Zwischen Zeit und Ewigkeit

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Wie die Alltagsrealität uns begrenzt

So natürlich, notwendig und segensreich das Erschaffen einer gemeinsamen Alltagsrealität für das Überleben, für die Funktionalität, für die Verständigung und das Zusammenwirken ist, so bringt es gleichzeitig mehrere Schwierigkeiten mit sich, denn eine kollektive Deutung der Wirklichkeit birgt nicht nur Chancen, sondern beinhaltet auch Begrenzungen. Diese sind keineswegs individueller Natur, sondern betreffen jeden Menschen, da alle (gesunden) Menschen sich im Laufe ihres Lebens zunächst mit der Konsensustrance einer Alltagsrealität identifizieren.

Leider werden uns die Begrenzungen der Alltagsrealität und die damit einhergehenden Schwierigkeiten nicht vermittelt, sodass wir typischerweise zunächst denken, dass sie unser persönliches Problem sind, wenn wir darunter leiden. Hier könnte das Wissen um die verschiedenen Bewusstseinsebenen, so wie sie in diesem Buch dargestellt werden, sehr hilfreich sein. Wenn wir nämlich erkennen, dass eine Schwierigkeit nicht ­persönlicher Natur ist, sondern aus einer kollektiven Begrenzung entsteht, werden wir sie nicht mehr fälschlicherweise als persönliche Schwäche oder eigenes Versagen bewerten. So brauchen wir uns nicht mehr in Selbstzweifeln ergehen, sondern haben die Freiheit, uns auf eine kreative Weise mit der eigentlichen Begrenzung auseinanderzusetzen.

Selbstentfremdung

Was sind nun die wichtigsten Begrenzungen, die sich naturgemäß aus der Alltagsrealität ergeben? Erinnern wir uns noch mal an die Grundeigenschaften dieser gemeinsamen Wirklichkeit. Sie ist in erster Linie eine Welt der Abstraktion und der Beschreibung – also eine Gedankenwelt. Dadurch entstehen auf der einen Seite solide, »handhabbare«, von uns getrennte Objekte, aber gleichzeitig auch eine Welt der Trennung. Durch die Abstraktion, also das Heraustreten aus der unmittelbaren Erfahrung, erzeugen wir einen künstlichen Abstand zwischen uns als Subjekt und dem, was wir erfahren. Die Wirkung ist ganz automatisch ein Kontaktverlust. Die Unmittelbarkeit der Erfahrung geht verloren und die gedankliche Zuschreibung bestimmt unser Erleben.

Nur selten ist es uns als erwachsene Person vergönnt, dass das Wunder und die Schönheit eines Vogelgesangs oder die Kostbarkeit einer menschlichen Begegnung durch den Filter unserer Gedankenwelt dringt und uns zuinnerst ergreift. Dabei ist das Wunder und die Schönheit des Lebens in jedem Augenblick anwesend, aber das Gefangensein in der abstrakten Welt unserer Gedanken schottet uns davon ab. Ist es da ein Wunder, dass uns das Leben irgendwann flach und langweilig erscheint? Dass viele Menschen im Laufe ihres Lebens mit Selbstentfremdung und Sinnlosigkeit zu kämpfen haben?

All diese Gefühle sind ein folgerichtiger Ausdruck eines inneren Kontaktverlustes, der sich automatisch ergibt, wenn uns die Alltagsrealität bestimmt. Dabei können wir durchaus auf der Oberfläche unseres Lebens nach gängigen Maßstäben erfolgreich und »glücklich« sein. Trotzdem kann sich innerlich eine gähnende Leere breitmachen und sich zunehmend eine große Unzufriedenheit einstellen. Wenn uns eine solche Sinnkrise erfasst und längere Zeit in uns wirkt, wird dadurch viel Lebensenergie abgezogen und wir fühlen uns immer mehr beengt und erschöpft. Vielleicht versuchen wir zunächst, der Erschöpfung mit einem Urlaub oder mit einer Reise zu begegnen, oder wir suchen die Leere mit einem neuen Hobby zu füllen. Wenn das nichts hilft, kommt irgendwann der Moment, in dem wir unser ganzes Leben infrage stellen und nicht selten dabei bestehende Strukturen umwerfen und äußerlich völlig neue Weichen stellen.

Doch meist hilft auch diese Radikalkur nur kurzzeitig. Natürlich bewirkt eine Lebensveränderung wie eine neue Beziehung oder eine Berufsumstellung zunächst ein Aufbrechen der inneren Routine und damit wieder mehr Frische und unmittelbaren Kontakt. Aber die Wurzel der Problematik, aus der die Selbstentfremdung und die Sinnkrise entstanden sind, ist damit weder erkannt noch gelöst, sondern nur aufgeschoben.

Die eigentliche Ursache für unsere Sinnkrise liegt in einem zunehmenden Kontaktverlust, der sich aus unserem Verhaftetsein mit dem Reich der Gedanken ergibt. Solange wir nicht lernen, Gefühle wie Leere, Langeweile, Unzufriedenheit und Sinnlosigkeit als Symptome einer zu starken Dominanz der Alltagsrealität zu deuten und gleichzeitig das Wissen und die Fähigkeit haben, bewusst andere Realitätsebenen aufzusuchen, sind wir dieser Dynamik weiter ausgeliefert.

Gleichgültigkeit

Doch nicht nur eine schleichende Sinnkrise ist die Folge des inneren Kontaktverlustes und der damit einhergehenden Selbstentfremdung. Auch unsere natürliche Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl werden eingeschränkt. Je stärker wir in eine funktionale Welt eintauchen, desto weniger sind wir in Kontakt mit unseren Gefühlen und unserem Herzen. Wir spüren uns selbst nicht mehr richtig und genauso stumpfen wir auch gegen die Belange von anderen ab.

Die Folge ist eine innere Neutralität, in der wir bestens funktionieren und Ziele verfolgen können, bei der aber gleichzeitig unser Lebensgefühl abflacht und uns Situationen und Menschen nicht mehr tief berühren. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich diese scheinbare Neutralität als eine innere Gleichgültigkeit, die uns nach außen hin abschottet. Alles, was nicht unseren unmittelbaren Interessen dient, wird dabei aussortiert und geht uns folglich nichts mehr an.

Nur so lässt es sich erklären, wie es möglich ist, dass die Menschheit wider besseres Wissen weiterhin in unverantwortlicher Weise die Natur ausbeutet und damit viele Arten und sogar langfristig sich selbst bedroht. Oder wie lässt es sich sonst verstehen, dass unsere Gesellschaft oft so herzlos und gleichgültig mit der Not von Flüchtenden umgeht? Wie wenig sind wir doch bereit, unseren Reichtum zu teilen? Mit einem offenen Herzen, das interessiert am Schicksal anderer ist und empathisch mitschwingt, ist es nicht möglich, kühl und scheinbar sachlich kurzfristige Ziele und Eigeninteressen zu verfolgen, ohne dabei nach links und nach rechts zu schauen.

Wieder müssen wir uns vergegenwärtigen, dass diese Dynamik kein persönliches Problem Einzelner, sondern ein kollektives Geschehen ist. Der Kontaktverlust und die Funktionalität, die mit der Alltagsrealität einhergehen, entfremden uns grundsätzlich von einer fühlenden Aufmerksamkeit. Je stärker und je länger wir vom Funktionieren vereinnahmt sind, desto deutlicher machen sich Gefühle von Abflachung, Neutralität, Gleichgültigkeit, Desinteresse und innerer Verhärtung breit.

Natürlich hat der einzelne Mensch die Möglichkeit, aus dieser Dynamik auszusteigen und das Herz wieder über das Denken und Funktionieren zu stellen. Dies benötigt aber meist eine große Bewusstheit. Im Gegensatz dazu schleicht sich die kollektive Dynamik einer zunehmenden Identifizierung mit der Alltagsrealität und der damit einhergehenden Gleichgültigkeit von selbst immer wieder ein und legt fast unmerklich einen unsichtbaren Schleier der Fühllosigkeit und der Neutralität über unser Leben.

Kontrolle und Selbstüberschätzung

Eine weitere Schwierigkeit, die sich automatisch aus der Alltagsrealität ergibt, ist eine Ausrichtung auf Kontrolle. Wie bereits benannt, ist die Grundmotivation der Konsensusrealität auf Funktionalität ausgerichtet. Aus diesem Grund erschafft sie eine objekthafte Wirklichkeit, die wir oberflächlich immer besser handhaben können. Das erzeugt aber gleichzeitig das Gefühl, dass wir die Dinge im Griff haben. Wir verfallen immer mehr der Illusion von Kontrolle und erheben dabei unsere Ideen und Vorstellungen über das tatsächliche lebendige Geschehen.

So wird irgendwann das Hilfskonstrukt einer Gedankenrealität, mit der wir ursprünglich die Gegebenheiten abbilden wollten, damit wir uns darin organisieren und zurechtfinden können, zu einem Diktat, dem der Lebensverlauf folgen soll. Das entspricht einer völligen Umkehrung der Verhältnisse. Das Denken und unsere Vorstellungen dienen uns dabei nicht mehr als Werkzeuge, um uns dem Leben anzunähern, sondern erheben sich zu einer herrischen Gottheit, die das Leben unterwerfen will. Das kann nicht gut gehen.

Bei dieser Haltung einer chronischen Selbstüberschätzung muss es nicht verwundern, dass sich daraus viele Schwierigkeiten ergeben und uns die Lebensumstände oft als feindlich erscheinen. Wir erfahren Enttäuschungen und Schicksalsschläge, und viele Pläne im Kleinen wie im Großen werden im Laufe unseres Lebens durchkreuzt. Aber anstatt unser gewohntes Festhalten an Kontrolle aufzugeben oder die Überzeugung, dass wir wüssten, wo es langgehen muss, zu überdenken, klammern wir uns an unsere Vorstellungen und fühlen uns als Opfer.

Bei genauer Betrachtung machen uns nicht die Umstände oder andere Menschen zum Opfer, sondern unsere Überzeugung, dass unsere Pläne und Vorstellungen richtig sind. Solange wir unserer Ideenwelt mehr Glauben schenken als dem tatsächlichen Leben, erzeugen wir unbewusst einen Leidenskreislauf, da wir uns über die Schöpfung erheben und dabei scheitern müssen. Selbst wenn wir unsere Konzepte und unsere Funktionalität immer mehr optimieren, werden wir über kurz oder lang an die Grenzen der Machbarkeit stoßen, denn das Leben ist ein schöpferisches und damit nicht lineares, also komplexes Geschehen, das sich nicht berechnen oder kontrollieren lässt.

Erst wenn wir das anerkennen und uns damit wieder in die Schöpfung einordnen und demütig werden, wenn das Denken vom Olymp der Götter herabsteigt und zum einfachen Werkzeug wird, das uns dient, werden wir uns wieder auf eine natürliche Weise einfügen und sind nicht mehr in ständiger Kampfbereitschaft. Dadurch können wir dem Lebensfluss wieder folgen und es entsteht eine Grundhaltung, die von Vertrauen geprägt ist.

 

Wir werden überrascht sein, wie viele unserer gefühlten Schwierigkeiten durch eine Veränderung unserer Lebenshaltung von Kampf in Richtung Vertrauen von selbst verschwinden, denn den meisten sogenannten Problemen liegen Vorstellungen und Überzeugungen zugrunde, an denen wir krampfhaft festhalten. Wir verhalten uns dabei wie jemand, der sich in einem reißenden Fluss an einem Ast, der ins Wasser ragt, anklammert. Die ganze Kraft der Strömung zieht und zerrt an uns und erscheint uns als feindlich und höchst bedrohlich. Doch kaum lassen wir los, fügen wir uns wieder in den Strom des Lebens ein und fühlen uns dadurch getragen. Das Einzige, was wir dabei opfern, sind ein paar lieb gewonnene Vorstellungen.

Ein kurzer Ausflug ins Gehirn

Bei all den Schwierigkeiten, die sich aus einer Identifizierung mit der Alltagsrealität ergeben, dürfen wir nicht vergessen, welch ungeheure Leistung das Erschaffen einer gemeinsamen Wirklichkeit ist und welches Wunderwerk dem zugrunde liegt. Das menschliche Gehirn, das den Verstand und damit die Bewusstseinsebene der Alltagsrealität erst möglich macht, ist so ungeheuer komplex und gleichzeitig kreativ, dass es alle Maßstäbe sprengt und wir nur staunen können, über welches Potenzial ein einziges menschliches Gehirn verfügt. Dabei sind zwei Dinge besonders erwähnenswert: seine Fähigkeit der Verknüpfung und der Neustrukturierung.

Die Komplexität, zu der ein Gehirn fähig ist, ergibt sich aus seinem Potenzial, mit dem sich die Gehirnzellen untereinander verbinden können und damit komplexe Verschaltungen möglich machen. Nach neuesten Schätzungen hat das Gehirn etwa eine Billion Gehirnzellen (= Neurone), die sich mit ihren Nervenästen jeweils mit einer anderen oder mit mehreren Gehirnzellen vernetzen und über elektromagnetische Impulse Informationen in Sekundenbruchteilen austauschen. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass ein Brettspiel wie Schach mit 64 Feldern auskommt und dabei trotz eingeschränkter Spielregeln die Zahl der möglichen Stellungen auf 2,28 mal 10 hoch 46 geschätzt wird, dann ist die Vernetzungsmöglichkeit des Gehirns, bei dem eine Billion Gehirnzellen miteinander agieren, so ungeheuer groß, dass sie jede Vorstellungskraft sprengt.

Die zweite Besonderheit des Gehirns besteht darin, dass seine Verknüpfungen niemals endgültig festgelegt sind. Oder anders formuliert: Wir sind zeitlebens fähig, neue Verbindungen auszubilden und damit durch neue Erfahrungen zu lernen. Wissenschaftlerinnen, die das Gehirn erforschen, nennen diese grundlegende Eigenschaft des Gehirns die »Neuroplastizität«. Es bezeichnet die Fähigkeit des Gehirns, nicht nur unterschiedliche Netzwerke zu befeuern und diese damit zu stärken oder zu schwächen, sondern die grundsätzliche Möglichkeit, die Struktur des Gehirns mit ihren zahlreichen Nervenzellen und Verknüpfungen umzubauen. Die Nervenzellenäste können wachsen und neue Verbindungsstellen (Synapsen) entstehen lassen.

Um deutlich zu machen, wie einzigartig dieser Vorgang ist, können wir noch mal einen Blick auf das Schachspiel werfen. Auch Schach ermöglicht eine ungeheure Kreativität von Spielzügen, aber das Regelwerk, die Figuren und die Felder bleiben determiniert, also immer gleich. Das Gehirn dagegen ist ein Spiel, das in jedem Augenblick seine Regeln und Figuren wieder ändern kann. Es hat die grundsätzliche Fähigkeit, sich immer wieder kreativ umzustrukturieren und damit quasi ein völlig neues Spiel entstehen zu lassen. Können wir uns vorstellen, was es bedeutet, ein Spiel zu spielen, das sich während des Spielens fortwährend verändert?

Genau das aber beschreibt die menschliche Situation. Das Leben ist ein Spiel, das lebendig und kreativ sich jederzeit umstrukturieren und verändern kann – nicht nur im äußeren Ablauf, sondern auch in unserem Gehirn. Wir können nicht darauf hoffen, dass die Spielregeln gleich bleiben, und auch die Spielfiguren, also zum Beispiel für uns wichtige Menschen, können jederzeit eine neue Gestalt annehmen. Das menschliche Gehirn mit seiner Fähigkeit zu lebenslanger struktureller Veränderung kann auf diese Herausforderung optimal eingehen.

Wenn wir bis jetzt jedoch nur auf die Komplexität des Gehirns schauen und seine Flexibilität und Kreativität bewundern, ist das nur die eine Seite der Medaille. Flexibilität alleine genügt nämlich nicht. Das Gehirn braucht als Gegenpol die Fähigkeit, Muster und feste Strukturen auszubilden. Nur dadurch entsteht eine gewisse Ordnung im Dschungel des Lebens. Mit jeder Verknüpfung – oder besser mit jedem Netzwerk, das im Gehirn entsteht – bildet sich ein Muster aus, das innere körperliche Abläufe, aber auch Wahrnehmungen, Gedanken und Handlungen strukturiert. Ohne diese Muster könnten wir weder wahrnehmen noch denken oder absichtsvoll handeln.

Sogar unsere sinnliche Wahrnehmung entsteht erst durch komplexe Verschaltungen in unserem Gehirn, die zum Beispiel einen visuellen Eindruck entstehen lassen. Ohne dass unser Gehirn die sensorischen Reize aus dem Auge auf eine bestimmte Weise verarbeitet und zu einem Bild zusammenfügt, würden wir trotz Lichteinfall und den Rezeptoren im Augenhintergrund nichts sehen. Das, was wir also sehen, ist eine Bildkonstruktion des Gehirns und nicht eine unabhängige äußere Welt.

So wie wir Bilder konstruieren und uns damit in der Welt »sehend« zurechtfinden können, erzeugt das Gehirn auf allen Ebenen durch seine vielfältigen Muster das Erscheinen einer geordneten Welt. In jedem Augenblick unseres Lebens setzen wir die verschiedenen Wahrnehmungen zusammen, ergänzen sie mit gedanklichen Zuschreibungen aus alten Erfahrungen und kreieren damit eine einheitliche Welt, die geordnet und damit handhabbar ist. Genau diese Fähigkeit unseres Gehirns, Muster auszubilden und damit eine solide, objekthafte und zusammenhängende Welt zu konstruieren und sich darin zu bewegen, ist die Grundlage für die Bewusstseinsebene der Alltagsrealität.

Geistige Muster zu erschaffen ist daher ein wunderbarer Mechanismus des Lebens, der es uns als Menschen überhaupt erst ermöglicht, zu existieren und unser Leben zu gestalten. Diese Muster können jedoch gleichzeitig immer mehr einrasten und zu Gehirnautobahnen werden, die uns zunehmend auf eine bestimmte Weltsicht einengen. Auch dazu ist unser Gehirn fähig. Wir können beobachten, dass manche dieser automatisierten Muster und gedanklichen Zuschreibungen uns so stark besetzen können, dass sie neue Erfahrungen oder aktuelle Wahrnehmungen teilweise oder sogar komplett überlagern.

Das hört sich dramatisch an, ist aber ein vollkommen gewöhnlicher Vorgang. In aller Regel nehmen wir zum Beispiel unsere Wohnung nicht mit neuen, unvoreingenommenen Augen wahr. Das Gehirn vergleicht jedes Objekt mit alten ähnlichen Erfahrungen und lässt nur das bekannte Bild bzw. das alte, automatisierte Muster unserer Wohnung im Bewusstsein auftauchen. Die gegenwärtigen, neuen und vielfältigen Erfahrungen werden dabei weggefiltert. Für einen gewöhnlichen Alltagskontakt, bei dem eine oberflächliche Bezugnahme genügt, ist dies vollkommen ausreichend. Mehr noch: Für eine schnelle Bezugnahme oder Handlung sind zu viele Informationen kontraproduktiv.

Wenn wir zum Beispiel beim Autofahren die Details einer Landschaft und die Wolkenstimmung bewundern und zusätzlich dabei noch das Atmen und die subtilen körperlichen Empfindungen genießen würden – so, als würden wir sie zum ersten Mal spüren –, wäre unser Gehirn überlastet und die Funktionalität beim Fahren stark eingeschränkt. Erst wenn das Gehirn alle unwesentlichen Eindrücke für eine Aufgabe herausfiltert und unser Geist sich auf die bekannten und für das Autofahren relevanten Wahrnehmungs- und Handlungsmuster bezieht, sind wir effektiv.

Die Problematik dabei ist jedoch, dass diese Filterfunktion des Gehirns kaum mehr neue Erfahrungen zulässt. So kann es schleichend geschehen, dass die bekannten Muster und Bilder immer mehr unser Erleben bestimmen und wir uns dadurch nur noch scheinbar auf eine Außenwelt beziehen. In Wirklichkeit sind wir in einer Innenwelt von bekannten ­Bildern, Zuschreibungen und Mustern – in einer Gedankenwelt – gefangen. Diese hausgemachte Isolation beschreibt Martin Buber anschaulich als eine »Ich-Es-Beziehung«, in der keine unmittelbare, echte Begegnung mehr stattfindet. Wir treffen hier nur noch auf eine geistige Reflexion, die wir auf das Gegenüber projizieren. Dadurch fühlt sich der Kontakt zwar vertraut und sicher an, gleichzeitig wird er aber auch ein wenig schal, wie abgestandenes Wasser.

Erst wenn ein Ereignis stark genug ist und uns emotional berührt, sodass es uns aus unserer Gedankenwelt wieder aufweckt oder vielleicht sogar aufrüttelt, wird das Ereignis im Gehirn als neu behandelt und die unmittelbaren Eindrücke dazu dringen wieder zu uns durch. Für einen Augenblick treten die geistigen Filter zurück und die Pforten der Wahrnehmung öffnen sich. Dabei können neue Verknüpfungen im Gehirn entstehen und das kreative Potenzial – seine Fähigkeit zur Umstrukturierung – tritt in Aktion. Erst hier können wir von einer echten Begegnung sprechen, oder wie Martin Buber es nennt: einer »Ich-Du-Begegnung«. Erst dann erreicht uns nämlich wieder die Einzigartigkeit des Augenblicks und wir erfahren den Kontakt als frisch und neu.

Müssen wir nun darauf warten, dass ein emotional aufwühlendes, dramatisches Ereignis uns aufweckt und die Filter im Gehirn zur Seite schiebt? Oder sollten wir die Dramatik lieber selbst erzeugen? Vielleicht durch eine abenteuerliche Fernreise in ein exotisches Land, einen bewegenden Film auf Großleinwand oder durch extreme Verausgabung im Sport? Oder gibt es noch andere Möglichkeiten, aus der Hypnose einer Alltagsrealität mit all ihren bekannten Mustern und gedanklichen Zuschreibungen auszusteigen?

Wenn wir uns der hypnotischen Dynamik der Alltagsrealität bewusst sind und ihre Symptome kennen, können wir mithilfe unserer Aufmerksamkeit die Bewusstseinsebene wechseln und in die kreative Innenwelt der Seelischen Realität oder in die Stille der Absoluten Realität eintauchen. Die Pforte der Gegenwart steht uns in jedem Augenblick zur Verfügung, und jedes Mal, wenn wir sie durchschreiten, um in die Tiefendimension unserer Seele oder in die Weite und Offenheit des absoluten Bewusstseins einzutauchen, lassen wir die Alltagsrealität mit all ihren schalen Zuschreibungen und funktionalen Mustern zurück. Wenn wir uns dann wieder dem alltäglichen Leben mit seinen Pflichten und Anforderungen zuwenden, fühlen wir uns im wahrsten Sinne des Wortes »beseelt« und innerlich erfüllt. In der Folge entsteht auch im gewohnten äußeren Umfeld wieder eine neue Wachheit.