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Meine Großmutter ist vor über zehn Jahren gestorben, nach einem langen, bis ins hohe Alter erfüllten Leben. Ich bin sehr dankbar dafür, dass sie lange genug gelebt hat, um meinen Erfolg mitzubekommen und an ihm teilzuhaben. Einmal ist sie sogar extra nach New York geflogen, um mich am Broadway bei Les Misérables spielen zu sehen. Und dabei flog sie alles andere als gern! Sie erzählte mir einmal, dass sie furchtbare Angst vorm Fliegen habe, und zwar seit dem Tag, als sie nach Abschluss ihres Studiums in Boston nach Puerto Rico zurückflog. Während des Fluges gab es offenbar einen Gewittersturm, und das Flugzeug wurde heftig durchgeschüttelt. Sie hat geschworen, von diesem Tag an nie wieder in ein Flugzeug zu steigen! Und dabei blieb sie auch. Sie reiste nur noch per Schiff, und jener Flug nach New York war die einzige Ausnahme.

Es macht mich traurig, dass ich sie in ihren letzten Lebensjahren nicht öfters sehen konnte. Ich war immer beschäftigt, immer unterwegs und in Eile, und hatte nie Zeit für die wirklich wichtigen Dinge. Zwar habe ich zwischendurch immer mal wieder eine Stippvisite bei ihr gemacht, doch ich konnte nie für mehrere Tage oder Wochen bei ihr bleiben, so wie in meiner Kindheit. Ich erinnere mich, wie ich sie einmal in Begleitung einer Polizeieskorte besuchte. Als ich mit der Sicherheitseinheit an ihrem Haus ankam, rief ich: »Oma, ich komme dich besuchen!«

»O mein Junge!«, sagte sie. »Wie schön!«

Aber ich musste mich sogleich korrigieren: »Ich komme dich besuchen, Oma, aber ich kann nicht lange bleiben. Ich muss bald wieder gehen.« Wie stets gab sie mir in keiner Weise das Gefühl, wegen meines frühzeitigen Aufbruchs ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Sie bedankte sich für meinen Besuch und umarmte mich herzlich.

»Okay«, sagte sie, »es war wirklich schön, dich zu sehen. Musst mehr essen, Junge, du bist zu dünn.«

So war sie, meine Großmutter.

Ein anderes Mal, als ich geschäftlich in Puerto Rico unterwegs war, ließ ich einen Hubschrauber auf dem Baseballfeld ihres Wohnviertels landen, um sie zu sehen. Es war die einzige Möglichkeit für mich, denn ich hatte partout keine Zeit. Während wir quer über die Insel flogen, sagte ich plötzlich zum Piloten: »Ich muss meine Großmutter sehen. Landen Sie auf dem Baseballfeld da unten!«

Und so konnte ich wieder einmal ein paar Minuten mit ihr verbringen.

Großmütter sind etwas ganz Besonderes. Noch heute ist mir all das, was sie mir beigebracht hat, von großem Nutzen. Eine der schönsten Erinnerungen an meine Großmutter ist die, wie wir beide dasitzen und ich meine Hausaufgaben mache, während sie malt oder an einem ihrer Projekte arbeitet. Oft denke ich an ihre klugen Worte und Ratschläge, und es kommt mir vor, als würde ich meine Großmutter in gewisser Weise in mir tragen. Es ist solch ein Segen, sie so nahe zu spüren.

Es bereitet mir Kummer, dass meine Kinder ihre Urgroßmutter nicht mehr kennengelernt haben. Es gibt so vieles, was meine Kinder über sie wissen sollten. Doch so viel ich auch über sie erzählen mag, ich spüre, dass ich es ihnen nicht wirklich vermitteln kann. Zum Beispiel hat sie mir und meinen Cousins und Cousinen früher immer ein wunderschönes Schlaflied vorgesungen. Ich schließe oft die Augen und versuche, mich an das Lied zu erinnern. Doch es gelingt mir einfach nicht. Das frustriert mich sehr. Ich kann mich genau an den Klang ihrer Stimme und ihren Gesichtsausdruck beim Singen erinnern, aber der Text und die Melodie des Liedes fallen mir nicht mehr ein, so sehr ich mich auch bemühe. Deshalb bete ich, dass mir das Lied eines Tages im Traum wieder zufliegen möge: »Lieber Gott, liebe Oma, wo immer ihr auch seid, bitte macht, dass mir das Lied wieder einfällt. Ich möchte es meinen Kindern vorsingen.«

Bisher hat es noch nicht geklappt, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Ich glaube an ein Leben nach dem Tod. Und ich weiß, dass meine Großmutter mit einem Lächeln auf dem Gesicht auf mich herabblickt, weil sie sieht, dass ihr erster Enkelsohn mit derselben Zielstrebigkeit, die sie einst besaß, durchs Leben geht und jener starke und unabhängige Mann ist, zu dem sie mich erzogen hat.

Ein Vorgeschmack auf den Ruhm

Zu Beginn meiner Musikkarriere unterstützte mich meine Familie voll und ganz. Alle konnten schließlich erkennen, dass die Musik für mich mehr war als nur ein Hobby. Als sie sahen, mit welcher Leidenschaft ich die Sache betrieb, spornten sie mich an, weiterzumachen. Allein das gab mir unheimlich viel Kraft. Dass sie an mich glaubten, gab mir Sicherheit und stärkte mein Selbstvertrauen. Und so waren sie nicht überrascht, als ich im Alter von neun Jahren begann, in Puerto Rico in Fernsehwerbespots aufzutreten.

Eines Tages stand nämlich in der Zeitung die Anzeige: »Agentur sucht Talent für TV-Werbespots.« Mein Vater las die Annonce und fragte mich, was ich davon halte. Ich fand es eine großartige Idee und antwortete: »Lass es uns machen, Papi, lass uns hingehen!« Und so gingen wir an jenem Samstag zum Vorsprechen. Bei diesem ersten Termin ging es nur darum, ob ich für den Chef der Agentur überhaupt in Frage kam. Beim nächsten Vorsprechen erst ging es dann konkret um die Werbespots. Sie stellten mich vor eine Kamera, fragten mich nach meinem Namen und Alter sowie meiner Schule. Ehrlich gesagt, ich habe vergessen, was sie sonst noch wissen wollten. Wahrscheinlich ließen sie mich etwas vorsprechen oder vorlesen. Vielleicht eine kleine Szene, das Übliche eben, was man bei einem Casting so machen muss. Ich kann mich jedoch noch gut daran erinnern, dass ich mich unheimlich sicher fühlte. Ich war kein bisschen nervös. Nach dem Vorsprechen ging ich nach Hause. Und nur wenige Tage später erhielt ich einen Anruf und bekam die Zusage.

In meinem ersten Werbespot ging es um einen Softdrink. Der Dreh dauerte vier Tage. Vier intensive Tage, von sechs Uhr morgens bis zum späten Nachmittag. Leider bekam ich den Spot nie zu sehen, da er für das amerikanische Latino-Publikum sowie Mexiko bestimmt war. Aber ich weiß noch, dass sie mir am Schluss 1300 Dollar zahlten. Und das war nicht alles: Alle sechs Monate sollte ich einen weiteren Scheck über 900 Dollar (Tantiemen) erhalten. Es war ein fantastischer Job! Ich konnte etwas tun, das mir richtig Spaß machte, und wurde auch noch gut dafür bezahlt. Etwas Besseres hätte ich mir nicht vorstellen können. Eine ganz neue Welt hatte sich mir eröffnet.

Viele weitere Spots folgten, etwa für eine Zahnpasta oder ein Fast-Food-Restaurant. Aus einem Spot ergab sich der nächste und daraus der übernächste und so weiter. Als ich erst einmal den Einstig in dieses Business geschafft hatte, lief es wie am Schnürchen. Nach anderthalb Jahren hatte ich bereits elf Spots gedreht. Ich weiß es deshalb so genau, weil mein Vater alles exakt dokumentiert hat. Es ist so lange her, dass ich mich sonst bestimmt nicht mehr an alle erinnern könnte. Ich war sehr erfolgreich mit meinen Spots und verschaffte mir rasch Anerkennung in der Branche. Da ich mittlerweile einige Erfahrung hatte und es liebte, vor der Kamera zu stehen, engagierten mich die Produzenten gerne. Dadurch wuchs mein Selbstbewusstsein noch mehr, und zugleich konnte ich weitere Erfahrungen sammeln.

Die Werbespots gaben mir einen Vorgeschmack auf den Ruhm. Wenn ich die Straße entlangging, hörte ich manchmal, wie jemand sagte: »Da ist der Junge aus diesem oder jenem Werbespot!« Oder: »Schau mal! Da ist der Junge aus der Softdrink-Werbung.« Ich fand es damals unheimlich toll, erkannt zu werden. Zu dieser Zeit gab es noch keine Fernbedienungen, und die Leute mussten die Werbespots wohl oder übel über sich ergehen lassen – anders als heute, wo wir bequem vom Sofa aus auf ein anderes Programm umschalten können. So erkannten mich mit jedem Spot immer mehr Leute. Und ich muss zugeben, dass mir das gefiel. Heute kann ich mich manchmal nicht einmal für kurze Zeit in Ruhe in einen Park setzen oder mit meinen Kumpels Poolbillard spielen. Irgendjemand erkennt mich immer. Das bedeutet, ich muss einige Dinge aufgeben, die für andere Menschen normal sind: im Restaurant essen, spazieren gehen, am Strand entlangschlendern und so weiter. Es ist keineswegs so, dass ich diese Dinge nicht gerne tue. Doch ich finde dabei nicht die ersehnte Ruhe. Ich mache es trotzdem, aber ich werde überall erkannt. Anonymität ist etwas, das ich oft vermisse. Ich verdanke dem Ruhm jedoch so viel Schönes, dass ich mich nicht beklagen möchte. Bekannt zu sein gehört nun einmal zu meinem Beruf, und deshalb genieße ich es. Die meisten Menschen sind sehr freundlich und respektieren mein Recht auf Privatsphäre. Ich freue mich immer, wenn mir jemand sagt, dass ich ihm oder ihr etwas bedeute, sei es, weil einer meiner Songs ihnen geholfen hat, die Liebe zu finden, oder weil ihnen ein Konzert von mir besonders gut gefallen hat. Solche Sachen sind mir sehr wichtig. Denn der Grund, warum ich diesen Beruf ausübe, ist folgender: Ich liebe es, den Menschen ein wenig Freude zu bereiten. Und dabei habe ich noch jede Menge Spaß!

Der Ruhm ist ein eigenartiges Phänomen. Du kannst unheimlich viel daraus machen. Es geht ja nicht nur darum, auf der Straße erkannt zu werden oder sich von Fotografen ablichten zu lassen. Ruhm ist auch ein Instrument: Wenn du ihn klug einsetzt, kannst du Millionen von Menschen erreichen und ihnen eine Botschaft vermitteln. Das sage ich mir immer wieder. Natürlich musst du für den Ruhm viele Opfer bringen – im Privatleben wie in beruflicher Hinsicht. Doch das Entscheidende ist, den Ruhm für die wirklich wichtigen Dinge zu nutzen.

Menudo

Mein Vater sagte einmal zu mir: »Ich verfluche den Tag, an dem du bei Menudo eingestiegen bist. An diesem Tag habe ich meinen Sohn verloren.«

Er hatte absolut Recht. In gewisser Weise hat er damals seinen Sohn verloren – und ich meinen Vater.

Zu diesem Zeitpunkt konnten wir natürlich nicht ahnen, was die Zukunft für uns bereithielt. Ich sah lediglich die unzähligen Möglichkeiten, die großartigen, völlig neuen Perspektiven, die sich mir eröffneten. Keiner kann vorhersagen, was geschieht, wenn man einen neuen Weg einschlägt.

 

Ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie lange ich brauchen würde, um mein Ziel, Künstler zu werden, zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nur, dass ich mir nichts sehnlicher wünschte. Ich hatte hart gearbeitet und war voller Ehrgeiz und Entschlossenheit. Auf der Bühne zu stehen, war mein Traum, und ich war bereit, alles zu tun, um ihn zu verwirklichen. Deshalb war ich geradezu besessen von Menudo und konnte an nichts anderes mehr denken. Im Alter von zehn bis zwölf Jahren konnte ich nachts vor Sehnsucht und Erregung kaum schlafen.

Mit meinem Einstieg bei Menudo wurde mein Traum Realität. Dieser Moment bestimmte den weiteren Verlauf meines Lebens.

Ich habe Menudo unglaublich viel zu verdanken: Erfahrungen und Emotionen, die mich zutiefst geprägt und einen besseren Menschen aus mir gemacht haben. Was ich dafür opfern musste, war meine Kindheit. Aber nicht nur durch die positiven Erlebnisse, sondern auch angesichts dessen, was ich verlor, gewann ich Erkenntnisse von unschätzbarem Wert. Ebenso wenig, wie ich auch nur eine einzige der schönen Erinnerungen an diese Jahre missen will, möchte ich die schwierigen Zeiten, die ich durchgemacht habe, vergessen. Denn diese haben mich abgehärtet. Und erst durch sie erlangte ich die Fähigkeit, die guten Zeiten bewusst zu genießen. So ist es doch im Leben: Ohne das Schlechte wüssten wir das Gute gar nicht zu schätzen.

Als ich klein war, sagte meine Mutter immer zu mir: »Mein Sohn, in diesem Leben ist alles möglich. Du musst nur wissen, wie du es anstellst.« Meine Mutter kennt mich sehr gut und wusste, dass ich schon damals das Maximum wollte. Und das Größte – das war zu dieser Zeit Menudo.

Ich trieb meinen Vater schier in den Wahnsinn, als ich ihn ständig bat, mich zum Vorsingen zu fahren. Ich flehte ihn an: »Fahr mich hin! Fahr mich hin! Bitte fahr mich hin!« Ich versuchte mit allen Mitteln, ihn dazu zu bringen, und nervte ihn so sehr, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn er mich schließlich die Klippen hinabgestürzt hätte. Irgendwann sagte er dann: »Na gut, gehen wir.«

Ich war überglücklich.

Das war im Jahr 1983. Heute ist es schwer zu verstehen, welche Rolle Menudo damals spielte. Fest steht jedoch, dass die Band völlig anders war als alles, was es in der Musikszene sonst so gab. Ich würde sogar behaupten, dass Menudo bis zum heutigen Tag ein einzigartiges Kapitel in der Musikgeschichte darstellt. Bevor Bands wie New Edition, The Backstreet Boys, New Kids on the Block, ’N Sync oder Boyz II Men auftauchten, gab es Menudo – die erste lateinamerikanische Boygroup, die internationalen Ruhm erlangte. Die Band war so erfolgreich, dass man von »Menudomania« und »Menuditis« sprach. Es gab sogar Vergleiche mit den Beatles und der Beatlemania.

Menudo erblickte das Licht der Welt, als der Produzent Edgardo Díaz eine Gruppe aus fünf Jungs, alle Puerto Ricaner, zusammenstellte. Das Besondere an Menudo, das die Band unverwechselbar machte und meiner Meinung nach deren lang anhaltenden Ruhm begründete, war der Umstand, dass die Bandbesetzung ständig wechselte. Die Idee bestand darin, dass jedes Mitglied nur bis zum sechzehnten Lebensjahr in der Band bleiben und seinen Platz dann einem Newcomer überlassen sollte. Auf diese Weise blieb die Band stets jung und bewahrte sich die Frische und Unschuld der Jugend. Ursprünglich bestand Menudo aus den drei Meléndez-Brüdern (Carlos, Ricky und Oscar) und den zwei Sallaberry-Brüdern (Fernando und Nefty). Im Jahr 1977 veröffentlichte die Band ihr Debütalbum, und von da an ging es mit ihrer Karriere steil bergauf. Innerhalb weniger Jahren füllten die Jungs Stadien in ganz Lateinamerika, und ihre Fotos zierten die Zeitungen in aller Welt, selbst in Asien. Menudo wurde zu einem internationalen Phänomen. Als die Plattenfirma RCA Wind davon bekam, bot sie ihnen einen Vertrag über mehrere Millionen Dollar an. Dadurch wurden sie noch berühmter und gewannen Millionen junger Fans überall in den USA sowie dem Rest der Welt. Einer der wichtigsten englischsprachigen US-Fernsehsender nutzte die Musik der Band sogar dazu, den Zuschauern Spanisch beizubringen.

Als kleiner Junge (Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre) war ich ein riesiger Fan von Menudo. Menudo war ein weltweites Phänomen. Eine absolute Sensation! War es daher verwunderlich, dass ich ein Mitglied der Band werden wollte – vor allem auch, da diese in meiner Heimat Puerto Rico ihre Wurzeln hatte? Ich kannte sämtliche Menudo-Songs auswendig, schließlich hatte ich sie schon gesungen, solange ich denken kann. Ich liebte das Singen so sehr, dass ich voller Zuversicht war und spürte, dass es gar nicht so unrealistisch war, Mitglied von Menudo zu werden. Also tat ich alles, um meinen Traum zu verwirklichen.

Aber wie alles im Leben, so war auch mein Einstieg bei Menudo von mancherlei Widersprüchen geprägt. Die Jungs von Menudo waren meine Idole, und ich wünschte mir sehnlichst, Mitglied der Band zu werden. Doch für die meisten Kids in meinem Alter war Menudo reine Mädchensache. Wir waren kulturell und gesellschaftlich darauf gepolt, dass es als unmännlich galt, gerne zu singen und zu tanzen. Folglich machte sich ein Junge wie ich, der es mit Leidenschaft tat, lächerlich. Wenn mich meine Schulkameraden fragten, warum ich bei Menudo einsteigen wolle, lautete meine Antwort deshalb stets: »Wegen den Mädchen, dem Geld und den Reisen.« Ich hätte ihnen die Wahrheit sagen sollen, nämlich dass ich es liebte, auf der Bühne zu singen und zu tanzen. Doch zweifellos hätten sie sich dann über mich lustig gemacht. Für Jungs schickte es sich nicht, Menudo zu »mögen«. Deshalb sagte ich auch weiterhin das, was man von mir erwartete, und wählte somit den Weg des geringsten Widerstandes. Diese Erfahrung hat mich ganz gewiss nicht traumatisiert, doch ich bedaure es heute sehr, dass ich damals nicht den Mut hatte, zu der Sache zu stehen.

Nachdem ich meinem Vater monatelang in den Ohren gelegen hatte, bekam ich also endlich meine Chance. Er fuhr mich zum Casting. Ich erinnere mich noch genau daran, dass ich auf der Fahrt dorthin völlig ruhig und gelassen war. Eine leichte Nervosität wäre sicherlich normal gewesen. Doch ich war total entspannt, weil ich wusste, dass ich überzeugen würde und die Jury keine andere Wahl hätte, als mich zu nehmen.

Und so geschah es dann auch – das heißt fast. Ich kam bei der Jury sehr gut an. Es gefiel ihnen, wie ich sang und tanzte. Allerdings gab es ein Problem: Ich war zu klein. Die anderen Jungs waren anderthalb Köpfe größer als ich, und die Produzenten wollten, dass alle Bandmitglieder ungefähr gleich groß waren. Doch statt mich von dieser Niederlage entmutigen zu lassen, war ich nun noch entschlossener als zuvor. Neun Monate später erschien ich erneut zum Casting. Wieder ohne Erfolg – ich war immer noch zu klein. Einmal schlugen sie vor, ich solle Basketball spielen, vielleicht würde ich dadurch größer! Irgendwie zynisch, oder?

Aber natürlich gab ich nicht auf. Ich probierte es weiter, und beim dritten Anlauf klappte es dann schließlich. Zwar war ich zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich viel größer als bei den ersten beiden Versuchen, doch aus welchem Grund auch immer, diesmal schienen sie sich an meiner Statur nicht zu stören. Vermutlich deshalb, weil sie merkten, wie wahnsinnig wichtig es mir war, in die Band zu kommen. »Sieht so aus, als würdest du nicht mehr weiter wachsen!«, meinten sie.

Noch am selben Tag erhielt ich einen Anruf und wurde zu einer weiteren Audition bei einer Assistentin des Bandmanagers bestellt. Ich ging also zu ihr nach Hause und sang ein paar Songs. Dann sagte sie zu mir: »Also, gehen wir ins Büro.« Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte, doch ich folgte ihr.

Im Büro der Band erlebte ich dann die erste große Überraschung, denn meine Eltern waren dort. Zuerst wunderte ich mich, warum sie gekommen waren, bis schließlich jemand die freudige Nachricht verkündete: »Du hast es geschafft! Du bist ein Mitglied von Menudo!« Ich war sprachlos. Natürlich freute ich mich riesig, doch zugleich konnte ich es gar nicht fassen. Sie gratulierten mir, und wir feierten meinen Erfolg. Aber was absolut unglaublich war: Sie teilten mir die frohe Botschaft um sieben Uhr abends mit, und um acht Uhr am nächsten Morgen saß ich bereits im Flugzeug nach Orlando, wo die Band ihren Sitz hatte. Gleich nach meiner Ankunft dort gab ich Interviews, traf mich mit Stylisten und wurde neu eingekleidet. In weniger als vierundzwanzig Stunden hatte sich mein Leben komplett geändert.

Ich ließ meine Familie zurück, meine Freunde, meine vertraute Umgebung. Diese schlagartige Veränderung hätte sich traumatisch auswirken können, doch ich fühlte mich wie im siebten Himmel. Ich spürte, dass ich mehr als genug Energie hatte für all das, was auf mich zukommen würde. Innerhalb von zehn Tagen musste ich beispielsweise achtzehn Tanzchoreographien erlernen. Und darauf bin ich mächtig stolz, schließlich brauchten einige Leute vier ganze Tage nur für eine einzige. Es war eine sehr intensive Zeit und bedeutete eine große Herausforderung. Doch ich war so glücklich, dass ich das Gefühl hatte, Bäume ausreißen zu können.

Gerade einmal einen Monat nach meinem Einstieg bei der Band gab ich mein Debüt im Luis A. Ferré Center for Fine Arts in San Juan, Puerto Rico. Ricky Meléndez (das letzte Mitglied der ursprünglichen Besetzung) verließ zu diesem Zeitpunkt die Band. Deshalb kam ihm auch die Aufgabe zu, mich an diesem Abend vorzustellen. Das war etwas ganz Besonderes für mich. Nach der Vorstellung durfte ich allein mitten auf der Bühne singen, während die anderen Bandmitglieder hinter mir auf einer Treppe saßen. Es war ein großartiger Moment. Ich war kein bisschen nervös. Im Gegenteil! Ich nahm das Mikrofon und begann zu singen. Dabei lief ich von einer Seite der Bühne zur anderen und bewegte mich im Rhythmus der Musik. Ich war sehr zufrieden mit meiner Performance, vor allem als das Publikum danach stürmisch applaudierte. Es war ein fantastisches Gefühl, und ich spürte, dass ich von nun an definitiv nichts anderes mehr machen wollte als singen und tanzen.

Doch an jenem Abend bekam ich auch zu spüren, was für eine Disziplin bei Menudo herrschte. Als ich nach meiner Performance von der Bühne ging, erwartete mich der Bandmanager im Backstage-Bereich. Ich war noch ganz berauscht von dem tosenden Applaus, da kam er mir entgegen und fuhr mich an: »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst in der Mitte der Bühne bleiben?!«

Er hatte Recht. Ich hatte diese Anweisung wegen der Beleuchtung erhalten, doch im Eifer des Gefechts gar nicht mehr daran gedacht. Ich hätte an einer bestimmten Stelle performen sollen, damit die Jungs vom Beleuchtungsteam ihre Scheinwerfer ständig auf mich richten konnten. Wahrscheinlich verzweifelten sie schier bei dem Versuch, mir mit den Scheinwerfern über die Bühne zu folgen!

Um diesen Fehler wurde so viel Aufhebens gemacht, dass ich mich von da an auf der Bühne nur noch bewegte, wenn es ausdrücklich von mir verlangt wurde. Ich hatte meine Lektion gelernt und würde in den folgenden Jahren noch viele weitere lernen. Bei Menudo galt die Regel: Entweder du fügst dich den Anweisungen, oder du bist draußen. So einfach war das.

Das schöne Leben

Ich hatte sehr hart gearbeitet, um in die Band zu kommen. Aus diesem Grund war ich fest entschlossen, nichts zu tun – oder zu unterlassen –, was mich meinen Platz in der Gruppe kosten konnte. Menudo war nicht nur eine völlig neue Welt für mich, es war eine neue Galaxie! Für unsere Reisen hatten wir einen Privatjet – einen Jumbo 737! Und in den Städten, wo wir auftraten, hatten wir nicht nur eine Hotelsuite oder auch ein ganzes Stockwerk zu unserer Verfügung, sondern das ganze Hotel war für uns reserviert! Manchmal war eine komplette, mit Flipperautomaten und Videospielen äußerst großzügig ausgestattete Etage nur für unsere Unterhaltung bestimmt. Wir lebten in unserem eigenen Disney World – der größte Traum eines jeden Kindes. Wir hatten so viel Spaß! Jeder Tag war ein neues Abenteuer, und ich liebte jede einzelne Sekunde. Wir arbeiteten unheimlich hart, doch wenn dann einmal Entspannung angesagt war, wurden wir wie Könige behandelt.

Ein anderer Grund, warum ich Menudo so liebte, war der, dass die Band wie eine große Familie war. In unserer Freizeit alberten wir herum, quatschten – und zofften uns auch gelegentlich, wie fünf Brüder. Für mich als Jüngster und Kleinster waren die anderen Bandmitglieder wie ältere Brüder. Wenn wir uns in einer Menschenmenge befanden und die Fans uns vor lauter Euphorie schier niedertrampelten, hatten die anderen Jungs inmitten des wahnsinnigen Getümmels ein Auge auf mich. Dadurch fühlte ich mich als jemand ganz Besonderes.

 

Wir tourten durch die ganze Welt, hatten Gigs in Japan, auf den Philippinen, in Europa und Südamerika. Und zum ersten Mal in der Geschichte der Band machten wir auch eine Tour durch die USA. Im Rahmen dieser Tournee hatten wir auch vierundzwanzig Shows in der Radio City Music Hall in New York. Es war der absolute Hammer zu sehen, wie Abertausende von Menschen den gesamten Verkehr auf der 6th Avenue vor der Halle sowie um den ganzen Block herum zum Erliegen brachten. Von der Garderobe aus blickten wir auf ein riesiges Meer von Menschen hinab. Hunderte von Polizisten mussten an der 63rd Street und an der Ecke Lexington Avenue, wo sich unser Hotel befand, eine menschliche Absperrung bilden.

Unsere Fans waren außer Rand und Band. Sie machten vor nichts Halt. Als wir ein anderes Mal in Argentinien auftraten, tummelten sich vor unserem Hotel mindestens fünftausend Mädchen, mit Buttons, Fotos, Fahnen und all dem anderen Menudo-Zeug. Die Mädchen schrien und kreischten jedes Mal, wenn wir uns an den Fenstern zeigten. Wir brauchten nur einen Arm aus dem Fenster zu halten, und schon brachen sie in Hysterie aus. Sie sangen unsere Songs und bildeten Sprechchöre, so wie man es aus Fußballstadien kennt. Später tauchten dann ein paar Jungs auf. Vermutlich ärgerten sie sich darüber, dass Menudo so viel Aufmerksamkeit von den Mädchen bekam. Sie bildeten eigene Sprechchöre, mit denen sie uns beleidigten und beschimpften. Plötzlich ging einer der Jungs auf die Mädchenschar zu und versuchte, die puerto-ricanische Fahne herunterzureißen. Das hätte er lieber nicht tun sollen! Denn die Mädchen verprügelten ihn derart, dass er es fast nicht überlebt hätte.

Solche Dinge widerfuhren uns ständig – absolut crazy!

Die Veränderung war schon ziemlich krass. Vor meiner Zeit bei Menudo hatte ich in Puerto Rico ein einfaches Leben geführt, umgeben von meiner Familie und meinen Freunden. Ich war damals kaum je aus meinem Wohnviertel herausgekommen. Dann wurde ich quasi über Nacht in eine Welt des Ruhms, des Luxus und der Vergötterung durch die Fans katapultiert. Aus mir, dem von meinen Eltern und Großeltern innig geliebten Jungen, war ein internationaler Star geworden, der durch die ganze Welt reiste und auf einigen der wichtigsten Bühnen des Planeten auftrat. Natürlich gab es immer wieder Momente, in denen ich mich verloren fühlte und mir gewünscht hätte, dass meine Mutter oder mein Vater da wären, um mich zu trösten. Während meiner ganzen Zeit bei Menudo waren sie immer besorgt um mich. Wir telefonierten häufig, aber das reichte oft nicht aus. Ich weiß zum Beispiel noch, dass ich während einer Brasilien-Tour eines Nachts meine Mutter anrief und sagte: »Mami, ich kann nicht mehr. Ich bin fix und fertig. Ich will heim.«

Meine Mutter tröstete mich so gut sie konnte und meinte: »Mein Sohn, wenn du das wirklich willst, mach dir keine Sorgen. Wir sprechen morgen mit den Anwälten und sorgen dafür, dass du nach Hause kommen kannst.« Aber sogleich fügte sie hinzu: »Jetzt ist es zu spät dafür, aber wenn du willst, rufe ich den Anwalt gleich morgen früh an.«

Nach dem Gespräch mit ihr beruhigte ich mich und fiel in einen erholsamen Schlaf. Und am nächsten Morgen hatte ich völlig vergessen, warum ich am Vorabend so verzweifelt gewesen war. Ich rief in aller Frühe meine Mutter an und sagte: »Mami, es geht mir wieder gut! Mach dir keine Sorgen. Du brauchst die Anwälte nicht anzurufen. Es ist alles in Ordnung.«

Durch die Reaktion meiner Mutter fühlte ich mich gleich viel besser. Hätte ich mich zu diesem Zeitpunkt tatsächlich entschieden, aus der Band auszusteigen, wäre das eine ziemlich komplizierte Angelegenheit gewesen. Wahrscheinlich wäre ich wegen Vertragsbruch verklagt worden, und die Nachricht hätte sich wie ein Lauffeuer in den Medien verbreitet. Die Leute hätten mir alle möglichen Fragen gestellt, und es hätte Gerüchte darüber gegeben, warum ein Bandmitglied die Gruppe zu einem Zeitpunkt verließ, wo doch alles anscheinend perfekt lief. Heute ist mir klar, dass ich mir mit einem vorzeitigen Ausstieg aus der Band riesige Probleme eingehandelt hätte. Doch trotz der möglichen Konsequenzen war meine Mutter bereit, die Sache in die Hand zu nehmen. Ihr war nur wichtig, dass ich nicht mehr so niedergeschlagen war wie in jener Nacht am Telefon.

Ich machte also weiter. Ebenso wie alle anderen Menschen, die morgens aufstehen und zur Arbeit gehen müssen, hatte auch ich Augenblicke der Erschöpfung und der Angst. Doch die Euphorie, die mich permanent umgab, war ein ständiger Ansporn für mich. Ich spürte, dass etwas Außergewöhnliches mit mir geschah. Und deshalb wollte ich trotz gelegentlicher Krisen nichts von alldem missen.

Kontakt zu anderen Kids

Meiner harten Arbeit verdanke ich es, dass ich viele großartige Erfahrungen machen konnte und viele großartige Menschen kennengelernt habe. Dieser Zusammenhang wurde mir besonders deutlich bewusst, als wir UNICEF-Botschafter wurden. Die Bandmanager wollten unsere Reisen in die ganze Welt optimal nutzen. Deshalb luden wir in unserer Funktion als Botschafter unterprivilegierte Kinder, deren Realität eine völlig andere war als unsere, zu unseren Shows ein. Oft waren es Waisen oder Kinder, die auf der Straße lebten und schon sehr früh in ihrem Leben großes Leid erfahren mussten.

Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt fand unser »kleinstes« Konzert vor rund 70 000 Zuhörern statt. Zugleich stellten wir bei unserem Auftritt im Morumbi-Stadion in São Paulo mit 200 000 Besuchern einen Weltrekord auf. Doch sobald wir dann Zeit mit diesen Kindern verbrachten, um ein wenig Freude in ihr Leben zu bringen, existierte der ganze Glamour – Privatjets, Luxushotels, Privatköche, eigene Bodyguards, Privatlehrer, Assistenten und so weiter – gar nicht mehr. Die Organisatoren sagten damals zu uns: »Hört mal zu! Ihr werdet jetzt Kinder kennenlernen, die nicht weniger wert sind als ihr. Nur führen sie ein völlig anderes Leben.« Die Chance, mit diesen Kindern zusammen zu sein, empfinde ich als eine der wertvollsten Erfahrungen überhaupt, die ich Menudo zu verdanken habe. Ich lernte, das Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten und Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Diese Lektion ist für einen Heranwachsenden, der von Reichtum und Luxus umgeben ist, von größter Bedeutung.

Mir wurde damals klar, wie viele Kinder vor allem die Schattenseiten des Lebens kannten. Das war nicht einfach für mich. Es war wohl so etwas wie ein Realitätsschock, doch die Erfahrung hat mir sehr viel gegeben. Es war auch deshalb etwas Besonderes, weil ich der Jüngste in der Band war – ich war damals zwölf. Das zweitjüngste Bandmitglied war vierzehn Jahre alt. Es ist ein großer Unterschied, ob man zwölf oder vierzehn ist. Und fast alle Kinder, die wir zu unseren Shows einluden, waren so alt wie ich oder noch jünger. Deshalb gelang es mir innerhalb kürzester Zeit, eine besondere Beziehung zu ihnen aufzubauen. Sie hatten eine völlig andere Lebenserfahrung als ich, und so konnte ich unglaublich viel von ihnen lernen.

Es war nicht so, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam, weil es mir in materieller Hinsicht so viel besser ging als diesen Kindern. Im Gegenteil: Ich fühlte mich gut, weil ich etwas mit ihnen teilen konnte. Aber zugleich wurde mir bewusst, dass sie viele Dinge besaßen, die ich nicht hatte – zum Beispiel Freiheit. Alles im Leben ist relativ, und was für dich das Normalste der Welt ist, kann für einen anderen etwas sehr Wertvolles sein. Diese Kinder hatten trotz ihrer materiellen Armut die Freiheit, jederzeit dorthin gehen zu können, wo sie wollten. Und so sehr ich es auch genoss, auf der Bühne zu stehen und von den Fans umschwärmt zu werden, mir wurde damals klar, dass ich ein sehr streng geregeltes Leben führte. Ein typischer Tag begann für uns um acht Uhr morgens mit Schulunterricht. Vor dem Mittagessen mussten wir Platten signieren. Und am Nachmittag standen dann Fotoshootings, Proben und Interviews auf dem Programm. Diese Kinder dagegen konnten tun und lassen, was sie wollten, sie lebten schließlich auf der Straße. Zugegeben, diese Freiheit ist mit vielen Entbehrungen verbunden. Trotzdem wurde mir der Gegensatz zwischen uns damals voll bewusst: Ich selbst hatte, auch wenn ich nur eine Runde um den Block drehen wollte, jedes Mal um Erlaubnis zu fragen. Sie dagegen mussten zu niemandem hingehen. Wir wurden keinen Moment aus den Augen gelassen und mussten aus Sicherheitsgründen eine ganze Reihe von Regeln befolgen. Keine Frage: Ich hatte ein wunderbares, einzigartiges und glückliches Leben. Doch die absolute Freiheit dieser Kinder hatte in meinen Augen auch etwas für sich.