Zwischen Zeit und Ewigkeit

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Kapitel 2
Die äußere Wirklichkeit – die Alltagsrealität

Die Wirklichkeit, oder die Welt, wie wir sie alle kennen, ist nur eine Beschreibung. Sie ist ein endloser Strom von Interpretationen von Sinneswahrnehmungen, die wir, die Einzelnen, die eine besondere Gruppenzugehörigkeit teilen, übereinstimmend zu deuten gelernt haben.

Carlos Castaneda

Ich stelle mir manchmal vor, wie es wäre, wenn ein Mensch, der im Urwald aufgewachsen und nie der Zivilisation begegnet ist, plötzlich in eine moderne Großstadt kommen würde. Die meisten Vorgänge, die das Leben eines modernen Menschen ausmachen, wären ihm wahrscheinlich fremd und unverständlich.

Ein Urwaldbewohner kennt keine Gehsteige und keine Fahrbahn. Er weiß nichts vom Sinn der Ampeln und wird Autos für gefährliche, unberechenbare Ungetüme halten. Da er die Regeln nicht kennt, nach denen sich das Leben auf der Straße organisiert, wird für ihn eine Stadt mit ihrem Verkehr gefährlicher sein als ein undurchdringlicher ­Dschungel mit wilden Tieren.

Doch er wird nicht nur mit seiner Sicherheit beschäftigt sein, sondern er wird sich auch fragen, welchen Sinn diese ganze Geschäftigkeit hat? Menschen eilen in alle Richtungen, verschwinden in Eingängen, die sich öffnen und schließen lassen, oder in einem dieser fahrbaren Ungetüme. Manche Menschen sprechen in ein kleines Kästchen, das sie sich ans Ohr halten. Andere sitzen auf bequemen Bänken und halten weiße große seltsame Blätter in den Händen, in die sie vertieft sind. Was tun all diese Leute?

Die nächste Frage, die unseren Urwaldmenschen beschäftigt, ist wahrscheinlich die, wie man hier Essen findet. Nirgends scheint es hier Früchte zu geben oder Tiere, die man jagen könnte. Und doch sind alle Menschen gut genährt. Vielleicht entdeckt er mit der Zeit, dass Einzelne aus einem dieser Eingänge kommen und dabei etwas in der Hand halten, das sie essen. Neugierig tritt er näher und schaut durch eine große, glatte, durchsichtige Wasserscheibe. Drinnen liegen sauber geordnet verschieden geformte kleine hellbraune Zapfen, welche anscheinend essbar sind. Es herrscht ein reges Kommen und Gehen von Menschen, die diese Zapfen abholen und im Gegenzug kleine flache Steine und eine Art farbige Blätter dalassen. Ein Tauschhandel?

Um herauszufinden, was all diese geschäftigen Menschen machen, wagt er es irgendwann, in einen der Eingänge zu gehen und landet in einem Großraumbüro. Ein Büro mit seinen Computern, Akten und Telefonen ist wahrscheinlich für einen Urwaldmenschen der Gipfel der Abstraktion und der Unverständlichkeit. Hier gibt es keine direkte, unmittelbare Tätigkeit, die sich einem unbedarften Beobachter als natürliche Arbeit erschließen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Urwaldmensch es schaffen könnte, von alleine den Sinn hinter all dieser Geschäftigkeit herauszufinden.

Eine Welt der Abstraktion

Die vielleicht gewöhnlichste und uns am vertrautesten erscheinende Bewusstseinsebene ist die sogenannte Alltagsrealität. Sie prägt und bestimmt unser normales alltägliches Leben, in dem wir als klar definierte Person in einem sozialen Gefüge agieren. Dabei beziehen wir uns unbewusst auf unzählige Abstraktionen, Konzepte, Regeln, Vereinbarungen, Handlungsabläufe und Hilfsmuster, die uns genauso selbstverständlich erscheinen wie Atmen, Trinken und Schlafen.

Doch auch wenn es zu unserer zweiten Natur geworden ist, in abstrakten Dimensionen zu denken und zu handeln, ist diese Welt rein menschengemacht und damit sekundär. Sekundär bedeutet in diesem Zusammenhang, dass auf dieser Ebene kaum mehr unmittelbare Erfahrungen eine Rolle spielen. Im Gegenteil, unmittelbare Erfahrungen werden hier abstrahiert und organisiert.

Wenn wir zum Beispiel einen Geldschein dazu benutzen, um eine Ware einzukaufen, dann beinhaltet dieser Vorgang implizit ein Bündel an Abstraktionen. Ein Geldschein hat keinen unmittelbaren Wert. Er ist ein bedrucktes Stück Papier, nichts weiter. Erst durch die Überzeugung, dass er einen bestimmten Wert besitzt, erhält der Geldschein seinen Wert. Man könnte also sagen, dass wir selbst den Geldschein durch unsere Gedanken »aufladen«. Aber natürlich genügt unsere Überzeugung alleine nicht. Erst wenn ganz viele Menschen den Geldschein mit der gleichen Überzeugung von Wert »aufladen«, lässt sich mit diesem Stück Papier etwas einkaufen.

Dabei gibt es noch viele andere Abstraktionen und Überzeugungen, die den Geldschein erst möglich machen. Zum Beispiel müssen wir die Existenz eines Staates anerkennen, der den Geldschein druckt und an alle Bürgerinnen ausgibt. Ein Staat ist jedoch genauso eine gedankliche Konstruktion wie ein Geldschein. Erst wenn wir an bestimmte Grenzen glauben, entsteht ein Staatsgebiet. Erst durch bestimmte Definitionen entstehen Staatsbürgerinnen. Und schließlich hat eine Organisationseinheit wie eine Regierung oder ein Parlament erst dann die Macht, Regeln aufzustellen und das Leben zum Beispiel mithilfe von Geldscheinen zu organisieren, wenn Bürgerinnen diese Vorgänge anerkennen.

Je genauer wir das alltägliche Leben betrachten, werden wir entdecken, dass es durchsetzt ist von Abstraktionen und Gedankenkonstrukten, die uns helfen, das soziale Leben zu organisieren und zu meistern. Betrachten wir nur allein die Sprache, die es uns ermöglicht, äußerst differenziert den Kontakt zwischen Einzelwesen und Gemeinschaften zu regeln und Verständigung zu bewirken. Dabei beinhaltet die heutige Sprache des Menschen eine ungeheure Abstraktionsleistung. Ursprünglich war die Sprache für den Menschen, wie für viele Tiere, eine unmittelbare Gestaltform. Da wurden Stimmungen in Lauten ausgedrückt: Freude, Wut, Zärtlichkeit oder Angst lassen typische Laute entstehen. Noch heute finden sich in vielen Worten rudimentäre Hinweise auf die ursprüngliche Erfahrungsdimension, aus denen Worte entstanden sind.

Doch im Laufe der Menschheitsgeschichte haben sich Worte immer mehr verselbstständigt, abstrahiert und differenziert. Je mehr sich Sprache verselbstständigt und von der ursprünglichen Erfahrung entfernt, wird sie zu einer eigenen Wirklichkeit, die das Leben der Menschen nicht nur symbolisch beschreibt, sondern mindestens genauso auch prägt. Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn ich sage, dass der moderne Mensch oft mehr in der Welt von Gedanken und der dazugehörigen Sprache lebt als in unmittelbaren Empfindungen.

Dabei ist eine Sprache weit mehr als eine symbolhafte Beschreibung von erfahrbarer Wirklichkeit, denn je mehr sich eine Sprache differenziert, desto mehr kreiert sie eine eigene, vorgestellte Welt mit abstrakten Begriffen. Gibt es wirklich den Euro, gibt es Deutschland oder die EU? Gibt es das Amt einer Bundeskanzlerin und was sind Steuern? An diesen Beispielen sieht man sehr deutlich, dass Gedanken und Sprache mehr sind als nur symbolhafte Beschreibungen von Wirklichkeit. Sie erschaffen Wirklichkeit. Je mehr wir Gedankenwirklichkeiten erzeugen und daran glauben, entstehen dadurch neue Realitäten, die auf die Entwicklung der ganzen Gesellschaft und des einzelnen Menschen zurückwirken.

Selbst wenn eine Person dann beschließen sollte, nicht mehr an die Realität von Euros oder bestimmten Gesetzen zu glauben, wird sie sich nicht so leicht entziehen können, da die kollektive Überzeugung gesellschaftlich genauso real auf uns einwirkt wie unmittelbare Erfahrungen von zum Beispiel Hitze oder Kälte. Tatsächlich werden wir sogar sanktioniert oder zumindest nicht mehr unterstützt, wenn wir kollektiven Gedankenrealitäten nicht entsprechen. Wenn wir zum Beispiel Euros und den Staat als Gedankenkonstrukt entlarven, um dann zu beschließen, keine Steuern mehr zu zahlen, würden wir sehr wahrscheinlich Schwierigkeiten bekommen.

Noch eines sollten wir uns vergegenwärtigen: Viele Gedanken und Konzepte sind keineswegs neutral oder objektiv, genauso wenig wie die Sprache als symbolhafte Beschreibung der Wirklichkeit. Bereits am Beispiel einer Landkarte, die bei einer Wanderung sehr hilfreich sein kann, sehen wir, dass ihre bildhafte Ausformung eine Bewertung beinhaltet, ja sogar beinhalten muss. Je nachdem, ob es eine Landkarte für Wanderer, Radfahrerinnen oder Autofahrer ist, werden bestimmte Wege und Merkmale herausgestellt und andere bewusst vernachlässigt oder im Hintergrund dargestellt.

Es gibt keine neutrale Landkarte, sonst müssten wir auf jede Form der Abstraktion verzichten und die Landschaft eins zu eins abfotografieren. Doch selbst eine solche Landkarte wäre das Produkt einer festgelegten Vogelperspektive und damit keineswegs objektiv. Genauso gibt es keine neutrale Beschreibung der Wirklichkeit. Jedes Wort, jede Abstraktion beinhaltet immer auch Meinungen und Bewertungen, die implizit auf uns einwirken.

Wenn wir zum Beispiel Worte benutzen wie »Frau« oder »Mann«, um einen Menschen zu charakterisieren, dann scheint das eine objektive Beschreibung zu sein. In Wirklichkeit beinhalten diese Begriffe bereits ein Bündel an kollektiven Zuschreibungen und Wertungen, die selbstwirksam sind und auf jede Frau und jeden Mann einwirken. Wenn man sich zum Beispiel als »Frau« in Deutschland auf eine Stelle bewirbt, hat man in Summe weniger Chancen und wird schlechter bezahlt. Auch an diesem Beispiel kann man sehen, wie stark Gedankenrealitäten unser konkretes alltägliches Leben steuern und prägen.

Wie wir eine äußere Wirklichkeit erschaffen

Ist uns das bewusst? Meistens nicht. Wir beziehen uns im Alltag auf Beschreibungen wie »Mann« oder »Frau« und glauben, uns damit ganz nah an der »Wirklichkeit« zu bewegen, ohne dass wir uns darüber im Klaren sind, wie wir mit diesen Begriffen »Wirklichkeit« kreieren. Meistens sind wir davon überzeugt, dass wir die Dinge korrekt und neutral – also objektiv – sehen und merken nicht, dass wir uns in der Regel nur auf bestimmte Zuschreibungen beziehen. Die unmittelbare Erfahrung von Objekten wird dabei typischerweise ausgeblendet oder tritt in den Hintergrund.

 

Wenn wir zum Beispiel im Alltagsbewusstsein auf eine Vase schauen, erfahren wir sie normalerweise aus dem Blickwinkel ihrer Funktion oder ihrer Gefälligkeit. Beide Kategorien – die Funktionalität und die ästhetische Bewertung – sind gedankliche Zuschreibungen, die uns die unmittelbare Sicht verstellen. Daher sehen wir im Alltagsbewusstsein nicht die Dinge, so wie sie in unserer unmittelbaren Erfahrung auftauchen, sondern wir sehen die Dinge aus der Perspektive der Funktionalität und überlagern sie mit Zuschreibungen und Bedeutungen, die wir ihnen unbewusst geben.

Das macht für das alltägliche Leben einen großen Sinn, da die Dinge für uns dann handhabbar werden. Wir wissen um die Funktion einer Vase und können sie benützen. Wir erkennen in einem Menschen eine »Kollegin« und können uns entsprechend im Kontakt angemessen verhalten. So begegnen wir nicht den Dingen selbst, sondern betrachten jeden Gegenstand, jede Erfahrung und jedes lebendige Wesen in ihrem Kontext, ihrer Funktionalität und der Bedeutung, die sich daraus ergibt. Aus diesem Grund wird die Alltagsrealität auch als »äußere Wirklichkeit« bezeichnet. Sie ist eine Perspektive, bei der wir von außen auf die Dinge schauen und diese Abstraktion eine gewisse Objektivierung erlaubt. Aus diesem Abstand heraus lassen sich die Dinge und Situationen handhaben und entsprechend ihrer Funktion sinnvoll gestalten.

Doch ist es wirklich objektiv, wenn wir eine Vase als Gefäß für Blumen erkennen? Ist es »real«, wenn wir einen Menschen als »von uns unabhängiges Wesen« behandeln? Oder sind dies nur geistige Reflexionen bestimmter Sichtweisen, die tief in uns verankert sind und uns helfen, uns in der Welt zurechtzufinden?

Dabei sind diese Zuschreibungen, die wir den Situationen und Objekten überstülpen, weit mehr als persönliche Wertungen und Vorstellungen. Tatsächlich sind viele davon kollektive Deutungsmuster, durch die wir die Welt wie durch eine generalisierte Brille sehen. Eine Vase wird in dieser Kultur von allen Menschen als Gefäß für Blumen erkannt und benützt, und die kollektive Vorstellung eines Menschen beruht immer auf der Idee eines unabhängigen Wesens. Auf diese Weise werden die Deutungsmuster der Alltagsrealität zu einer kollektiven Hypnose. In der Transpersonalen Psychologie spricht man daher von der Alltagsrealität als »Konsensustrance«.

Dadurch, dass die meisten Zuschreibungen der Alltagsrealität kollektive Deutungsmuster sind, werden sie durch jede normale Handlung und jede alltägliche Konversation bestätigt. Die Vielschichtigkeit der inneren unmittelbaren Erfahrungen weicht dem Diktat einer oberflächlichen allgemeingültigen Zuschreibung, die uns eine Wirklichkeit vermittelt, die für alle gleich erscheint, da sie von den meisten Menschen auf die gleiche Weise gedeutet wird. So entsteht das Gefühl einer verlässlichen, objektiven Welt, in der wir alle leben und welche wir kollektiv auf die gleiche Weise wahrnehmen.

Doch erfahren wir wirklich eine Vase oder einen Menschen auf die gleiche Weise wie andere Personen, die diese Vase anfassen oder diesem Menschen begegnen? Oder schauen wir in der Regel nur gemeinsam durch die kollektive Brille bestimmter Interpretationsmuster, die uns die Illusion einer beständigen, äußeren Welt mit eindeutig definierten Objekten vorgaukelt? Je genauer wir die Erfahrung von einzelnen Menschen betrachten, desto vielschichtiger und individueller wird sie. Doch solange wir uns auf der Oberfläche einer kollektiven Alltagsdeutung bewegen, scheinen wir alle in der gleichen Welt zu leben.

Die Fähigkeit der Zusammenarbeit

In der gleichen Welt zu leben – oder anders gesagt: eine gemeinsame Welt zu konstruieren –, hat immense Vorteile für das soziale Zusammenleben. Wir können »Vase« sagen und wissen, was mit Vase gemeint ist. Unabhängig von der tatsächlichen individuellen Empfindung, die beim Einzelnen im Kontakt mit der Vase auftaucht, entsteht durch die kollektive Zuschreibung ein gemeinsames und verlässliches Objekt, das keiner Diskussion oder individuellen Abstimmung bedarf. Wir müssen das Objekt nicht jedes Mal neu definieren und kennen seine Funktion. So kann ich einem anderen zurufen: »Bitte bring mir mal die Vase.« Ohne weitere Erklärung und Diskussion weiß die andere Person, was gemeint ist und wird der Aufforderung nachkommen. Es entsteht eine gemeinsame Welt, die Interaktionen relativ reibungslos ermöglicht.

Die erkenntnistheoretische Frage: »Was ist eine Vase?« oder der präzise Blick durch die Lupe der Achtsamkeit mit der Frage: »Wie erfahre ich gerade diese Vase?« wird dabei ausgeblendet. Und das mit gutem Grund. Denn diese Fragen würden eine oberflächliche Interaktion zwischen Menschen sofort ins Stocken bringen. Das zeigt, worauf die Alltagsrealität ausgerichtet ist, nämlich nicht auf Erkenntnis, genaue Wahrnehmung oder etwa die Frage nach dem Glück, sondern einzig und allein auf Funktionalität.

Die zentrale Motivation, die sich im Erschaffen einer gemeinsamen Alltagswelt verbirgt, ist die Frage, wie wir uns als Menschheit im Leben zurechtfinden und überleben können. Nur dazu erschaffen wir in unserem Geist eine kollektive oberflächliche Wirklichkeit mit abgegrenzten, handhabbaren Objekten und verlässlichen funktionalen Zuschreibungen. Dabei ist Funktionalität keinesfalls eine oberflächliche Motivation, sondern entspringt dem Basisbedürfnis nach Sicherheit und Überleben. Zuallererst müssen und wollen wir als menschliche Rasse überleben, dann erst, wenn das gesichert ist, können wir uns um Erkenntnis, um individuelle Erfüllung und Glück oder die Frage nach dem Sinn kümmern. So ist es nur natürlich, dass der menschliche Geist schon von frühester Kindheit an darauf geeicht ist, kollektive Zuschreibungen sich anzueignen und sich in einer einheitlichen »Deutungswelt« zurechtzufinden.

Es ist eine ungeheure Denkleistung, die sich hier vollzieht und deren Ergebnis uns Menschen ermöglicht, sehr differenziert Objekte zu handhaben und dabei verschiedenste Produkte gemeinsam zu erschaffen und effektiv zusammenzuarbeiten. Dies reicht von der simplen Fertigkeit, gemeinsam einen Tisch zu decken, über die komplexe Zusammenarbeit in einer Firma bis hin zu der Fähigkeit eines Orchesters, gemeinsam eine Symphonie erklingen zu lassen. Ohne die Fähigkeit zu einer gemeinsamen Beschreibung der Welt, die sich in Sprache und der Definition von Objekten ausdrückt, wäre ein solch differenziertes und kunstvolles Zusammenwirken nicht möglich.

Für den Vorgang einer sozialen Zusammenarbeit hat daher das Erschaffen einer äußeren Welt voller unabhängiger, verlässlicher Objekte einen besonderen Stellenwert. Haben wir jemals infrage gestellt, dass die Realität aus konkreten Elementen besteht, die getrennt von uns existieren? Wahrscheinlich nicht. Und doch ist diese Perspektive keineswegs selbstverständlich. Nach allem, was wir wissen, erfährt sich ein Baby noch nicht als getrennt vom Umfeld und kann noch keine Dinge »erkennen«. Erst durch eine komplexe gedankliche Differenzierungsleistung, die sich über viele Monate der kindlichen Entwicklung hinzieht, entsteht die Fähigkeit, etwas als ein unabhängiges Objekt wahrzunehmen, um es dann im wahrsten Sinne des Wortes auch »be-handeln« zu können (siehe Kapitel 5: Wie die Welt entsteht).

Und schon wieder klingen diese Sätze nach einer vermeintlichen Objektivität, bei der es Dinge als verlässliche und solide »Bausteine der äußeren Welt« gibt. Tatsächlich ist dies aber eine geistige Konstruktion, also eine bestimmte Sicht auf die sogenannte »äußere Wirklichkeit«. Wir erschaffen eine äußere Welt, die sich aus vielen klar unterscheidbaren Objekten zusammensetzt und können uns dadurch innerhalb dieser soliden Welt bewegen und uns auf die einzelnen Elemente darin beziehen. So entsteht ein hohes Maß an Kontrolle, die es uns erlaubt, eine enorme Effektivität zu entwickeln.

Solide Objekte können wir bearbeiten und wir können uns darin organisieren. Je verlässlicher etwas wird, desto kontrollierbarer wird es. Es entstehen wiedererkennbare Muster und klare Strukturen, und unsere Fähigkeit, damit umzugehen, wird immer ausgefeilter und schließlich automatisiert. Nicht umsonst hat der Mensch mit seiner geistigen Fähigkeit zur »Objekt-ivierung« Kulturgüter wie Autos oder Symphonien geschaffen, die es vorher auf dieser Welt nicht gab.

Das macht deutlich, dass Produktivität und Effektivität letztlich keine individuellen Fähigkeiten sind, sondern ihre eigentliche Kraft erst im Zusammenwirken mit anderen Menschen entfalten, die sich auf die gleichen Objekte beziehen. So ist die Alltagsrealität nicht nur eine Welt der Funktionalität und der Effektivität, sie ist auch eine Welt der Verständigung. Ist es nicht wunderbar, wie Menschen ihre Erfahrungen teilen können? Ob in einem komplexen Produktionsprozess beim Herstellen eines Autos, beim Lesen eines Buches oder in einer lockeren Alltagsunterhaltung, überall wo Menschen zusammenwirken, geht dies nur durch die verbindende Kraft der Kommunikation.

Die Sprache des Menschen nimmt hier sicherlich eine Schlüsselstellung ein. Doch es wäre viel zu kurz gegriffen, nur auf die sprachliche Kompetenz des Menschen zu schauen. Es gibt viele andere Ebenen der Verständigung, die mit der Sprache zusammen erst eine kohärente objekthafte Beschreibung der Wirklichkeit möglich machen, auf die wir uns dann gemeinsam beziehen können. Denken wir an die Mathematik, an Körpersignale, an das Regelwerk im Straßenverkehr oder an ein Notenblatt. Der menschliche Geist hat eine ungeheure Fähigkeit, allgemeingültige vielschichtige Signale zu entwickeln und dadurch Verstehen und soziales Zusammenleben zu bewirken.

Dadurch, dass die menschliche Verständigung viel differenzierter und komplexer ist als bei Tieren oder Pflanzen, lässt dies eine enorme schöpferische Kreativität zu. Wenn sich zwei Wesen nur in immer gleichen Ritualen verständigen können, wie beim berühmten »Tanz der Bienen«, kann zwar Zusammenarbeit geschehen, aber kaum Entwicklung stattfinden. Erst in einer vielschichtigen, nicht festgelegten Kommunikation herrscht eine Freiheit, in der das soziale Miteinander weiterentwickelt werden kann und ganz neue, komplexere Arten des Zusammenwirkens entstehen können. In Hinblick auf die Fähigkeit der Kommunikation nimmt der Mensch sicherlich eine Ausnahmestellung in der Natur auf diesem Planeten ein.