Im Einklang leben

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1.4 Präsenz und ihre Wirkung

Präsenz ist eine Kraft. Die Kraft des SEINS. Obwohl diese Kraft nicht materiell ist und wir sie nicht anfassen oder sehen können, können wir sie doch unmittelbar erfahren. Sie kann eine große Wirkung in unserem Leben entfalten und auf andere Menschen spürbar einwirken.

Sind wir mit Präsenz in Kontakt, fühlen wir uns belebt und ganz wach. Wir sind auf eine natürliche und entspannte Weise aufmerksam und gegenwärtig. Doch Präsenz ist mehr als Gegenwärtigsein. Wir können vollkommen gegenwärtig einem Vogelgesang lauschen, ohne Präsenz zu erfahren. Plötzlich kann es jedoch geschehen, dass sich beim Lauschen auf den Vogel der Moment verdichtet und eine besondere Intensität des Augenblicks entsteht. Wir spüren das SEIN, unsere Existenz.

Die Intensität des SEINS

Präsenz ist verdichtetes SEIN. Die Erfahrung unserer Existenz. Sie ist eine Kraft, die intensiv und erfüllend gleichzeitig ist. Der Moment kann sich auf eine Weise verdichten, dass wir eine immaterielle Substanz spüren, die in uns oder um uns herum spürbar wird. Diese Substanz kann sich realer anfühlen als unser materieller Körper und doch ist sie keine Materie, sondern verdichtetes formloses SEIN.

Die meisten Menschen kennen diese Art von Erfahrung und lieben ihre Intensität, ohne sich allerdings dessen bewusst zu sein, was die Ursache dieser Kraft ist. Denn trotz ihrer Intensität und Dichte ist sie immateriell und subtil. Präsenz ist kein greifbares Objekt wie andere Erfahrungen und so bleibt sie oft unerkannt im Hintergrund unseres Erlebens.

Es gibt viele Beispiele dafür, wie Menschen Präsenz erfahren und diese Intensität immer wieder aufsuchen, ohne sich dessen bewusst zu sein, welche Kraft sie in diesen Momenten erfüllt. Ich denke zum Beispiel an Sportler. Durch die große körperliche Anstrengung kann man im Sport aus dem Denken aussteigen und es kann sich dadurch ein erfüllender Moment des SEINS ereignen. Hier eröffnet sich uns die Kraft der Präsenz. Meist denken wir aber, dass der Grund für diese Erfüllung der Sport ist. Sport ist hier aber nur das Gefährt, das Hilfsmittel, um mit Präsenz in Kontakt zu kommen. Die eigentliche Erfüllung ist die Intensität der Präsenz, die in diesen Momenten erfahren wird.

Wo wir diesen Vorgang der Verwechslung noch beobachten können, ist bei Kriegsveteranen. Wie oft erzählen alte Männer häufig mit leuchtenden Augen vom Krieg. Warum tun sie das? Weil diese Erfahrung so schön war? Bestimmt nicht. Krieg ist immer schrecklich und konfrontiert alle Menschen mit Angst und Schmerz. Gleichzeitig werden Menschen aber in Kriegszeiten aus der gewohnten Welt herausgerissen und erfahren eine Intensität, die sie danach in der Routine des Alltags oft vermissen. Diese Intensität entspringt der Kraft der Präsenz. Männer, die im Krieg waren, haben diese Intensität im Krieg erfahren, also sprechen sie gerne vom Krieg. Es waren die dichtesten Momente ihres Lebens.

Alle Lebenskrisen haben das Potenzial, uns aus unserer Gewohnheit und unseren Gedankenmustern herauszureißen und uns in Kontakt mit Präsenz zu bringen. Obwohl wir diese Krisen oft als schmerzhaft erleben, erfahren wir doch eine Lebensintensität dabei, an die wir uns gerne immer wieder erinnern. Denn an was erinnern wir uns, wenn wir zurückschauen? An Momente der Intensität, sei es durch eine Liebesbegegnung, durch einen Verlust oder eine eindrückliche Reise. Wenn wir uns erinnern, schauen wir jedoch immer nur auf die Begleitumstände dieser Momente. Die Situation und die Umstände sind uns bewusst, aber nicht die Präsenz selbst.

Das führt oft dazu, dass wir versuchen, die Umstände zu wiederholen, um diese nährende Präsenz wieder zu erfahren. Wir planen wieder eine Reise ans Meer oder machen regelmäßig intensiv Sport. Im Extremfall entwickeln wir sogar eine Art Sucht nach der Situation, die uns Präsenz vermittelt hat und suchen sie immer und immer wieder auf. Wie wir wissen, ist dies keine Garantie dafür, dass wir Präsenz erneut erfahren, da letztlich nicht die Situation die Intensität erzeugt, sondern unser Geisteszustand in dieser Situation. Wir verwechseln Ursache und Wirkung.

Würden wir jedoch klar erkennen, dass die Intensität eine Frucht unseres Aufmerksamseins ist, hätten wir die Freiheit, in jedem Augenblick unseres Lebens größere Präsenz zu erfahren, indem wir uns auf das SEIN selbst ausrichten. Ob im Büro, in der Hängematte oder beim Sport, wir könnten uns an das SEIN erinnern und davon kosten, indem wir in ein ungerichtetes Lauschen eintauchen. Die Intensität von Präsenz, dieses intensive Lebendigsein, das wir so sehr lieben und das wir oft in der Alltagsroutine vermissen, könnte uns dann unabhängig von den aktuellen Lebensumständen von innen her nähren.

Reflektiere:

Welches waren Momente oder Phasen deines Lebens, in denen du am meisten Intensität erfahren hast?

Auf welche Weise suchst du nach Intensität in deinem Leben?

Welche äußeren Mittler (z. B. Sport, Reisen,…) zu Präsenz kennst du?

Erinnere dich an eine Situation von dichter Präsenz und erforsche die Präsenz selbst.

Sinn und Routine

Immer wieder beginnt die Lebensroutine die Kraft der Präsenz zu überdecken. Wir werden gleichsam eingelullt durch die Funktionalität des Alltags und das ewig kreisende Gedankenkarussell in unserem Kopf. Nichts kann uns die Frische und das Lebendigsein von Präsenz mehr verstellen als die alltäglichen Gewohnheiten unseres Lebens.

Dabei sind unsere Gewohnheiten nicht nur wichtig und hilfreich fürs Überleben, wir mögen sie auch. Sie vermitteln uns Halt und Sicherheit. Allerdings verleitet jede Gewohnheit dazu, weniger aufmerksam zu sein. Je automatischer wir agieren, desto reibungsloser läuft das Muster ab und wir benötigen nur noch wenig Aufmerksamkeit dafür. Das führt dazu, dass wir die Dinge, die uns ständig umgeben, kaum mehr wahrnehmen.

Gewohnheit frisst Aufmerksamkeit. Und so kann eine Phase unseres Lebens, in der alles glattläuft und unser Leben wie ein geruhsamer Fluss dahinfließt, sich zwar sehr angenehm und sicher anfühlen, aber mit der Zeit vermissen wir Lebensintensität und Sinn. Eine gähnende Öde und Sinnlosigkeit kann sich ausbreiten. Langeweile, Interesselosigkeit, Unzufriedenheit, Energielosigkeit, Wertlosigkeit und Schwermut sind typische Folgen eines längeren Mangels an Präsenz. Das alles sind Symptome einer unterschwelligen Sinnlosigkeit. Diese kann uns beschleichen, obwohl auf der Oberfläche unseres Lebens alles in Ordnung ist und wir vielleicht sogar äußerlich erfolgreich sind.

Der Grund dafür ist, dass das Gefühl von Sinn nicht davon abhängt, ob wir etwas Sinnvolles tun, sondern ob wir mit Lebensintensität – mit Präsenz – in Kontakt sind oder nicht. Fühlen wir dieses frische unmittelbare Lebendigsein, fragen wir uns nicht mehr nach dem Sinn des Lebens. Wir fühlen ihn, unmittelbar.

Doch wenn wir die Ursache unseres Mangels und unserer Sinnlosigkeit sowie den Zugang zu Präsenz nicht kennen, gehen wir im Außen auf die Suche nach der verlorengegangenen Intensität. Viele Menschen suchen dann zum Beispiel Abwechslung und Aufregung in Funparks oder Freizeitaktionen. Wir versuchen durch spektakuläre Aktionen unsere innere Langeweile zu überdecken. Vielleicht ist es symptomatisch für die funktionale westliche Welt, in der das Empfinden für wahren Sinn immer mehr verloren geht, dass im gleichen Maße unsere Unterhaltungsindustrie zu immer drastischeren Mitteln greifen muss, um uns immer wieder für kurze Zeit eine Lebensintensität zu vermitteln. Unsere Rummelplätze werden immer spektakulärer und unsere Filme und Videospiele immer dramatischer und brutaler. Es ist der Versuch, für Augenblicke eine künstlich hervorgerufene Intensität zu erzeugen, die uns über die gähnende Leere der Alltagsroutine hinwegtröstet.

Tatsächlich wird in diesen Momenten ein kurzes Aufbrechen unserer Routine erzeugt und wir spüren wieder Intensität, ohne uns aber der Präsenz bewusst zu sein. Wir sind viel zu sehr mit den spektakulären Erfahrungen, dem gewaltvollen Film oder dem Karussell beschäftigt, die diese Intensität vermitteln. So werden wir weiterhin auf die falsche Fährte gelockt. Wir suchen nach Intensität und Präsenz in der Dramatik von äußeren Erfahrungen und können die eigentliche Quelle für Sinn, die im schlichten Aufmerksamsein liegt, nicht entdecken.

Wie viel schlichter und doch lebendiger könnte doch unser Leben verlaufen, wenn wir Zugang zu Präsenz hätten. Menschen, die diese Intensität als innere Quelle kennen, fühlen sich nicht mehr so angezogen von spektakulären Ereignissen. Oft meiden sie diese sogar. Wer die Schlichtheit und Intensität von Präsenz kennt, fühlt sich eher abgelenkt und belastet durch laute äußere Sinnesreize.

Für diese Menschen sind die Routine und Gewohnheit des Lebens, welche sie von der Intensität trennt, kein wirkliches Problem. Im Gegenteil. Wer den direkten Zugang zu Präsenz kennt, kann die Dynamik der Gewohnheit sogar nutzen. Je stärker ein Handlungsablauf zur Gewohnheit geworden ist, desto weniger ist unser Aufmerksamsein durch das äußere Geschehen gebunden. Es ist damit frei, sich auf anderes zu richten. Das führt bei den meisten Menschen dazu, dass ihre Aufmerksamkeit ermüdet und sie gedankenverloren und gelangweilt sind. Wir könnten jedoch genauso diese Momente der Freiheit dazu nutzen, um tiefer ins Lauschen einzutauchen und uns in der Präsenz zu verankern.

Das ist wie beim Autofahren. In der Fahrschule sind wir noch völlig von den Handlungsabläufen – Kuppeln, Schalten, Lenken – vereinnahmt. Wir haben nur wenig Aufmerksamkeit zur Verfügung für die Situation auf der Straße, geschweige denn für anderes. Doch wenn die Handlungsabläufe beim Fahren zur Routine geworden sind, brauchen wir dafür nur noch einen kleinen Teil unserer Aufmerksamkeit. Dadurch können wir viel besser auf die Straße achten und gewinnen einen ganz anderen Überblick beim Fahren oder wir können nebenbei noch ein Gespräch führen. Eine neue Freiheit ist entstanden.

 

Routine gibt uns die Freiheit, uns mit Wesentlichem zu beschäftigen. Nur noch ein kleiner Teil unserer Aufmerksamkeit wird dann durch das jeweilige Geschehen beansprucht. Unsere Hauptaufmerksamkeit kann in der Präsenz verankert sein. Auf diese Weise kann die Routine unseres Lebens sogar einen Freiraum bieten, mitten im Alltag das SEIN zu kosten.

Experimentiere:

Experimentiere mit alltäglichen Routinehandlungen: Binde dich zuerst an Präsenz an und lass deine Hauptaufmerksamkeit während der ganzen Tätigkeit in der Präsenz verankert.

Das kreative Nichts

Präsenz ist erfüllend und gibt Sinn. Sie ist eine innere Kraftquelle, die immer sprudeln kann, wenn wir ihr Aufmerksamkeit schenken. Sie nährt uns einerseits, sie kann aber auch inspirieren und die Quelle für schöpferische Ideen und kreatives Handeln sein. Viele bedeutende Kunstwerke und Visionen sind aus Momenten von schlichter Präsenz hervorgegangen.

Kreativität ist keine Folge aus erworbenem Wissen oder logischem Nachdenken. Kreativität ist mehr als Logik. Hier wirkt eine andere Intelligenz – die Intelligenz des SEINS. Diese kann sich erst entfalten, wenn wir gewohnte Denkbahnen verlassen und den Raum des Nicht-Wissens aufsuchen. Mit anderen Worten, auf einen Schöpfungsakt können wir uns dadurch am besten vorbereiten, indem wir uns leer machen. Wir verlassen die Perspektive des Denkens und des Wissens und lauschen auf das Nichts. Wir öffnen uns damit für die Weisheit der Präsenz.

Man könnte annehmen, dass, wenn wir dem Nichts lauschen, dann auch nichts weiter geschieht. „Von nichts kommt nichts“, heißt es im Volksmund. Dieser Spruch stimmt für die Alltagswirklichkeit. Zum Beispiel muss ein Handwerker erst sein Handwerk gelernt haben, damit er es ausüben kann. Seine „Kunst“ entsteht aus Wissen und Fertigkeiten. Aber wenn es uns um seelische Inspiration geht oder einen wirklichen kreativen Schöpfungsakt, stimmt diese Volksweisheit nicht. Im Gegenteil. Aus der spirituellen Perspektive müsste der Spruch ganz anders lauten, nämlich „Von nichts kommt alles“. Aus dem unbedingten, ungeformten, nichtsubstanziellen Feld des SEINS geht jegliche Erscheinung hervor. Und nur wenn wir uns öffnen für das SEIN, geschieht ein Schöpfungsakt, eine Inspiration, die über das Gewohnte hinausweist.

Dieser Vorgang findet sich auch sprachlich in dem Wort „Einfall“ wieder. Bei einem Einfall erzeugen nicht wir den Gedanken, sondern er fällt uns zu. Es ist ein Akt des Sich-Öffnens, des Empfangens und kein Akt des Wollens oder des Könnens. Alles, was dazu nötig ist, ist unsere Bereitschaft, eine Haltung des aufmerksamen Offenseins fürs Unbekannte einzunehmen.

Stellen wir uns ein Haus vor. Wenn jemand hereinkommen soll, müssen wir Fenster und Türen offen halten und nicht versuchen, die Besucher als Feinde zu betrachten. Erst dann kann das Neue – das Unbekannte – in uns Raum einnehmen und uns inspirieren. Das bedeutet jedoch auch, dass uns das Neue erweitern und verändern wird. Ein Schöpfungsakt ist eine Begegnung, die uns verändert. Nach einer Begegnung sind wir ein anderer. Wir sind über die alte Form und über das gewohnte Denken hinausgewachsen und gleichzeitig inspiriert durch das Neue.

Dieser Vorgang kann dem Ego jedoch Angst machen. Das Ego identifiziert sich mit dem Bekannten und hält daran fest. Das Neue verspricht Veränderung und daher Unsicherheit. Deswegen verschließen wir zunächst oft die Tür und versuchen in gewohntem und vertrautem Terrain zu bleiben. Selbst wenn wir dadurch nicht zu einer wirklichen Lösung kommen, kreisen unsere Gedanken immer und immer wieder in den gleichen Bahnen. Oft kreisen wir lange vergebens, bis wir endlich aus Einsicht oder Erschöpfung unsere Tür öffnen.

Dazu ist nichts weiter nötig, als aus dem Denken und dem Wollen herauszutreten, und auf das SEIN zu lauschen. Das gelingt nur, wenn wir eine Haltung der Absichtslosigkeit einnehmen, denn Präsenz selbst ist absichtslos. Je tiefer wir uns fürs SEIN öffnen und je stärker Präsenz in uns auftaucht, desto weiter sind unsere Tore geöffnet für einen schöpferischen Einfall, der außerhalb unseres Denkens liegt.

Jetzt braucht es nur noch das Vertrauen und manchmal den Mut, dieser Inspiration zu folgen und ihr Gestalt zu geben. Das kann in Form eines Kunstwerkes, eines Projektes oder eines Lebensweges geschehen. Im Vollzug und der Gestaltwerdung der Eingebung werden wir eine tiefe Befriedigung erfahren, da wir ganz innenzentriert handeln. Wir folgen dann keinem äußeren Anspruch und keiner abhängigen Suche nach Anerkennung. Die Gestaltwerdung durch eine Eingebung ist ein ähnlich natürlicher Vorgang wie das Erblühen einer Blume. Sie ist vollkommen in Einklang mit dem SEIN und nicht gefärbt von unseren begrenzten Vorstellungen.

Experimentiere:

Wenn du nach einer kreativen Lösung eines Problems suchst oder wenn du künstlerisch tätig werden willst, lass alle Ideen darüber los und geh ganz ins Lauschen.

Verweile im Lauschen, bis eine Inspiration erfolgt. Lass sie Gestalt werden…

Die Mächtigkeit des SEINS

Kunstwerke und Projekte, die aus dem Einklang mit dem SEIN entstehen, entfalten eine große Kraft, die wiederum andere Menschen inspirieren kann. Manchmal können einzelne Menschen aus einer tiefen Inspiration heraus eine Bewegung anstoßen, die weit über ihre Person und sogar weit über ihr Leben hinausreicht. Man denke an die großen Religionsgründer.

Entscheidend ist hier sicherlich nicht, wie spektakulär eine Idee ist oder wie viel Werbung für eine Idee gemacht wird, sondern wie tief ein Mensch in seiner Inspiration gegründet ist. Wenn eine Person von einer Vision beseelt ist, handelt sie aus einer inneren Anbindung. Das macht die Person sehr unabhängig von äußeren Meinungen und Widrigkeiten, die auf jedem Weg geschehen.

So entfaltet sich langsam, aber unbeirrbar eine Wirkung, vergleichbar mit dem langsamen, aber kontinuierlichen Wachstum von Bäumen. Auch wenn mancher Sturm über einen Baum hinwegzieht und mancher harte Winter oder trockene Sommer kommt, er wächst unbeirrt weiter. In seinem Wachstum schaut er nicht auf äußere Umstände, sondern nur auf die lebensspendende Kraft, die sich in ihm ausdrücken will. Er ist vollkommen innenzentriert. So wirkt er im Laufe seines Lebens auf vielfältige Weise weit über sein begrenztes Dasein als Baum hinaus. Gelingt es uns, wie ein Baum aus der Tiefe unserer Inspiration zu leben, werden wir auf eine sehr unspektakuläre Weise weit über unseren begrenzten Radius als Person hinauswirken.

Doch das SEIN wirkt nicht nur in Visionen und Projekten, die aus Momenten von Präsenz entstehen. SEIN hat eine unmittelbare Mächtigkeit, die gespürt wird. Da betritt ein spirituelle Lehrerin die Bühne zu einem Vortrag und es entfaltet sich eine Präsenz im Raum, bevor die Person noch ein Wort gesagt hat. Viele der Zuhörerinnen tauchen in eine Stille ein und empfinden eine Intensität, ohne dass noch etwas geschehen ist oder gesagt wurde.

Hier spüren wir die Mächtigkeit von Präsenz. Tatsächlich wirkt häufig die Präsenz der Vortragenden stärker als der Inhalt, um den es geht. Ich habe schon oft in Vorträgen Menschen beobachtet, wie sie berührt und mit glänzenden Augen zuhören, ohne dass etwas Wesentliches oder Neues gesagt wurde. Sie waren gefesselt von der Präsenz der Vortragenden und nährten sich daran. Der Inhalt des Vortrags war nebensächlich.

Diese Erfahrung machen wir auch beim Hören eines Konzertes. Während manches schwierige und vielleicht sogar virtuos gespielte Solo uns nicht berührt, kann umgekehrt ein einfaches Lied, wenn es nur mit großer Präsenz gespielt oder gesungen wird, uns in seinen Bann ziehen. Was uns berührt und eintauchen lässt, ist nur bedingt die Musik selbst oder ihre technische Schwierigkeit. Ergriffen werden wir von der besonderen Präsenz, mit der ein Musiker diese Musik beseelt.

Besonders deutlich können wir dieses Phänomen bei Ritualen erkennen. Ein Ritual hat eine klare Form, die allen bekannt ist. Trotzdem kann sich auch hier in der gemeinsamen Konzentration auf den Vorgang eine Präsenz entfalten, die intensiv und nährend sein kann. Aber nicht der Inhalt des Rituals wirkt, der ist immer gleich, sondern eine lebendige Präsenz, die sich durch das Ritual entfalten kann.

Es gibt Ereignisse und rituelle Räume, die das Eintauchen in eine gemeinsam erfahrene Präsenz fördern. Große Events zum Beispiel entfalten oft diese Wirkung. Aus diesem Grund lieben es viele Menschen, in die Intensität von Großereignissen einzutauchen. Oft werden sogar Menschen, die an der Sache selbst nicht interessiert sind, in deren Bann gezogen und sind danach begeistert. Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland hat sich in den Straßen eine friedliche Präsenz entfaltet, die viele Nicht-Fußballfans dazu gebracht hat, sich für Fußball zu interessieren.

In all diesen Fällen spüren wir die Mächtigkeit der Präsenz. Doch häufig sind wir uns dieses Vorgangs nicht bewusst. Wir denken, der Vortrag, die Musik, das Ritual oder das Fußballturnier hat uns erfüllt und merken nicht, dass all diese vordergründigen Geschehnisse Beiwerk für eine größere hintergründige Wirkkraft waren – für das SEIN selbst.

Spirituelle Lehrerinnen sind sich dieser Wirkkraft bewusst und lehren ihre Schülerinnen immer vom Ort der Präsenz aus, manchmal ohne Worte, nur durch „ihr“ SEIN. Dabei kann sich bei einer gewissen Reife der Schülerinnen die Präsenz der Lehrerin auf die Schülerinnen übertragen und sie taucht selbst in eine tiefe klare Erfahrung von Präsenz ein. Es wird ein dichtes nichtstoffliches Feld von SEIN erfahren, das jenseits aller Dinge existiert und doch alle Dinge umfasst. Dieser Vorgang wird als „direkte Übertragung“ zwischen Lehrerin und Schülerin bezeichnet und findet jenseits von Worten statt. Was hier wirkt, ist einzig und allein die Mächtigkeit des SEINS und die Fähigkeit der Lehrerin, sich an diese Macht anzubinden.

Die Kunst dabei ist, dass die Lehrerin mehr auf das SEIN schaut und lauscht, und nur sekundär sich auf das Tun des Lehrens oder auf die Schülerinnen konzentriert. Eine reife Lehrerin ist zuallererst da – vollständig. Sie lässt die Aufmerksamkeit weit werden und dehnt die Präsenz, ihr Dasein, ganz aus. In diesem Zustand nimmt die Person ihren Platz mit ihrer Aufmerksamkeit vollständig ein, nicht nur ein bisschen, vorsichtig oder zaghaft, sondern ganz.

Das bewirkt eine Ruhe und Selbstsicherheit, die nicht in ihrer Kompetenz, ihrem Tun oder in alten Überzeugungen („Ich kann oder weiß das“) wurzelt, sondern in der Kraft des SEINS. Sie ist zuallererst da, ganz da. Sie spürt das Feld des SEINS und fühlt sich dadurch getragen. Daher entfaltet sich ein Selbstvertrauen, das unabhängig ist von ihrem Tun und äußeren Reaktionen darauf. Dieses Selbstvertrauen ist unbeirrbar und unerschütterlich. Das hat Macht, die auch andere Menschen spüren und die entsprechend anzieht.

Wenn es uns gelingt, wie eine spirituelle Lehrerin unseren Fokus tief im SEIN verankert zu lassen und nicht immer wieder auf unser Tun oder auf unsere Wirkung auf andere zu schauen, fühlen wir die Kraft des SEINS als Macht, die uns trägt und daher eine unerschütterliche Sicherheit und ein Selbstvertrauen verleiht, von dem unser Ego sonst nur träumen kann. Dieses Selbstvertrauen ist bei genauerem Betrachten nicht persönlich. Es entsteht nicht aus dem Wissen um persönliche Fähigkeiten oder Eigenschaften, also „weil wir so gut, so klug oder so schön sind“. Wir sind wie immer, in aller Unvollkommenheit, und doch haben wir in diesen Momenten Zugang zu einem SEIN jenseits all dieser Fähigkeiten und Eigenschaften.

Dieses Selbstvertrauen kommt daher nicht aus uns, sondern aus dem SEIN selbst. Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, diese Kraft als persönliche Fähigkeit oder als unser Verdienst zu betrachten, sonst führt dies zu einer persönlichen Überhöhung. Das kann schnell dazu führen, dass wir diese Kraft für unsere narzisstische Sehnsucht nach Bestätigung missbrauchen. Über kurz oder lang wird uns jede Egoaktivität, wie zum Beispiel das Sich-Erhöhen über andere, von Präsenz trennen.

Aus diesem Grund gilt im Buddhismus Stolz als eines der klassischen Hindernisse in der Meditation. Stolz ist nichts anderes als eine illusionäre Selbstüberschätzung. Meist ist mit Stolz viel Gedankenaktivität verbunden, in der wir um uns selbst und unseren Wert kreisen. An diesen Gedankenvorgängen können wir erkennen, wenn wir mit Stolz identifiziert sind. Denn das Selbstvertrauen, das aus dem SEIN kommt, kennt kein Gedankenkreisen um sich selbst. Im Gegenteil, wir sind eher im Nicht-Denken, in der Präsenz, zentriert.

 

Experimentiere:

Achte bei Konzerten oder Vorträgen, die dich sehr ergreifen, bewusst auf die Präsenz der Musiker oder Vortragenden und versuche diese von innen her zu spüren.

Nimm dir die Zeit, dich bei eigenen öffentlichen Aktivitäten tiefer an Präsenz anzubinden, bis du ganz „da“ bist. Fokussiere auf das SEIN und lass die Aktivität entstehen.