehen, auch wenn ich in der Schule dauernd die Sprintrekorde verbesserte. Aber halb so schlimm. Schlimmer war, dass es hier keinen gab, den ich mit meiner Körpermasse hätte ins Out befördern können. Von einigen von denen prallte ich ab wie n Apfel von der Wand, die mussten mich nicht mal wegschubsen. Sie hatten mich als besten Spieler meiner Altersklasse genommen, obwohl ich viel zu jung für sie war – ich spielte ja noch bei den Junioren. Aber etwas wurmte mich dann doch: Wenn du sonst das Feld wie n Bulldozer aufrollst, aber jetzt wie n Holzspan davonfliegst, dann leidet dein Coolness-Rating ganz schön darunter. Du hast den Ball kaum berührt und schon liegste am Boden. Aber diesen Ball musste erst kriegen, manchmal glaubste, du hättest so nen Mantel an, der dich unsichtbar macht. Und wenn dann dieses Teil per Zufall doch in deinen Händen landet, dann biste so stolz und dem, der dir es dir zugespielt hat, so wahnsinnig dankbar, dass du für ne Sekunde gar nicht mehr weißt, waste damit anfangen sollst, und schon wieder am Boden liegst, bevor du dich eingekriegt hast.

Aber nach zwei Wochen Training oder so gewöhnte ich mich langsam an die höhere Geschwindigkeit und Körpermasse. Ich hatte gelernt, n Spurt hinzulegen, dann den Gegner fast von hinten um die Hüfte zu packen und mich fallen zu lassen. Solange du beide Beine umfasst hältst, liegt der Typ wie gefesselt am Boden. Fürn Anfang reichte das, mit der Zeit würde sich alles einrenken. Und als ich hörte, dass sie mich nach Polen mitnehmen wollen, fühlte ich mich auf Augenhöhe mit ihnen. Von den Typen in meiner Klasse ganz zu schweigen … was heißt hier in meiner Klasse, in unserer ganzen Schule konnte es keiner mit mir aufnehmen.

Das Problem dabei war nur, dass sie uns, n paar von den Jungen, zuletzt sagten, dass sie uns mitnehmen. Keine Zeit mehr für Vorbereitungen. Aber ohne was zum Versilbern nach Polen zu fahren … Du kommst vom Mond, würde man mit Recht zu mir sagen. Mit Polen hatte ich noch nicht viel zu tun gehabt, obwohl man dort offenbar alles Mögliche verscherbeln konnte. Aber wenn du irgendwo zum ersten Mal hinfährst und noch nicht weißt, wies dort ist, dann nimm besser keine Esswaren mit, du weißt ja nicht, wann und ob du überhaupt aufm Markt vorbeikommst. Mutter hatte so ihre eigenen Quellen, die sie ausfragte. Sie sülzte was von Knoblauchpressen, Kaffeemühlen, Wurstfüllern, Wäscheleinen und Pantoffeln. Was meint ihr dazu? Was würdet ihr aus dieser Liste mitnehmen? Die Polen schienen nix lieber zu tun, als Würste zu stopfen, doch dazu fehlten ihnen genau diese Röhrchen, die ihnen die Litauer brachten, und von diesen Röhrchen brauchte jeder zweite Pole mehr als eins. Ich gammelte ohne Plan durch die Stadt, kaufte das eine oder andere, dann hatte Mutter Mitleid mit mir. Sie stopfte Unterwäsche, Pyjamas, BHs und noch was aus ihrem Kleiderschrank, von dem sie dachte, das geht in Polen gut weg, in ne Tasche, bis sie prallvoll war. Ich schaute ihr dabei nicht über die Schultern. Etwas davon war sicher neu, anderes sah nur so aus, aber das machte eh keinen Unterschied.

Am Abfahrtstag ging ich am Morgen mit dem Gefühl zum Bus, mir steht auf die Stirn geschrieben, dass ich ins Ausland fahre, und alle beneiden mich. Ich fühlte mich sogar n wenig unwohl vor lauter Coolness und hätte lieber wie n normaler Kumpel ausgesehen. Wenn du mit ner großen Tasche am Bus stehst, dann wissen alle, der versteht zu leben. Und wenn du nur mit den Rugbysachen und n paar Butterbroten im Gepäck antanzt? Dann würden sie sicher fragen, ob du dort vielleicht ne Tour durch die Museen vorhast, dass du mit leeren Händen antanzt.

Ich glaubte, von den anderen würde mich niemand auch nur eines Blickes würdigen. Ich fuhr ja zum ersten Mal mit und landete im Training auch noch andauernd aufm Rasen … Aber denkste, die rufen mir schon von weitem allen möglichen Quatsch zu und ziehen mich durchn Kakao.

»Stimmt genau!«, erwiderte ich, was hätte ich denn sonst sagen sollen, ich wollte ihnen doch zeigen, dass ich ihre Witze lustig finde, auch wenn die fürn Arsch waren, und ich kriegte schon langsam die Krise, denn ihre Augen leuchteten und sie hatten die Taschen natürlich mit Dingen vollgestopft, die wie warme Semmeln fürs Fünffache weggehen würden.

Die Grenze passierten wir ohne Probleme. Die Grenzer stiegen ein, warfen n Blick in unsere Pässe, klopften die eine oder andere Tasche ab, aber mit den Muskelprotzen in Trainingsanzügen im Bus wollten sies nicht aufnehmen. Sportler. Zwar waren alle Busse voll mit Leuten in Trainingsanzügen, aber hier sahen sie alle gleich aus und hatten breitere Schultern.

Als wir in Warschau ankamen, war schon fast Nacht. Wir schliefen aus, am Morgen n bisschen trainieren und am Nachmittag das erste Match gegen die siebte Mannschaft von irgend so nem polnischen Rugbyclub. Um ins Spiel zu kommen, den Platz auszuprobieren. Obwohl mir das ziemlich egal war. Bei den Junioren spielte ich im Gedränge, und hier stellten sie mich in die Verteidigung. Im Gedränge wäre ich hier zwar der Schnellste, aber solche Fleischmassen würden mich wie so n kleinen Pilz zerquetschen. Deshalb stellten sie mich ganz an den Rand. Ich hatte noch nie gern im Winter gespielt, aber im Winter am Rand – das war purer Selbstmord. Da stehste doch nur das ganze Match durch doof rum und wartest, bis der Ball zu dir kommt. Der ist aber schlüpfrig, und so enden alle Attacken, noch bevor sie wirklich begonnen haben. Wenn du den Ball n paarmal in die Hände kriegst, dann kannste von Glück reden. Aber meist frierste dir nur den Arsch ab und läufst rum, um n bisschen warm zu werden. Und biste in Ballbesitz, die Hände halb abgefroren, die Muskeln kalt – was glaubt ihr, was bringste dann fertig? Noch bevor du dich umsehen kannst, landeste auch schon im Out. So lautete meine einzige Aufgabe, die Verteidigung nicht zu verbocken, weil bei uns der Angriff meist übers Gedränge lief. Also durfte ich den Gegner auf derselben Position nicht vorbeilassen – genauso n Eisklotz wie ich.

Aber dieser Eisklotz war nicht mein größtes Problem. Viel schlimmer waren einige von den Unseren. Da gab es welche, denen musste den Ball zuspielen, mit zittrigen Händen. Nicht abzuspielen ist keine Option, und dann machste dir in die Hose, weil die ganz sicher zu den Mafiatypen gehörten – sogar ihre Nachnamen stimmten: Baranauskas, Šiaulys. Was weiß ich denn, n Baranauskas spielt in unserem Fußballklub, der andere bei uns – oder vielleicht war das ja auch der, vor dem ganz Šiauliai Angst hatte? Wer nen Pass erhielt, der wusste genau, dass er den Ball an ihn weitergeben musste, und dass es, falls er das nicht richtig machte, für ihn besser wäre, sich ne Kugel zu verpassen. Die Hände aber waren steifgefroren, die Beine aus Holz, ich kam mir vor wie in der Antarktis und nicht in Warschau. Also rannte ich manchmal völlig in die Pampa, soll mich der Trainer ruhig anbrüllen, aber den Ball würde ich nicht kriegen.

Diese Kerle vom Schlage eines Baranis nannten sie »Jungs«, manchmal auch »Prinzen«, sogar in den Zeitungen, und das klang einschüchternd und Ehrfurcht gebietend. Ich wusste nix über sie, aber ich glaubte, bei ihnen wäre das wie im Paten oder in Wilde Hunde, die ich vor kurzem in der Videothek gesehen hatte. Die hatten ihre Ordnung, Ehre und sogar eigene Traditionen. Und die Polizei sabberte was von Gangs, organisiertem Verbrechen. Man soll die Dinge beim Namen nennen. Sie waren die Chefs im Ring. Man musste ja nur n Blick auf sie werfen, und schon war einem alles klar. Sie fuhren rote Sportwagen Mitsubishi 3000 GT, fast so was wie Ferraris, während die Bullen ihnen mit ihren Schigulis hinterherkrochen. Sie setzten hunderttausende Bucks um, während die bei der Polente nur n Haufen verschissener Talonai kriegten. Wenn sie die nicht am selben Tag unter die Leute brachten, dann konnten sie sich am nächsten nur noch ne Packung Zucker und Graupen dafür kaufen.

Eigentlich gab es gar keine richtigen Bullen mehr, die hatten sich ja alle zu Sicherheitsfirmen oder sonst wohin verzogen. Also blieben der Polente nur noch so Typen mit abgeschnittenen Hosen. Und jetzt stellt euch mal vor: Da kommt so einer mit seinem Klappergestell von nem Schiguli zum roten Mitsubishi gefahren, steigt aus, geht zu Baranis und sagt zu ihm … Na, was könnte der zu ihm sagen? Ich an seiner Stelle würde die Äuglein brav senken, die Ohren anlegen und betteln, dass er mich am Leben lässt. Und genau deshalb machte auch niemand Jagd auf die. Wie sollte man die denn erwischen? Selbst wenn du auf unerfindliche Weise einen von denen geschnappt und in die Arrestzelle gebracht hast, dann legt der nur n Hunni aufn Tisch und geht fröhlich pfeifend wieder. Der aber, der ihn zu den Bullen gebracht hat, kann sich schon n Plätzchen aufm Stadtfriedhof sichern und nen Grabstein bestellen.

Langer Rede, kurzer Sinn: Das erste Spiel gewannen wir mit links, der Trainer gab mir n paar aufn Deckel, weil ich mich n paarmal danebenbenommen hatte, aber er schien alles der Unerfahrenheit zuzuschreiben, während ich mich steif vor Kälte vom Acker machte, um zu duschen und mich warm anzuziehen. Natürlich waren alle normalen Duschen schon besetzt, ich durfte also gleich neben der Tür duschen, auf nem Durchgangshof. Ich war zu nem Eisklotz gefroren und mein Stummelschwänzchen hätte sich am liebsten da verkrochen, wo es rausgewachsen ist. Damit könnte man ja leben, aber das Duschen hält dir klar und deutlich vor Augen, dass das vielleicht nur bei dir so ist, denn bei den anderen baumelt er wie bei den Zuchtbullen – und die drehen sich auch noch absichtlich um, damit alle es sehen. Niemand sagt auch nur n Sterbenswörtchen darüber, aber selbst n Vollidiot kapiert, dass wir uns eifrig der vergleichenden Analyse hingeben. Ich drehte nur das heiße Wasser auf, aber ich schrie nicht, ich biss die Zähne zusammen und schwieg, um keine überflüssige Aufmerksamkeit zu erregen. Hauptsache, er kommt möglichst schnell ausm Gebüsch hervor und lässt was von sich sehen, denn sonst würde der mit den Taschen voller BHs nur noch verdächtiger und würde sein Leben lang durchn Kakao gezogen. Ganz besonders, wenn das Baranis zu Ohren kommt. Aber diesmal war alles irgendwie normal, niemand schmiss großmäulig mit Witzen um sich, alle hatten sich im Match abgerackert und nur noch eins im Sinn: ins Hotel und dann in die Stadt. Wir, einige von den Jüngeren, wollten uns gemeinsam auf die Suche nachm Markt machen, denn übermorgen, an unserem freien Tag, durften wir die Gelegenheit nicht verpassen, mit unseren Taschen den Leuten n paar Zlotys abzujagen.

 

Genau das taten wir dann auch. Wir fanden heraus, wo hier der größte Markt, dieses Stadion, ist, und wie man da hinkommt, und als wir dort waren, ließen uns die Ghettoblaster, Klamotten und anderen geilen und exotischen Teile den Speichel im Mund zusammenlaufen. Die Schlitzaugen brachten allen möglichen bunten Kram dahin, die Kasachen Wolle, da war alles, was das Herz begehrte, viele verscherbelten ihre Ware auf Pump. Und es wimmelte nur so von Käufern, also hätten wir leichtes Spiel mitm Verklickern der Waren in unseren Taschen.

Endlich kam unser freier Tag und wir machten uns schon am frühen Morgen zum Stadion auf. Der Handel hatte schon begonnen, dafür trieben sich dort jetzt schon nicht mehr nur die herum, die auf Pump kauften, um weiterzuverscherbeln, sondern auch Gaffer der einfacheren Sorte. Ich schmiss meine Tasche aufn Boden, ging n Schritt zurück und versuchte zu rekapitulieren, was ich alles mitgebracht hatte. Ich konnte kaum n paar Klamotten hervorkramen, da traten auch schon n paar Käuferinnen zu mir und fragten mich was. Wonach konnten die sich aufm Markt schon erkundigen, wenn nicht nachm Preis? Aber mir kam plötzlich in den Sinn, dass ich kein Polnisch konnte, und dass diese Sprache nur geringe Ähnlichkeit mit Russisch hatte. Ich antwortete dennoch auf Russisch – was hätte ich denn tun sollen? Aber wer hätte mir jetzt sagen können, wie viel ich wofür bezahlt hatte und wie viel ich für all die Höschen, BHs oder die irgendwo dazwischen versteckte Kaffeemühle verlangen soll. Glaubt ihr etwa, wir hätten tags zuvor, als wir den Markt ausgespäht und die Messer der Tschetschenen befingert hatten, daran gedacht, uns die Höschenpreise anzusehen? Ich stammelte irgendwas, die Kundinnen hielten es nicht mehr aus und streckten mir n paar Scheine hin. Ich fackelte nicht lange und nahm sie. Gar nicht schlecht, dachte ich bei mir, obwohl ich die Zlotys noch nicht im Schlaf in unser Geld umrechnete. Am meisten Mühe bereitete mir das Rausgeben. Wie sollte ich denn wissen, ob sies mir richtig gaben oder noch was raushaben wollten. Und wenn ich irgendwie doch raffte, dass ich was rausgeben sollte, dann musste ich lange wühlen, bis ich das Geld zusammengeklaubt hatte, ich bekam ja diese Scheine zum ersten Mal zu Gesicht. Also zupften sich die Frauen selbst ausm Bündel in meiner Hand, was sie brauchten.

Ich war platt vor Staunen. Die Kundinnen kamen zu meiner Tasche, zogen Klamotten hervor, wühlten drin rum, bis sie was Passendes fanden, legten den Preis fest, gaben mir das Geld, und in meinen Fingern schillerten die Zlotys mit ihren Königen und Generälen, während sich mir der Kopf von ihrem psze, psze im Kreis drehte, und ich mit Spannung darauf wartete, wie das alles ausgeht. Aber als meine Tasche schließlich leer war, da stellte ich fest, dass sowohl die eine als auch die andere Hosentasche und auch mein Geldbeutel prallvoll mit Scheinen waren, und das konnte nix Schlechtes bedeuten.

Ich warf mir also die leere Tasche über die Schulter und zog los, um abzuchecken, was man aus diesem Paradies mitbringen kann. Das war gar nicht so einfach, denn ich hätte am liebsten gleich alles gekauft: Sweatshirts, Jacken, bunte Shorts, Turnschuhe, bunte Plastikstrandschuhe … Natürlich gabs die auch bei uns, aber die Auswahl hier – echt abgefahren. Zwar liefen im Sommer alle in Strandschuhen rum, aber mit denen von hier ist man der Platzhirsch, die hatte wie die Mode der neuen Saison noch niemand gesehen.

Mir lief das Wasser im Mund zusammen beim Anblick der Ghettoblaster und der Kassetten. Alles original. Haddaway, Prince, Boyz II Men, Snoop Dogg, Shaggy, Snap und alles andere, was ich erst vor kurzem auf MTV gesehen hatte – und hier konnte ich die Cover in leuchtenden Farben anfassen. Aufm Markt in Šiauliai waren die Namen der Songs mit der Schreibmaschine oder auch von Hand draufgeschrieben, und aufm Rücken stand kurz und bündig, was drin war: Seite A – Bad Boys Blue 91, Seite B – Roxette 92. Hier aber wollte ich die eine oder andere Kassette allein wegen dem Cover kaufen.

Am schwersten fiel mir die Kaufentscheidung beim Chicago-Bulls-T-Shirt, denn ich musste die Jacke mit der Aufschrift Los Angeles Kings zur Seite legen. Die würde ich vielleicht auch in Šiauliai auftreiben, und außerdem waren die Bulls jetzt voll in Mode. Die gab es in allen möglichen Varianten und Farben, mit und ohne Jordan und Nummer 23, aber alle konnte ich ja nicht kaufen. Ich entschied mich für eins, auf dem Jordans Visage mit herausgestreckter Zunge fast die ganze Vorderseite bedeckte: Hoch in der Luft schmettert er den Ball von oben in den Korb, und du glaubst fast, du sitzt aufm Brett und kriegst gleich eins mitm Ball übergebraten. Am wichtigsten aber war das unten seitlich aufgenähte Etikett, auf dem gut lesbar stand, dass das Shirt n Original ist. Bei Fakeware fehlte die.

Da begegnete ich Dariuks und Sauliens – die waren auch schon fast fertig mit ihrer Shoppingtour. Wir vereinbarten, nachher zusammen zum Hotel zu fahren und dann noch auszugehen. Dieses Hotel befand sich natürlich am Stadtrand, durchs Fenster sah man so Felder und Gestrüpp, im Sommer weideten hier wohl Kühe. »Hotel« konnte man dieses Loch eigentlich nicht nennen, schon eher »Baracke«, aber im Ausland sieht halt alles viel korrekter aus.

Zum Treffen vor dem Hotel kommen die Kumpels schon mit ner Flasche Smirnoff. Also latschen wir alle zusammen in so nen Laden – wir brauchen doch was zu beißen dazu. Wir sehen uns um, Sauliens sagt, er hätte gern n Päckchen Kaugummi von ganz hinten in der Ecke. Während der Verkäufer es holen geht, beugen sich die beiden nach vorne, packen n Päckchen Camel, das neben der Kasse liegt, und nehmen die Beine unter die Arme. Ich hinterher – der Teaminstinkt funktioniert. Der Verkäufer nimmt mit nem weiß der Geier woher aufgetauchten Typen die Verfolgung auf. Wir rennen zu so nem Gebüsch – weit raus in die Pampa, um nicht auf die Polente oder andere Wohltäter zu stoßen. Wir sprinten über ne mit Reif bedeckte Wiese, vielleicht war das ja auch n Park – und weiter auf getrennten Wegen. Wie die Hasen im Trickfilm, in verschiedene Richtungen. Aber unsere Verfolger sind clever, einer heftet sich mir an die Fersen, der andere rennt Dariuks und Sauliens hinterher.

Kurzum, so sehr ich mich auch bemühe, ich werde ihn einfach nicht los. Wie sollte ich das auch mit diesen Schuhen. In denen spurteste und denkst – welcher Idiot hat mir gesagt, die sind super? Ja, die sehen geil aus, aber man rutscht nur – wie auf Schlittschuhen. Mein Cousin hat mir die angedreht – gute Schuhe, sagte er, original, keine Fakeware … Dem werde ich nie mehr was abkaufen … Ich spüre, gleich geht mir die Luft aus. Da nützt es dir n Dreck, dass dein Name auf der Tafel mit den Schulrekorden im Cross und Sprint seit ihrer Gründung steht. Aber woher haben die Polen denn nur solche Dauerläufer? Mir dämmert langsam, dass ich am Ende bin, wenn man mich im Ausland erwischt. Aus mitm Training, Schluss mit der Schule und mit den Eltern hätte ichs mir auch völlig verdorben.

Schließlich sprinte ich hinter so n Gestrüpp, jetzt sollte ich für ne Weile aus seinem Blickfeld verschwunden sein. Aber da ist n Graben. Den müsste ich eigentlich sogar mit diesen Tretern überspringen. Meine Resultate im Weitsprung stehen ja auch auf der Rekordtafel der Schule. Ich nehme Anlauf, aber kurz vorm Abspringen bleibt n Fuß an so was wie nem Ast hängen und ich liege, zack!, der Länge nach da und rolle dann wie ne Wassermelone in den Graben … Keine Chance aufzustehen, denn mein Bein fühlt sich so an, als hätte jemand die Kniescheibe rausgenommen – das tut höllisch weh, also gehts jetzt nicht weiter. Ich liege da und kapiere einfach nicht, wie ich so tief in die Scheiße geraten bin. Wegen zwei qualmenden Idioten würde man mich einpacken und auf die Wache bringen – und ich darf mich dann freuen, wenn man mich gehen lässt. Ich liege also flach wie ne Flunder aufm Boden und höre, wie der Typ laut schimpfend irgendwo in der Nähe vorbeiläuft. Ich verstehe nur »kurwa«. Alles andere gleicht dem Rauschen im Radio nach Mitternacht. Nach ner Weile verschwindet er. Ich finde das höchst interessant: Wegen nem Päckchen Kippen drei Schwachköpfe über die Felder zu jagen. Und noch was denke ich mir, während ich so daliege: Da siehstes, Entkommen geht auch ohne Weglaufen.

Ich stand auf und humpelte auf diesem Trampelpfad zurück, wobei ich immer wieder stehen blieb und mich umsah. Ganz in der Nähe entdeckte ich Sauliens und Dariuks. Die waren ihren Verfolger einfacher losgeworden und pafften jetzt kichernd jeder ne Camel. Das ging mir so richtig aufn Sack. Als ich bei ihnen ankam, sagte ich ihnen sofort, was ich von all dem hielt. Aber sie nur: Komm schon, nimm nen Zug, krieg dich wieder ein. Sie sagten, der Rauch beruhigt die Nerven, da dachte ich mir, dann nehme ich eben n Zug. Ich war eigentlich Nichtraucher, mir wollte einfach nicht in die Birne, was das bringen soll, n paarmal hatte ichs probiert, aber für mich stinkt das nur scheußlich, sagt, was ihr wollt. Fürn Arsch. Aber wenn man dir ne Kippe oder nen Zug anbietet, dann kannste nicht nein sagen, sonst biste n lahmarschiges Muttersöhnchen. Ich ergriff also die Zigarette, nahm n Zug, schnurstracks in die Lunge, und so hustete ich wie verrückt, während die beiden andern loswieherten, kurzum, ich hatte mich zum Deppen gemacht, was hätte ich ihnen jetzt noch sagen können?

Und dann wurde es absolut ätzend. Die hängten den harten Kerl raus und sülzten mich einer den anderen anstachelnd voll, wie sie doch alles im Griff gehabt hätten, während ich glaube, dass sie die Hosen nicht weniger vollgeschissen hatten als ich und jetzt hier nur die coolen Typen raushängten. Da muss man erst mal drauf kommen – Kippen im Laden zu klauen. Aber sie hatten ja Camels zuvor nur in der Glotze gesehen und überhaupt – hier war alles so neu und bunt, gesehen, aber nicht befingert, wie sollte man sich da verkneifen, die eine oder andere Kleinigkeit als Souvenir mitlaufen zu lassen. Da lebste seit weiß der Geier wie viel Jahren in so nem Scheißloch, und jetzt liegt n Päckchen Camel vor deiner Nase. Natürlich greifste dir das. Und was dann passiert, darüber denkste später nach. Genauso verhielts sich auch mitm Smirnoff. Nach ner Weile kamen wir zu so Bahngleisen, die überquerten wir und setzten uns ganz high von unserer eigenen Coolness aufn Boden. Der Schmerz im Knie ließ langsam nach, die Angst auch. Niemand würde wegen diesem Päckchen Kippen die Felder durchkämmen.

Am nächsten Tag konnte der Trainer einfach nicht begreifen, was mit uns los war, als das sanfteste Lüftchen uns ins Wanken brachte und wir wie die reifen Äpfel im Herbst zu Boden fielen. Er wechselte uns Schwachköpfe schnellstens aus. Ich saß schweigend auf der Ersatzbank und versuchte, niemandem in die Augen zu sehen. Shit, dachte ich, wegen diesen Psychos habe ich n Riesenhaufen Mist gebaut. Schluss mit dem Unsinn, kein Bullshit mehr. Das Training an erster Stelle. Ja, und Kohle machen, aber piano, ohne Risiko. Ich will mir mein Leben nicht ruinieren. Und ich will Rugby spielen.

Ich bekam ne Urkunde fürn zweiten Platz, denn im Finale schlugen uns die Ukrainer. Ich fühlte mich nicht schuldig, denn die wegzuputzen – Chance ungefähr gleich null. Diese Urkunde isn Vorschuss, sagte der Trainer, und ich nahm sie nach ner Gewissensrevision fast mit Handkuss in Empfang.

Und zurück in Šiauliai fühlte ich mich nicht weniger cool. Fürn Ghettoblaster hatten die Zlotys nicht ausgereicht, ich wollte nämlich nicht gleich alle fürn einziges Teil ausgeben. Aber ich hatte ne weite bordeauxrote Hose, neue rote Schuhe aus weichem Leder, einige Kassetten und, am wichtigsten, zwei neue Shirts ergattert. Eins war das mit Jordan, von dem ich schon erzählt habe, das andere hatte ne Kapuze und drauf stand Chicago Bulls. Natürlich gab es in Šiauliai auch Trikots mit der Aufschrift Chicago Bulls, aber so ne geile Kombination hatte ich noch nie gesehen, und deshalb war sonnenklar, dass ich schon aus der Ferne leuchten würde: Ich besaß nicht nur etwas, was niemand sonst hatte, sondern n Teil, von dem andere nicht mal träumten. Mit diesen weiten Hosen und dem Shirt sah ich fast so aus wie der Rapper auf MTV. Und das war n mehr als passabler Anfang.

 

Nur Mum fragte, kaum hatte ich die Hütte betreten, natürlich sofort: »Na, wo hast du denn diesen Schuh zerschlissen?«