Die Chroniken des Südviertels

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Für ne lange Moralpredigt war es zu spät, also gabs nur ne kurze Standpauke.

Sie sagten mir, ich bin n Esel, denn ich will mir ganz offensichtlich das Leben versauen, während mir schien, ich fange erst an zu leben.

Sie sagten mir, ich will wohl unbedingt bald Vater werden, die Schule nicht abschließen und meine Zeit mit Kindererziehung verbringen, und ich stammelte im Gegenzug was von Präsern.

Sie sagten mir, ich bin n Idiot, dass ich mich mit solchen Schlampen abgebe, und ich versuchte zu entgegnen, dass sie gar keine ist und nicht mit allen in die Kiste hüpft, zumindest hatte ich noch nix in dieser Richtung gehört.

»Wollte sie selbst zu dir kommen, oder haste sie zu dir eingeladen?«

»Sie wollte, warum?«

»Die soll den Weg hierher vergessen, aber auf der Stelle!«

Kurz und gut, alles wie in einem bescheuerten Witz. Nur war ich keine dieser Witzfiguren, weder der Geliebte noch der vor Wut kochende Ehemann, sondern einfach nur n Schüler, dem man gerade den Tarif durchgegeben hatte. Hausarrest und Hausaufgaben. Bis achtzehn sitze ich zu Hause und mache Hausaufgaben. Das ist meine Funktion. Es fiel mir nix Vernünftiges ein, was ich hätte sagen können. Mich rechtfertigen? Wofür? Dass ich Lust auf n Mädchen hatte? Ist das denn was Böses? Und was ist dann gut? Zu Hause sitzen, Hausaufgaben machen und sich einen runterholen?

Am nächsten Tag ging ich zu Minde. Der zeigte mir zufrieden, dass er jetzt den Spagat hinkriegte. Nicht mehr lange und er würde es mit Van Damme aufnehmen. Mich brachten diese Spagate zum Schmunzeln: Du dehnst dich, hebst die Beine … Das mag ja ganz passabel aussehen, vielleicht kann man damit ja auch Eindruck schinden und irgendn Weichei macht sich in die Hose, aber wenn so n Clown einem Typen in die Hände gerät, der die Muckibude nicht nur von außen kennt, dann gibts gar nix mehr zu lachen.

»Gratuliere!«, sagte ich. »Wäre geil, wenn das mit den Plakaten auch so flutschen würde.«

»Was hat das denn mit den Plakaten zu tun?«

»Das. Wir pumpen in der Muckibude, und die Kohle könnte das auch. Pump it up, pump it up, die Muckis und die Prozente wachsen und wachsen.«

»Wo piepts bei dir?«

»Jetzt mal halblang! Mach du ruhig deine Spagate, ich muss mal n wenig auf piano schalten, hab Stunk mit den Alten.«

»Was war denn?«

»Die haben mich zu Hause mit Edita erwischt. Sind früher heimgekommen, und die liegt splitterfasernackt da …«

»Du vögelst also zu Hause Tussis und dann fickste mich, weil die Plakate nicht weggehen? Diese Woche hat die halbe Klasse von Tamošius in der fünfzehnten welche gekauft, wo wir vorher noch kein einziges losgeworden sind …«

»Hast ja recht, aber irgendwie habe ich das dumpfe Gefühl, als wäre der Wurm drin …«

»Wenn du mich fragst, ist bei dir der Wurm woanders drin. Aber scheiß drauf. Und was haben die Alten gesagt?«

Wie mich das ankotzt – alle möglichen Langhaarweicheier glauben, sie müssten deiner Mutter im Belehren das Wasser reichen, und du steckst so tief in der Scheiße, dass du nicht weißt, waste ihnen antworten sollst.

»Was haben sie gesagt, was haben sie gesagt – dass ich bald nen Haufen Kinder habe.«

»Du hättest sie doch fragen können, ob sies dir nicht erklären können.«

»Ja, ja, danebensitzen und zuschauen, ob ich alles richtig mache.«

»Und jetzt?«

»Was jetzt, was jetzt. Zusammengestaucht haben sie mich. Mit allem möglichen Scheiß gedroht. Gesagt, wenn ich zu viel Mist baue, dann ist der Arsch ab.«

»Mach dir nicht in die Hose, du gehst einfach, was sollen die denn machen?«

»Da haste auch wieder recht, aber ich muss es ja nicht auf die Spitze treiben. Ich kann den Alten doch nicht einfach sagen: Danke, war nett mit euch, machts gut. Ich liege ihnen ja noch auf der Tasche. Und lebe unter ihrem Dach. Also ist n bisschen Ruhe angesagt. Besser, sie denken, dass alles nur n Missverständnis war. Jupp, am besten, sie glauben, es ist ihre Idee gewesen.«

»Okay, und was ist dann mit Riga?«

»Was soll damit sein? Wir haben noch nicht genug Kohle, um hinzufahren. Wir müssen erst alle Plakate verhökern. Mit dem, was wir in der Tasche haben, können wir höchstens zu den Ukrainern.«

»Scheiß auf die Ukrainer, was sollen wir mit denen?«, wehrte Minde ab.

Aber schon am nächsten Tag drückten wir uns aufm Bahnhof rum und warteten aufn Zug von Lwow nach Riga. Kein Zug, sondern n Markt auf Rädern. Die Ukrainer, die nicht bis Riga fahren wollen, steigen hier aus und breiten ihre Waren direkt am Bahnhof aus – Margarine, Öl, Butter. Dazu brauchen sie keine Marktstände, sie legen alles auf die Kisten, in denen sie die Waren transportieren. Ihr Geschäft läuft gut, Strahlung hin oder her. Wenn sie es essen und nicht krepieren, dann können wir das auch. Die Bahnhofsklos haben die Preise hochgeschraubt, denn die waschen sich dort alle. Mit einem Wort – n Saustall.

Wir hatten vor, wie immer vorzugehen: Die Ukrainer steigen aus, du gehst zu ihnen und sagst, ich nehme die ganze Tasche. Dann verschwindeste um die Ecke, rechnest nach, blätterst die vereinbarte Summe hin und machst dich mit der Ware ausm Staub. Nachdem hier vor kurzem n Typ nen anderen erschossen hat, waren jetzt alle ruhig, schrien nicht rum, man konnte sich in Ruhe unterhalten und den Preis aushandeln. Man will ja auch selbst was verdienen bei der Sache.

Aber diesmal überfielen die Omas den Bahnhof in Horden. Wir dachten schon, sie würden den Ukrainern die Taschen aus der Hand reißen und abhauen. Als wären wir hier alle am Arsch und würden vor Hunger sterben. Die Rentner sind einfach abgefahren. Die Bullen versuchten noch Ordnung zu schaffen, blökten durch ihre Megafone auf Russisch, am Bahnhof ist der Handel verboten, aber als sie wieder damit anfingen, brüllten die Omas sie nieder und sagten, geht ihr doch die Gangster jagen, die uns erpressen, und lasst die armen Leute hier in Frieden. Die Polypen machen sichs einfach, belästigen die Älteren, die Jüngeren lassen sich ja von ihnen nix sagen. Bei denen arbeiten ja auch nur noch solche, die nur mit den Rentnern und Ukrainern fertig wurden.

Wir nahmen ihnen diesmal die Würste ab. Die wurden sie nur mit Mühe los, weil alle vor der Trichinellose Angst hatten. Wir kauften sie billig und würden sie ohne Etiketten als litauische verscherbeln. Klar doch, bei der Ukraine dachte man sofort an Tschernobyl und die Trichinellose, am Kiosk aber – alles okay. Dort brachte man sie als lokales Produkt für nen ganz anderen Preis los. Außerdem nahmen wir noch n paar Flaschen Wodka – wir kannten einige besonders Durstige – und verkauften n paar Bucks. N Kinderspiel, aber wir durften die Form nicht verlieren, mussten den Puls der Zeit spüren. Und weiter? Im Hof rumlungern, nein danke, und überhaupt, noch so n Scheiß wie mit Edita konnte ich nicht brauchen. Die Disco – auch nicht das Gelbe vom Ei. Also lag ich jetzt abends im Bett und glotzte TV. Manchmal bis zwei oder drei. Mum steckte ihren Kopf durch die Tür und fragte:

»Was schaust du da?«

»Deutsches Fernsehen.«

»Das ist doch nur für Erwachsene?«

»Ich bin ja kein Kind mehr. Und überhaupt: Ich lerne Deutsch. Die Wörter bleiben besser hängen. Die neue Lehrerin nimmt uns tüchtig ran.«

»Na, dann schau mal, du Deutscher du.«

Ich begriff gar nicht, wovor mich meine Mutter schützen wollte. Stimmt, sie wechselte die Bettwäsche und sah die Flecken, die diese nächtlichen TV-Sessions hinterließen, aber was war das schon – ich kann es benennen: Ejakulation, Pollution oder so was. Aber sie würde mich nicht danach fragen und ichs mit keinem Wort erwähnen. Was das betraf, musste ich in meinem Kopf für Ordnung sorgen, denn er war viel zu sehr mit Informationen vollgestopft. Dass ich davon an den Armen nen Affenpelz bekäme, das glaubte ich nicht wirklich, aber dass mir der Samen mit dreißig oder so ausginge und weder Magazine noch Sexstreifen mir mehr helfen könnten, das kam mir gar nicht so unwahrscheinlich vor. Vielleicht floss ja mitm Sperma wirklich das Hirn ausm Körper, vielleicht war ja nur noch ganz wenig davon übrig, irgendwie lief alles in letzter Zeit nicht mehr so rund … Aber da konnte man nix machen. Ich bemühte mich, es weniger oft zu tun, na, so zweimal pro Woche, aber dann dachte ich mir – wozu denn? Was machte es für nen Unterschied – zwei-, vier- oder neunmal? Außerdem war ich fest davon überzeugt, dass vom Wichsen die Pickel verschwanden, und das war jetzt bedeutend wichtiger. Und auch wenn keine Veränderungen bei meiner Haut eintraten, so würden sie das vielleicht schon bald, ich durfte nur nicht die Arme hängen lassen. Ihr seht, das war eher mein Problem, und meine Mum war auch keine Nonne.

Eine Nonne war unsere Deutschlehrerin aus Österreich. Und mit dem Deutsch, das war absolut ätzend. Stellt euch mal vor, sie erklärt uns alles ganz ausführlich, und wir verstehen rein gar nichts. Na ja, nur einzelne Wörter. Aber was nützte uns das, wenn sie uns das Plusquamperfekt erklären wollte. Was ist denn dieses Plusquamperfekt? Wir verstanden erst mal nur Bahnhof. Sie redete, redete und redete, und dann fragte sie, ob wir ferstejen. Nain, riefen wir ihr beinahe im Chor entgegen. Sie versuchte sich einfacher auszudrücken, aber wir kapierten immer noch nichts. Aber was willste denn? Sie erklärte uns auf Deutsch das Plusquamperfekt und ähnlichen Scheiß, der uns schon auf Litauisch viel zu hoch war.

Nachm ersten Schock rissen wir die Initiative an uns. Also, du fährst jetzt nach Hause. Nicht weil uns ne andere Lehrerin besser gefällt und wir unbedingt Deutsch lernen wollen, aber du bist hergekommen, um uns zu belehren – schaut nur, die sind völlig unterbelichtet. Niemand machte Hausaufgaben, wir schenkten ihr fast keine Beachtung. Wir brachten die Nonne schließlich dazu, dass sie – wohl zum ersten Mal in ihrem Leben – jemanden anbrüllte. Sie schrie ihn an, erschrak und dampfte flennend ab zum Direktor. Und wir – wir fühlten uns unschuldig, denn wir konnten ja nix erklären, brachten ja nicht einmal nen geraden Satz hin. Aber dann tat sie uns leid. Sie war wirklich ne Nonne, man konnte es an ihren Augen ablesen, dass sie unschuldig war, und sie hatte ja nicht gewusst, wo sie hinfahren würde. Also rafften wir schließlich irgendwie, wie diese Übungen gemacht werden mussten, obwohl wir keinen blassen Schimmer davon hatten, wie wir die Namen der grammatikalischen Konstruktionen übersetzen sollten, die sie uns da erklärte. Aber vielleicht war das ja schnuppe, wozu Deutsch – die Sprache ist ja völlig nebensächlich beim Glotzen der erotischen Sendungen spät abends.

 

Ach ja, wir hatten noch ne neue Lehrerin bekommen, für Litauisch. Irgendwie zum Lachen. Fragte, ob wir zu Hause lesen. Ich bejahte. Sie fragte, was denn. Zeitungen, sagte ich. Sie lächelte. Zeitungen sind gut, sagte sie, aber die habe ich nicht gemeint. Ich kapierte nicht, warum Zeitungen nicht gemeint waren. Bücher sollten wir lesen, sagte sie.

»Und was bringt mir denn das Bücherlesen? Wenn ich den vor fast anderthalb Jahrhunderten geschriebenen Hain von Anykščiai lese, erfahre ich dann was? Lerne ich was dabei?«

»Und was hast du von diesen Zeitungen? In einem Jahr wirst du alles vergessen haben«, entgegnete die Lehrerin.

Na ja, ich weiß ja nicht, aber das Foto der Popsängerin Džordana in unserer Regionalzeitung Šiaulių kraštas wird mir noch lange nicht ausm Kopf gehen. Darauf steht sie da, die Hände vorm Bauch verschränkt, fast wie Sabrina, nur dass die größere Titten hat. Nur in Jeans und BH mit so Spitzen verziert. Die Haare wehend, die Lippen … Klar sagte ich nix davon.

»Die Nachrichten, das Neueste, man weiß, was auf der Welt passiert …«

»Das Lesen lässt den Menschen begreifen, wozu er lebt, und nicht, was rundherum geschieht.«

»Ist Ihnen das denn nicht klar? Mir schon.«

»Wozu denn?«

»Er lebt für sich selbst.«

Ehrlich gesagt zerbrach ich mir darüber nicht den Kopf.

»Das Lesen kann dabei helfen, die anderen zu verstehen, mit ihnen zu kommunizieren.«

»Mir ist auch so alles klar. Ich habe irgendwie keine Probleme mit der Kommunikation.«

Ganz im Ernst. Weder mit den Typen ausm Zentrum, den Punks und so, noch mit den Ukrainern und auch nicht mit den Kunden aufm Markt in Riga kam es je zu Missverständnissen. In Riga gab es auch gar nix zu erklären, über den Preis einigten wir uns immer irgendwie, dachte ich bei mir.

»Das Bücherlesen erweitert euren Horizont, ihr werdet etwas finden, was euch sonst nicht einmal im Traum einfiele und das euch Freude bereitet.«

Was, du armes Geschöpf, sollte uns denn daran Freude bereiten, das würde mich echt mal interessieren. Ich weiß, woran ich mich erfreuen will. Das läuft alles auf MTV, RTL und den anderen normalen Sendern.

»Das Lesen bringt uns zum Lachen, hebt die Stimmung«, fuhr sie fort. Wie ausm Buch.

»Meinen Sie damit vielleicht den Hain von Anykščiai? Was meinen Sie, welche Note Sie mir geben, wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich beim Lesen dieses Buches laut lache?«

»Wenn du mir erklären würdest, warum du dabei lachst, eine Eins. Und eine weitere Eins für zehn gelesene Bücher. Du legst mir die Liste vor, ich stelle dir die eine oder andere Frage zu diesen Büchern und schon hast du eine Eins.«

Das gefiel mir. Das war konkret. Vielleicht gar keine so üble Paukerin. N paar Broschüren durchblättern und basta. Wie lange konnte das schon dauern.

»In Ordnung«, sagte ich. »Und welche Bücher machen denn gute Laune?«

»Versuche es doch mit Erlickas«, sagte die Lehrerin so, dass es fast nach einer Verschwörung zwischen uns klang.

»Also gut, ich versuchs.«

Eigentlich hatte ich jeden Tag Training und kaum Zeit, mir das Hirn zu verrenken. Man nahm mich schon mit zu den Männern, also spielte ich jetzt in drei Altersgruppen. Haufenweise Training und Spiele. Mutter sagte ich, dass ich zum Deutschlernen zu nem Kumpel aus der Schule gehe. Um für die Erwachsenen zu spielen, brauchte ich das Einverständnis meiner Eltern. Ich brachte dem Trainer diesen Wisch, natürlich selbstfabriziert. Mir wäre nicht mal im Traum eingefallen, Mutter darum zu bitten, denn sie hätte ihn garantiert nicht unterschrieben und meine außerschulischen Aktivitäten unter die Lupe genommen.

Meine Mum wäre nie im Leben damit einverstanden, dass ich mit den Erwachsenen Rugby spiele. Sie war fest davon überzeugt, dass es nix weiter als ne Schlägerei ist. Ich kann sie ja verstehen, auch ich dachte einst ähnlich, als ich noch keinen Ball in die Hand genommen hatte: Die schlagen, treten, kratzen, aber da heil rauszukommen – vergiss es! Genau so dachte auch ich, bis ich noch als Kind mein erstes Training im Žaliūkiai-Stadion beobachtete. Aus dem Gebüsch, weil ich nicht wusste, dass sie Gaffer wie mich ungeschoren ziehen lassen.

Für Mutter war jeder blaue Fleck gleich dem Ende der Welt. Deshalb folgte ich ihrem Wunsch und ging in der Grundschule zum Tanzen. Aber das Einzige, woran ich mich noch erinnere, ist die Angst, den Fuß nicht richtig hinzustellen, als Tollpatsch dazustehen oder mitm falschen Hemd zum Auftritt zu erscheinen. An irgendeine Partnerin kann ich mich nicht erinnern. Dafür aber daran, dass die Tanzlehrerin mir einmal ne Watsche verpasste, weil ich n paarmal gefehlt hatte. Sie übten im Sommer für irgendwas, während ich aufm Land war. Was hätte ich Schnösel den Eltern denn sagen sollen – ich fahre nicht aufs Land, ich habe Tanzen? Genau diese Ohrfeige veränderte meine Sicht auf blaue Flecken und Ähnliches.

Erst trainierte ich Basketball, später in allen möglichen Muckibuden im Südviertel, in Judoklubs im Keller, aber schließlich kristallisierten sich zwei Varianten heraus: Rugby oder Boxen.

Ich sah mir nämlich manchmal Boxkämpfe an – im kleinen Saal unterm Bahnviadukt. Und Rugby spielte mein Nachbar, mit dem ging ich dann hin. Der Trainer erklärte mir die Regeln und los gings. Alle auf einem Haufen, alle rauften sich um den Ball, ich zerrte sie auf meine Seite. Es war Winter, deshalb fand das Training in der Basketballhalle statt. Ich schleifte Haufen und Ball durch die halbe Halle, der Trainer hielt das Spiel an, sagte, weißte, du hast alle auf deine Seite gezerrt, dabei musste sie auf die gegnerische Seite schieben. Das ist die wichtigste Regel. Seither dränge ich alle auf ihre Seite, bis zur Mallinie.

Man nahm mich direkt ins Team auf. N Haufen Matches und Turniere, und wir gewannen irgendwie immer. Na ja, fast immer. Wenn du aus den Kellern der Muckibuden und Judoklubs kommst, dann schnappste hier echt frische Luft. Und ich spielte nicht nur, es sah fast so aus, als würde ich zu den Stützen des Teams gehören.

Ein interessantes Gefühl. Ich hattes sofort drauf, man hätte glauben können, ich hätte schon immer Rugby gespielt. Aber das war was total anderes als Basketball, wo du Jordan nachmachst und unterm Korb hindurchfliegst, um den Ball von der anderen Seite zu versenken, oder wie Kurtinaitis nen Dreier zu werfen versuchst. Im TV kam kein Rugby, so konnte ich nur den Männern von Vairas beim Spielen zusehen. Wir trainierten in allen möglichen Stadien, aber die erinnerten eher an Wildschweingehege. Trampelpfade mitten übern Platz. In die normalen Stadien ließ man nicht mal die Männer. Mag sein, dass ich n einziges Mal n Spiel der Nationalmannschaft im Zentralstadion bei der Manege gesehen habe.

Wir trainierten und spielten mit Gummiturnschuhen, denn normale Kickerschuhe gab es nur für die Älteren, und selbst wenn du Geld wie Heu hast, suchste in den Sportgeschäften vergeblich nach Rugbyschuhen, denn in Litauen existierte dieser Sport kaum. Oder nur in Šiauliai. Als mir jemand fürn wichtiges Match echte Stollenschuhe borgte, da schien es mir, als würde ich wie n Panzer übern Platz rollen. Keine Angst, dass jemand dir auf die Füße tritt oder vor was auch immer – du schiebst alle glatt, ohne dich abzustoßen, vor dir her, und niemand in Turnschuhen holt dich ein.

Erst viel später lernte ich die Regeln und noch später hörte ich sagen, Rugby ist n Spiel für Rowdys, das von Gentlemen gespielt wird, während Fußball n Spiel für Gentlemen sei, das von Rowdys gespielt wird. Wir waren vielleicht keine Gentlemen, aber jeder wusste, dass es unter aller Sau ist, den sterbenden Schwan zu spielen, wenn dich jemand n bisschen geschubst hat. Nicht wie beim Fußball. Aber wie sollte ich das meiner Mum verklickern? Sie wusste hundertpro, dass wir uns beim Rugby prügelten. Ich hatte sie zwar schon mehrmals zu nem Spiel eingeladen, aber sie hatte Angst. Ja, sie hatte Schiss, und ich konnte ihr nicht erklären, wies wirklich war, also fälschte ich den Wisch, denn derjenige, der ihn hätte unterschreiben sollen, hatte keinen blassen Dunst von dem, was dort stand. Ich hielt das für ehrlich und fühlte mich keineswegs so, als würde ich jemanden betrügen.

Einige von den Älteren hatten Satellit zu Hause und erzählten manchmal von Spielen in England oder Neuseeland. Erst vor kurzem hatte mir jemand zum ersten Mal von Lomu erzählt, und schon an seinen Augen war abzulesen, dass er der beste Spieler der Welt war. Lomu. Ich sagte zu mir, dem würde ich eines Tages übern Weg laufen. Mir reichte, dass irgendwo einer wie n Gott Rugby spielte, und ich wusste, dass ich diese Wunderwelt sehen musste. Ab nach England und zusehen, wie sie dort fighten. Oder warten, bis Neuseeland in Europa spielte. Ich hatte zwar keine Peilung, was die Reise kosten würde, aber ich begann Rap zu hören und versuchte n wenig Englisch zu lernen. Fürn Moment aber musste ich unbedingt n Paar anständige Stollenschuhe auftreiben. Und nen eigenen Ball, um aufm Hof Tag und Nacht zu kicken … Aber wovon labere ich da überhaupt – mir fehlte es nicht nur am nötigen Kleingeld, ich wusste ja nicht mal, wo ich die kaufen sollte. Hier gab es so was ganz sicher nicht in den Sportgeschäften. Ich musste Dad bitten, mir welche aus Deutschland mitzubringen oder so.

Natürlich gab es unter uns nicht gerade viele Gentlemen, aber das Wichtigste war, aus eigener Kraft zu gewinnen und nicht durch Schauspielern und mit tatkräftiger Mithilfe des Schiris. Es kam vor, dass irgendn Schlaukopf einem am Boden Liegenden mitm Schuh aufn Kopf zu treten versuchte, wenn der Schiri es nicht sah, aber unsere Latschen hatten Gummisohlen. Echte, harte Sohlen mit Stollen, das war n Fest, aber der Trainer brachte nur für die Besten welche ausm Ausland mit. Deshalb war Maloche angesagt, keine Zeit mehr für Plakate, die verkauften sich eh nur schleppend, denn alle hielten Fressalien und Klamotten für wichtiger.

Wie Ostern und Weihnachten zugleich aber war, als wir erfuhren, dass die Herrenmannschaft bald zu nem Turnier nach Polen reisen würde. Also noch mehr ackern und sich noch weniger den Kopf zerbrechen. Nach der Ukraine das erste halb normale Ausland. Lettland zählte nicht. Nicht nur Sightseeing wäre angesagt, ich könnte auch aufm Markt was verscherbeln, meine Finanzen aufpeppen. Und auch die Eltern hätten was davon: Sie könnten vor ihren Freunden damit angeben, dass ihr Sohn n spitze Rugbyspieler ist und ins Ausland fährt.