Im Einklang leben

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1.2 Präsenz und Bedürfnisse

Aufmerksamsein ist der Schlüssel zum SEIN. Würden wir die Bedeutung des Aufmerksamseins in unserer Gesellschaft erfassen, würden wir uns viel mehr damit beschäftigen und vielleicht schon unseren Kindern in der Schule beibringen, dass der Schlüssel zum Glück nicht im Tun, im Erfolg, im Darstellen, im Wissen oder Haben zu finden ist, sondern im schlichten Aufmerksamsein.

Unsere ganze Kultur lenkt unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge: auf Leistung und das Erreichen von Zielen, auf oberflächliche Bedürfnisbefriedigung und auf Prestige, das sich in Aussehen und Statussymbolen zeigt. Doch das meiste Glück, das von unseren Medien erfolgreich beworben wird, ist sekundär und bedingt. Die gesellschaftliche Vorstellung von Glück führt zu einer tiefen Unzufriedenheit mit dem augenblicklichen Leben und stachelt uns dazu an, uns wieder und wieder anzustrengen, um äußere Ziele und materiellen Reichtum zu erreichen.

Natürlich leben wir auch in einer äußeren Welt und haben als Mensch körperliche, seelische und auch soziale Bedürfnisse. Wir tun gut daran, diese ernst zu nehmen und wenn möglich uns darum zu kümmern, wie eine gute Mutter sich um die wahren Bedürfnisse des Kindes kümmert.

Sich aushalten lernen

Doch welches sind unsere wahren Bedürfnisse? Mutter sein ist eine große Kunst. Wenn wir uns wirklich als Eltern um die Bedürfnisse unserer Kinder kümmern wollen, schließt das auch ein, dass wir auf das Kind schauen und unterscheiden lernen zwischen natürlichen Bedürfnissen, deren Erfüllung das Kind zufrieden macht, und Ersatzbefriedigungen, deren Erfüllung das Kind letztlich noch unzufriedener werden lässt. Wenn ein Kind momentan nicht in sich ruht und unzufrieden ist und sich dabei auf eine materielle Ersatzbefriedigung wie den Kauf eines Spielzeuges fixiert, braucht es unsere Klarheit und unsere Begrenzung als Eltern. Erst dann kann es nach einem Augenblick des schmerzhaften Loslassens wieder zu seiner inneren Ruhe finden und seine wahren Bedürfnisse entdecken.

Genauso ist es bei uns Erwachsenen. Viele Menschen fühlen in sich eine große Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit, die sie mit Ersatzbefriedigungen, mit Streben nach Erfolg, Reichtum, Schönheit oder Konsum, zu übertünchen versuchen. Auch hier braucht es unsere Unterscheidungsgabe und unsere Klarheit, uns selbst zu begrenzen und unsere Unzufriedenheiten auszuhalten und ganz zuzulassen. Wie können wir unsere natürlichen Bedürfnisse entdecken, wenn wir unseren Mangel sofort mit Ersatzbefriedigungen zustopfen? Wie können wir uns innerlich finden, wenn wir unsere Ruhelosigkeit und unsere Unzufriedenheit nicht zulassen?

Die Gründe für Unzufriedenheit und ruheloses Suchen nach Ersatzbefriedigungen sind nicht unsere unerfüllten Bedürfnisse, sondern mangelnder Kontakt und mangelnder Friede in uns – letztlich ein Mangel an SEIN. Dieses grundsätzliche Missverständnis kann unser Erleben und unser Verhalten bestimmen. Wir fühlen uns einsam und setzen vielleicht alles daran, diesen Zustand nicht fühlen zu müssen: Wir gehen einkaufen oder bekommen „Hunger“ oder versuchen verzweifelt eine Freundin am Telefon zu erreichen. Doch was uns unruhig macht, ist nicht die Einsamkeit, sondern unser Widerstand gegen diese Einsamkeit. Wenn wir dagegen das einsame Gefühl vollständig in uns zulassen können, dann entsteht Ruhe und ein tiefer Kontakt nach innen. Es entsteht mehr SEIN. Wir sind dann mit der Einsamkeit. Die Folge ist, dass sich ein innerer Frieden ausbreitet und wir ein inneres Angebundensein spüren.

Reflektiere:

Welche natürlichen Bedürfnisse gibt es in deinem Leben?

Wie kümmerst du dich darum?

Welche typischen Ersatzbefriedigungen kennst du von dir?

Wie fühlst du dich, nachdem du ihnen nachgegeben hast?

Damit ein innerer Kontakt entstehen kann, müssen wir lernen, uns auszuhalten, wie eine starke Mutter ihr unzufriedenes, unglückliches Kind. Wir „halten“ uns in unserer Unzufriedenheit und erlauben uns dadurch, sie ganz zu fühlen und ganz damit zu sein. Das ist oft nicht einfach und erfordert eine große Bereitschaft, unangenehmen Zuständen nicht auszuweichen. Haben wir die Kraft und Offenheit, mit dem Unangenehmen zu sein? Mit der Unzufriedenheit? Mit der Hilflosigkeit? Mit dem Schmerz und dem Widerstand dagegen?

Oft wehren wir uns wie ein kleines Kind, wenn die Mutter sagt, dass es das Spielzeug jetzt nicht gibt. Widerstand ist eine natürliche Phase im Prozess des Loslassens. Das müssen wir wissen, sowohl als Eltern, wenn wir unser Kind begrenzen, als auch wenn wir uns selbst „halten“. Widerstand, der sich durch Festhalten, Diskussionen oder Wut ausdrückt, wird mehr oder weniger immer auftreten, wenn wir ein Kind oder uns selbst begrenzen, da dieser schon vorher da war. Er ist ja der Grund dafür, warum wir nach einer Ersatzbefriedigung suchen. Wird uns diese genommen, fühlen wir den eigentlichen Motor für unser Verlangen, den Widerstand.

Mit dem Widerstand zu sein ist eine hohe Kunst. Wer Kinder hat, weiß das. Der Widerstand ist manchmal massiv und wird sich zeitweise gegen uns Eltern wenden. Wenn wir versuchen, den Widerstand zu brechen, wird das Drama noch größer, da wir dem Kind dann die Botschaft vermitteln, dass der Widerstand nicht in Ordnung ist. Aber der Widerstand ist ein natürlicher Prozess und zutiefst richtig, und alles, was es in diesem Moment braucht, ist, dass wir dem Widerstand Raum geben und das Kind darin „halten“. Dann wird es zunächst den Widerstand ganz fühlen und dann den eigentlichen Schmerz, der im Widerstand abgewehrt wird.

Wenn wir den Widerstand als natürliche Phase des Loslassens begreifen, wird es uns leichter fallen, unsere Kinder und uns selbst mit unseren Widerständen „halten“ zu können. Wir werden dann nicht „vernünftig“ auf uns einreden, dass wir jetzt annehmen sollen, sondern werden uns erlauben, die Phase des Widerstandes ganz zu fühlen. Das wird uns von selbst ruhiger machen und uns mit dem darunterliegenden Schmerz oder Mangel in Kontakt bringen.

Reflektiere:

Wie bist du als Kind von deinen Eltern „gehalten“ worden?

Wie kannst du dich selbst „halten“ in Momenten der Unzufriedenheit?

Experimentiere:

Achte auf typische Momente von Unruhe und Unzufriedenheit.

Gib den Gefühlen dabei ganz Raum und bleib dabei. Umfasse sie mit deiner Präsenz.

Unser Urbedürfnis

Betrachten wir diesen Prozess, „uns zu halten“, genauer, werden wir erkennen, dass die transformatorische Kraft das SEIN – die Präsenz – ist. Wir sind zunächst präsent mit der Unzufriedenheit und agieren sie nicht aus. Dann sind wir präsent mit dem Widerstand und schließlich mit dem darunterliegenden Mangel oder Schmerz. In jeder Phase braucht es lediglich unsere Präsenz, kein Tun, keine Vorschläge und keine Veränderungsversuche, damit sich der Prozess in seiner natürlichen Weise entfalten kann.

Schließlich wird der eigentliche Mangel an SEIN für uns sicht- und fühlbar. Und auch hier braucht es nur unsere Präsenz, unsere Fähigkeit, mit dem Mangel ganz zu sein, damit sich mit der Zeit mehr SEIN und damit mehr innere Verbindung einstellt. Der Mangel füllt sich von innen her auf, durchs SEIN, und wir sind wieder friedlich. Kinder zum Beispiel, die auf diese Weise „gehalten“ werden, finden oft bereits nach kurzer Zeit des Dramas wieder zu sich und spielen friedlich. Sie ruhen in sich und folgen ihren natürlichen Bedürfnissen.

So ist es auch mit uns Erwachsenen. Ruhen wir im SEIN, werden wir unsere natürlichen Bedürfnisse erkennen und ihnen Raum geben. Wir sorgen für uns und leben unser Leben von einem „Ort“ der Ruhe und des Erfülltseins aus. Dadurch entfaltet sich eine völlig andere Wirkung auf uns und unser Leben, als wenn wir von Unzufriedenheit und Unruhe getrieben sind. Im einen Fall jagen wir der Erfüllung unserer Bedürfnisse nach und finden selbst dann keine wirkliche Ruhe, wenn sie erfüllt werden. Im anderen Fall sind wir bereits erfüllt von SEIN und unsere Bedürfnisse werden unser Leben zusätzlich bereichern. Wenn sie einmal nicht erfüllt werden, können wir uns sehr leicht dem augenblicklichen Lebensfluss hingeben, da etwas anderes in uns trägt – das SEIN.

Was erfüllt, ist das SEIN. SEIN trägt und nährt uns auf geheimnisvolle Weise. Oft sind wir uns dessen nicht bewusst und glauben, dass die Erfüllung eines Wunsches uns nährt. Aber wenn wir es genauer betrachten, werden wir sehen, dass in einem Moment der Erfüllung eines natürlichen Bedürfnisses ein Loslassen stattfindet, eine Entspannung und damit ein Einsinken – ein mehr SEIN können. Auch hier erfüllt das SEIN, nicht das Stillen eines Bedürfnisses. Wie wäre es sonst erklärbar, dass es viele arme Kulturen auf dieser Erde gibt, deren Menschen oft größere Zufriedenheit ausstrahlen als die Menschen in den reichen westlichen Industrienationen?

Sind wir im SEIN gegründet, werden Bedürfnisse auftreten und Handlungen geschehen wie die Bewegung der Blätter im Wind, aber das, was trägt, ist viel grundlegender und umfassender. Wie bei einem Baum, dessen Saft aus den Wurzeln aufsteigt, um jedes Blatt zu nähren, werden auch wir genährt aus dem SEIN und nicht aus dem Tun oder der Erfüllung unserer Bedürfnisse. Das können wir auch daran sehen, wie wichtig für uns Menschen der Schlaf ist. Er nährt uns auf eine geheimnisvolle Weise. Haben wir gut geschlafen, sind wir entspannt, zufrieden und voller Energie. Schlafen ist unsere natürlichste Meditation als Mensch. Schlafen verbindet uns mit SEIN und lässt uns auftanken.

Insofern ist das grundlegendste aller Bedürfnisse – unser Urbedürfnis – das Bedürfnis nach SEIN, und jeder Moment von Präsenz, in dem wir uns des SEINS bewusst sind, verbindet uns mit unseren Wurzeln und nährt uns. Gelingt es uns, das SEIN in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen, werden wir unabhängig von den äußeren Lebensumständen ein erfülltes und friedliches Leben führen.

 

Reflektiere:

Erinnere dich an intensive Momente von SEIN?

Was erfüllt dich in einem solchen Moment?

Wie erlebst du in diesen Momenten deine Bedürfnisse?

1.3 Präsenz im Alltag

Je tiefer wir begreifen, wie wesentlich das SEIN für unsere Erfüllung und unseren inneren Frieden ist, desto mehr werden wir unsere Sehnsucht und unsere Aufmerksamkeit auf das SEIN ausrichten. Das gilt nicht nur für die Meditation, sondern ebenso für unseren Alltag, fürs Gemüseschälen, fürs Arbeiten, für das Gespräch mit einem Freund. Das bedeutet nicht, dass wir ständig in stiller Versenkung sind, was im Alltag gar nicht möglich und nicht angemessen wäre, sondern dass wir zuerst darauf achten, zu SEIN, bevor wir handeln oder sprechen. Unser Ausgangs- und Ankerpunkt ist die Präsenz – das bewusste SEIN.

Erst mal sein

Stellen wir uns vor, wir besuchen einen Freund und freuen uns darauf. Wir kommen in seiner Wohnung an und sofort reden wir aufgeregt aufeinander ein und teilen uns unsere Erlebnisse mit. Doch sind wir schon seelisch an diesem neuen Platz angekommen? Nehmen wir uns die Zeit, auch in der vertrauten Beziehung wieder neu anzukommen? Sind wir schon wirklich da? Wie anders würden doch der Kontakt und das Gespräch verlaufen, wenn wir uns die Zeit ließen, erst anzukommen.

Dabei sollten wir uns bewusst machen, dass unser Leben immer aus Übergängen besteht. Nicht das Gleichbleibende ist das Natürliche, sondern der ewige Wandel der Situationen, auch wenn wir manchmal denken und hoffen, dass es andersherum ist. So wie die Jahreszeiten kommen und gehen, besteht auch unser Leben aus ständigen Übergängen. Nicht nur große Lebensabschnittsübergänge wie der Übertritt ins Berufsleben, Mutter oder Vater zu werden oder der Verlust einer Beziehung fordern von uns eine seelische Verdauungs- und Reifungsphase. Auch die vielen kleinen Übergänge des Tages, vom Frühstück in die Arbeitssituation und wieder zurück, vom Alleinsein zum In-Beziehung-Sein und zurück, erfordern ein ständiges seelisches Ankommen und sich neu Einstellen.

Reflektiere:

Betrachte einen einzigen Tagesablauf. Wie viele kleine und große Übergänge finden darin statt?

Wie viel Zeit zum Ankommen nimmst du dir bei den Übergängen?

Ankommen bedeutet, als Erstes zu spüren, wie wir uns gerade seelisch in einer neuen Situation fühlen und dieses innere Erleben bewusst zuzulassen. Wenn wir uns erlauben zu fühlen, dass wir zum Beispiel noch nicht da sind oder uns fremd fühlen, und diese Empfindungen ganz zulassen, werden wir mehr und mehr ankommen. Wir können dann mit dem, wie es ist, sein und darin ankommen. In dem Moment, in dem es uns möglich ist, wirklich da zu sein, können wir auch die Aufmerksamkeit auf das SEIN selbst richten und Präsenz erfahren.

Ist Präsenz erlebbar, sind wir da. Wir sind innerlich im Kontakt und ruhig. Ein inneres Erfülltsein breitet sich aus. Von diesem „Ort“ aus gestaltet sich die Beziehung zu einem Freund anders, entspannter und offener. Von hier aus haben wir die Freiheit, jenseits von Gewohnheiten und Vorstellungen zu schauen, welche Art von Kontakt zwischen uns und unserem Freund tatsächlich gerade wirkt und können dem augenblicklichen Beziehungspotenzial Ausdruck verleihen.

Das gilt für alle Beziehungen und alle Situationen. Können wir zuerst SEIN, entfaltet sich die jeweilige Situation natürlich. Eine besondere Art von Freiheit macht sich bemerkbar. Die Freiheit, dass sich die Situation oder die Beziehung auf ihre augenblickliche, natürliche Weise entfalten kann. SEIN ist unbedingt und frei von Vorstellungen und Vorlieben. Frei von Vergangenheit und Zukunft. Frei von allem. Kein Wunder, dass wir aus der Präsenz heraus uns anders beziehen können als aus unserem alltäglichen Verstand, der unbewusst durch Gewohnheiten, Vorstellungen und Vorlieben bestimmt ist.

Wenn ich Menschen einzeln begleite oder wenn ich Gruppen leite, nehme ich mir zuerst immer einen Moment des SEINS. Präsenz ist die Basis meiner Arbeit mit Menschen und macht sie leicht und wirkungsvoll. Als ich anfing als Therapeut zu arbeiten, hatte ich noch viele Vorstellungen darüber, wie eine Gruppe ablaufen muss, damit Heilung geschieht. In dieser Zeit war mein Beruf manchmal für mich und die Gruppenteilnehmerinnen und -teilnehmer anstrengend. Doch heute sehe ich deutlich, dass der Grund für die Anstrengung meine therapeutische Vorstellung war, nichts weiter. Seit ich mich am SEIN orientiere und damit mich und alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sein lasse, ist meine Arbeit anstrengungslos und intensiv gleichzeitig.

Experimentiere:

Nimm dir bewusst Zeit, bei Übergängen in eine neue Situation erst seelisch anzukommen.

Verweile, bis du SEIN kannst und die Präsenz spürst und handle erst dann.

Reflektiere anschließend, wie sich daraus die neue Situation oder der Kontakt entwickelt hat.

Etwas sein lassen

Präsenz ist der Ankerpunkt für ein spirituelles Leben. Wenn wir unser Leben aus dem SEIN heraus gestalten wollen, kommen wir nicht umhin, uns immer und immer wieder zu fragen, ob wir gerade aus der Präsenz heraus leben oder aus unserem Ego. Das Ego lebt aus vergangener Erfahrung, aus Gewohnheit und Vorstellung. Können wir in einer neuen Situation, in einer neuen Begegnung erst einmal sein und das SEIN spüren, bevor wir agieren? Können wir erst SEIN, bevor wir mit der Arbeit beginnen? Nehmen wir uns einen Moment von Präsenz, bevor wir ein schwieriges Beziehungsgespräch führen?

Es macht einen großen Unterschied, ob wir mit einer Situation sein können und das SEIN spüren und dann handeln, oder ob wir handeln, weil wir nicht damit sein können. Im einen Fall sind wir innerlich verankert und frei für das Potenzial des Augenblicks. Im anderen Fall sind wir lediglich Spielball der Situation und unserer unbewussten Abwehrreaktion darauf. Echte Entfaltung und kreatives Sich-Beziehen ist hier nicht möglich.

Die Herausforderung eines spirituellen Lebens besteht darin, immer wieder erst mal zu SEIN. In jeder neuen Situation, in jedem Kontakt sich zu erinnern, erst mal zu SEIN. Erst dann wird das SEIN zur Grundlage unseres Wirkens und nicht dadurch, dass wir einmal am Tag meditieren. Meditation ist hilfreich, uns an das SEIN zu erinnern und uns darin anzubinden, aber es darf zu keiner isolierten Praxis werden, sonst verliert es die wahre Bedeutung. So zeigt sich ein spirituelles Leben nicht daran, wie lange oder wie oft wir meditieren, sondern daran, wie sehr wir unser Leben aus dem SEIN heraus gestalten.

Experimentiere:

Versuche dich so oft wie möglich an das SEIN zu erinnern.

Schaff dir kleine Pausen zwischen zwei Tätigkeiten, um dich ans SEIN zu erinnern.

Schaff dir Erinnerungshilfen im Alltag: kleine Rituale, Ruhepunkte, Symbole fürs SEIN.

Das SEIN zu spüren und daraus zu leben ist nur möglich, wenn wir mit einer Situation sein können, sie also auch sein lassen können. Sind wir dagegen mit unserem Wollen und unseren Plänen und Wünschen verhaftet, wird Präsenz für uns nicht zugänglich sein. Das Festhalten an Plänen, Wünschen und Vorstellungen wirkt wie ein Panzer, der uns hart macht und abschottet nach außen und nach innen. Wir sind nicht mehr durchlässig. Nach außen wehren wir uns gegen die Welt, so wie sie ist, und wollen das Leben nach unseren Vorstellungen manipulieren. Unser Leben wird dadurch von Kontrolle und Anstrengung bestimmt anstatt von Vertrauen und Hingabe. Nach innen schneiden wir uns vom SEIN ab und haben damit keinen Zugang mehr zu der nährenden und inspirierenden Kraft, die aus dieser Quelle kommt.

Um diesen Panzer aufzulösen, ist vielleicht der wichtigste Schritt das Zulassen. Zu lernen, Situationen und auch uns selbst erst mal sein lassen zu können. Dann können wir entspannen und loslassen. Die Situation kann so sein, wie sie ist, und wir können so sein, wie wir gerade sind. Es braucht keine Anstrengung und keine Kontrolle mehr, überhaupt kein Tun. In diesem Moment des Sich- Überlassens sind wir frei. Unsere Aufmerksamkeit ist nicht mehr gebunden und wir können uns wieder dem Lauschen hingeben, dem ungerichteten, absichtslosen Aufmerksamsein als Tor zur Präsenz.

Experimentiere:

Versuche in Situationen, in denen etwas für dich schwierig ist, nicht sofort zu handeln, sondern erst mal damit zu sein.

Sich mit dem Ego versöhnen

Je öfter wir aus den Vorstellungen des Egos aussteigen und die Dinge sein lassen und uns immer wieder ins SEIN hinein entspannen, desto mehr verliert der Panzer unseres Egos seine Starre und seine Macht über unser Leben. Präsenz transzendiert das Ego. Um sich dem SEIN zu öffnen, müssen wir alle Egoaktivität für einen Augenblick loslassen, und je häufiger das geschieht, desto mehr verschiebt sich das Zentrum unseres Lebens vom Tun zum SEIN, von der Kontrolle zum Vertrauen, von der Anstrengung zur Entspannung, von den Selbstbildern zur Natürlichkeit, von den Zielen zur Hingabe, von den Vorstellungen zur absichtslosen Offenheit.

Natürlich ist diese Transformation ins SEIN ein langer, oft lebenslanger Vorgang. Unsere Gewohnheit, uns mit Vorstellungen, Selbstbildern und Zielen zu identifizieren, ist tief verankert und wieder und wieder, oft unbewusst, werden diese Egomuster das Kommando übernehmen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die fortwährend die Vorstellungen des Egos unterstützt und bestätigt. Selbstwert wird zum Beispiel in unserer Kultur mit Prestigeobjekten und angesehenen Berufen verknüpft, also mit Haben und Darstellen, und nicht mit Natürlichkeit. Dadurch bekommt das Ego ständig neue Nahrung.

Das kann uns manchmal entmutigen. Doch auch wenn wir immer wieder in alte Gewohnheiten von Kontrolle und Vorstellungen zurückfallen, gewinnen wir doch zunehmend die Freiheit, diese Mechanismen zu erkennen und daraus auszusteigen, wenn sie aktiv sind. Wir entwickeln ein Bewusstsein davon, dass es ein Leben gibt jenseits unserer Alltagsidentifizierungen und dass wir unsere Wirklichkeitsperspektive wechseln können.

Manche Menschen betrachten diesen Vorgang, das Ego zu transformieren, als Kampf. Sie wollen das Ego besiegen. Sie denken vielleicht sogar, dass sie es schaffen können, in einer einzigen großen Schlacht das Ego auszurotten. Vielleicht durch einen langen Meditationskurs. Doch auch dieser Wunsch, das Ego mit seinen Mechanismen auszurotten, ist eine Kontrollvorstellung und kommt aus dem Ego. Dies führt zu Kampf und letztlich zu Frustration. Es ist das alte Missverständnis, dass wir das Übel ausrotten wollen, statt es zu integrieren und zu transformieren. Wir versuchen die Terroristen zu vernichten und geben ihnen dadurch Macht und säen den Boden für neuen Terrorismus. Wir bekämpfen Krieg mit Krieg und erzeugen noch mehr Leid und immer neue Konfliktfelder. Und genauso kämpfen wir gegen unsere Gewohnheitsmuster an und erzeugen doch nur neue Konflikte und Verdrängungsmuster damit.

Das Ego können wir nicht ausrotten, aber wir können immer wieder zu einer anderen Wirklichkeit erwachen. Zu einer Wirklichkeit des SEINS. Diese Wirklichkeit kann das Ego und unser In-der-Welt-Sein mehr und mehr durchwirken. Aus dieser Perspektive ist das Ego kein Feind, sondern eine sehr menschliche Lebensperspektive, in der wir versuchen, mithilfe von Vorstellungen und Kontrolle unser Leben zu meistern. Das ist eine natürliche, menschliche Eigenschaft und verdient Respekt, selbst wenn diese Lebenseinstellung uns und andere oft leiden lässt.

Vielleicht können wir eine liebevolle Beziehung auch zu dieser Seite unseres Lebens aufbauen, ähnlich dem liebevollen Gefühl, das entsteht, wenn wir ein kleines Kind beobachten, das im Spiel versucht, den Mond zu greifen. Ein liebevolles Lächeln kommt nicht aus Besserwisserei oder Überheblichkeit, sondern aus Verstehen, Respekt und Liebe. Wenn wir so unsere Egoseite betrachten, wie wir immer wieder von Vorstellungen und Kontrolle bestimmt sind, können wir uns auch mit dieser Seite versöhnen. Wir werden dann nicht darum kämpfen, das Ego zu überwinden, sondern es warmherzig beobachten. Leben ist dann ein fortwährendes Spiel, immer wieder die Perspektive zu wechseln, von der Lebensperspektive des Egos zum SEIN und wieder zurück.

Diese versöhnte Einstellung bringt Entspannung und Annahme mit sich. Wir müssen nichts ausgrenzen und nicht anders oder besser werden, und doch entwickelt sich eine zunehmende Bewusstheit, die innere Freiheit bringt. Das ist die Perspektive des SEINS, das nichts ausgrenzt und alles annimmt. Daher bringt die Versöhnung mit dem Ego eine innere Haltung mit sich, die in Übereinstimmung mit der Haltung des SEINS ist. Dies wird allmählich eine Umwandlung unserer Egostrukturen bewirken, und die Grundhaltungen des SEINS werden mehr und mehr unser Leben durchwirken.

 

Reflektiere:

Visualisiere dein Ego fantasievoll als innere Gestalt.

Welche Beziehung hast du zu dieser Person?

Was würde sich ändern, wenn du eine liebevolle, verständnisvolle Beziehung wie eine gute Mutter dazu aufbauen könntest?