Im Einklang leben

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Präsenz

Hat die Natur nicht eine eindrückliche Präsenz? Wenn wir an einem Bach sitzen, auf das Spiel der Wellen schauen und dem Geräusch der Blätter im Wind lauschen, kann sich uns ein zeitloses Dasein offenbaren. Hier gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur die schlichte Gegenwart. Jeder Fluss, jeder Baum und jede Wolke kann uns als Gefährt dienen, um in diese zeitlose Präsenz einzutauchen. Unsere Seele kommt zur Ruhe und lässt sich nieder. Wir sind da.

Wie anders ist doch oft unsere Alltagserfahrung als Mensch? Wir verreisen zum Beispiel mit dem Auto oder dem Zug, steigen nach Hunderten von Kilometern aus und sind angekommen. Aber sind wir wirklich angekommen? Oft dauert es Stunden, manchmal sogar Tage, bis wir uns in der neuen Umgebung angekommen fühlen. Bis wir sagen können: Wir sind anwesend, wir sind da.

Geben wir uns die Zeit, am neuen Ort anzukommen? Meist geht das Leben sofort weiter. Wir begrüßen in der neuen Umgebung Menschen, erledigen die äußeren Alltagserfordernisse ungeachtet unseres Gefühls, noch gar nicht da zu sein. Wir sind innerlich noch nicht angekommen, aber funktionieren und handeln bereits äußerlich weiter.

In diesen Situationen haben wir kein Gefühl für uns. Wir fühlen uns fremd und merkwürdig leer und ausgehöhlt. Es ist ein Gefühl, als ob wir in der neuen Situation nicht „drin“ sind und sie erscheint uns seltsam unwirklich, wie ein Film. Und auch innerlich fühlen wir uns seltsam distanziert von uns selbst. In diesen Momenten spüren wir sehr deutlich, wie unangenehm es sich anfühlt, wenn wir seelisch nicht präsent sind.

Eigentlich sind diese Momente kostbar. Es sind Augenblicke der Bewusstheit. In ihnen werden wir an die grundlegende Kraft der Präsenz, des Daseins, erinnert. Wir spüren hier einen grundlegenden Mangel an SEIN.

Das ist durchaus wertvoll. Denn wie oft sind wir im Leben nicht anwesend und sind uns dessen nicht bewusst? Wie oft verlieren wir uns in Gedankenschleifen – eine innere Geschichte jagt die nächste –, ohne uns unserer inneren Entfremdung bewusst zu sein? Oder wir sind emotional aufgewühlt und Stunden oder Tage davon vereinnahmt und spüren in unserer Angst oder dem Schmerz nicht mehr, dass es etwas Grundlegenderes gibt als diese Emotionen – unser Dasein. Oder wir sind völlig mit Pflichten und Alltagsaufgaben identifiziert und merken oft erst nach Tagen oder Wochen des Funktionierens, dass wir in dieser Zeit mit unserem grundlegenden Lebendigsein nicht in Kontakt waren.

Was für ein völlig anderes Lebensgefühl ist es doch, wenn wir anwesend sind. Wenn wir in Augenblicken der Muße ankommen, wo der Verstand schweigt und wir entspannt am Bach sitzen und den Wellen und dem Geräusch der Blätter im Wind lauschen. Wir fühlen uns wieder. Da ist das Empfinden von Raum und Lebendigsein, ohne etwas zu tun. Wir sind angekommen.

Experimentiere:

Nimm dir Zeiten der Muße und gehe in die Natur. Tauche in die Sinnesempfindungen ein – ganz Schauen sein, ganz Hören sein, ganz Spüren sein, ohne Denken und ohne Verstehen.

Schlafen und Erwachen

SEIN ist absolut grundlegend, die Grundlage unseres Lebens. Wie können wir unseren Alltagsgeschäften nachgehen, wenn wir nicht existieren? Wie könnten wir denken und Gefühle haben, wenn wir nicht sind? Wie könnten wir die Sonnenstrahlen genießen ohne die Grundlage unserer Existenz? Und doch ist uns dieses grundlegende SEIN sehr oft nicht bewusst. Es ist so selbstverständlich wie der Boden, der uns trägt, und die Luft, die wir atmen. Es ist selbstverständlich und genau dadurch wird es im Alltag kaum mehr wahrgenommen.

Dabei ist SEIN keine Idee, keine Vorstellung und auch keine Schlussfolgerung, nach dem Motto: „Ich denke, also bin ich.“ SEIN ist keine gedankliche Realität, sondern die grundlegende Basis unseres Daseins als Mensch und diese Basis ist erfahrbar. Sie muss nicht erdacht oder geschlussfolgert werden. Erst wenn sie für uns zu einer erfahrbaren Realität wird, jenseits von Gedanken und Schlussfolgerungen, entfaltet sie ihre Wirkkraft und kann uns und unser Leben spürbar durchdringen und bereichern.

In einer Legende von Buddha wird erzählt, dass er nach seinem grundlegenden Erwachen übers Land wandert und zwei Mönche trifft. Den Mönchen fällt sofort die außergewöhnliche Ausstrahlung von Frieden auf, die den Buddha umgibt. Also fragen sie ihn: „Wer bist du? Bist du ein Gott?“ Buddha antwortet mit einem schlichten: „Nein.“ – „Bist du ein Zauberer?“ Und wieder antwortet Buddha mit: „Nein.“ – Die Mönche fragen weiter: „Bist du ein Mann?“ – „Nein.“ – „Bitte sag uns doch, wer bist du?“ Und Buddha antwortet: „Ich bin wach.“

Was meint Buddha, wenn er sagt: „Ich bin wach“? Es klingt, als ob er uns darauf hinweisen wollte, dass wir alle normalerweise schlafen. Unsere normale Lebenswirklichkeit scheint für Buddha also ein Traum zu sein. Das, was wir als Wachzustand und als Wirklichkeit bezeichnen, ist für ihn ein Traum, aus dem man erwachen kann.

Ein Traum ist eine bunte subjektive Welt, in die wir eintauchen können und die unser Erleben einfärbt. Wir können uns aber auch des Traumes bewusst werden und daraus erwachen, vergleichbar mit einem Kinobesuch. Wir tauchen in eine bunte Welt ein und freuen uns oder leiden mit den Figuren mit, aber dann treten wir wieder ins Freie und erwachen zu einer anderen Wirklichkeitsperspektive.

Genauso erleben wir diesen Vorgang bei nächtlichen Träumen. Obwohl wir sie als äußerst intensiv und real erleben können und vielleicht sogar dabei vor lauter Angst ins Schwitzen kommen, wachen wir irgendwann auf und es bleibt nur noch eine schwache Erinnerung. Ein flüchtiges Spiel. Wir sind erwacht in eine andere Wirklichkeit, in die des Alltagsbewusstseins, und diese erscheint uns jetzt viel realer.

Solch eine Art von Erwachen scheint Buddha erfahren zu haben, allerdings kein Erwachen aus einem nächtlichen Traum, sondern aus dem Traum der normalen Lebensrealität mit Gedanken, Sorgen, Plänen, Emotionen und Vorlieben. Plötzlich erscheint ihm diese normale menschliche Realität, in der wir mit Rollen und Vorstellungen identifiziert sind, als traumgleich. Aus diesem Grund verneint er auch die Frage: „Bist du ein Mann?“, obwohl er offensichtlich männlich ist. Für Buddha ist sogar die menschliche Identität als Mann ein flüchtiges Spiel. Er ist erwacht zu einer anderen Lebenswirklichkeit.

Reflektiere:

Welche Vorstellung hast du vom Erwachen? Glaubst du, dass du dann über den Dingen stehst oder dass du übernatürliche Fähigkeiten gewinnst? Hoffst du, dadurch einen besonderen Wert als Mensch zu bekommen? Denkst du, dass du dadurch keine unangenehmen Gefühle oder Schmerzen mehr haben wirst?

Sein oder „Ich bin“

In welche Wirklichkeit ist er erwacht? Was hält Buddha für realer und grundlegender als unser menschliches Denken, Fühlen und Handeln? Es ist die allem zugrunde liegende Lebensrealität – das SEIN.

Das ist leicht zu sehen. Betrachten wir noch einmal die Geschichte. Da fragen die Mönche Buddha nach seiner Identität: „Wer bist du?“, und er antwortet: „Ich bin wach.“ Buddha meint also, das, was er im Innersten ist, ist Wachheit. Dies ist keine Aussage über sein momentanes Empfinden oder seinen momentanen Zustand, sondern über seine grundlegende Identität, über das, was er zutiefst ist – Wachheit oder Bewusstsein.

Damit will Buddha nicht ausdrücken, dass es Gefühle und Gedanken für ihn nicht mehr gibt. Die ganze Welt der Erscheinungen, der Rollen und Beziehungen und Alltagsaufgaben, ist weiterhin da. Auch sein männlicher Körper ist noch da. Alles, was menschliches Leben ausmacht, kann auch Buddha in seinem erwachten Zustand erfahren. Aber er identifiziert sich damit nicht. Er hat erkannt, dass das, was er ist, also seine grundlegende Identität, viel grundlegender ist als alle Erscheinungen dieser Welt. Und diese Identität ist Wachheit.

Wach zu sein, verbinden wir normalerweise damit, mit klaren Sinnen denken, hören oder sprechen zu können. Wenn wir wach sind, sind wir uns der augenblicklichen Situation bewusst. Wachheit braucht Bewusstheit. Genauer: Wachheit ist nichts anderes als Bewusstheit. Wenn sich beim Lesen des Buches jetzt eine Wachheit einstellt, dann ist sich der Lesende des Lesens bewusst. Das ist bereits ein kleines Aufwachen. Nicht unbewusst zu lesen, zu atmen und zu denken, sondern sich des Lesens und Atmens und Denkens bewusst zu sein. Dieses Aufwachen nennt man Achtsamkeit und wird in den meisten spirituellen Schulen als Grundlage des Weges in der Meditation eingeübt.

Doch Buddha spricht hier nicht von Achtsamkeit. Er meint nicht, dass er sich gerade der augenblicklichen Erfahrung bewusst ist, sondern er spricht über seine Identität. Er sagt: „Ich bin wach.“ Oder anders ausgedrückt: „Ich bin Bewusstsein.“

Was ist die Grundlage dafür, achtsam sein zu können? Die Grundlage dafür, sich jetzt des Atmens bewusst zu sein? Es ist das Bewusstsein selbst. Auch diese Fähigkeit des Bewusstseins kann uns bewusst werden. Das ist keine Frage von Reflexion oder von Schlussfolgerung, sondern von unmittelbarer Aufmerksamkeit. Wir können uns des Bewusstseins unmittelbar bewusst werden als die innerste Dimension unserer menschlichen Wirklichkeit.

Am leichtesten ist dies möglich in Situationen, in denen wir völlig unabgelenkt von unseren Sinnen und Gedanken aufmerksam sind. Stellen wir uns vor, wir sitzen alleine in einer stillen, großen Kirche. Die Atmosphäre von Stille und einem sakralen weiten Raum umfängt uns. Wir werden innerlich ganz ruhig und schließen die Augen. Wir lauschen der Stille. Wir hören nichts, lauschen mit einer immer feiner werdenden Aufmerksamkeit. Wir sind nur noch Lauschen. Wir sind Aufmerksamkeit. Kein Geräusch, kein Gedanke, kein Gefühl. Nur reines Aufmerksamsein.

 

In einem solchen Moment verdichtet sich unser Erleben. Wir erfahren eine reine, intensive Form des Aufmerksamseins, des Lauschens. Und wir werden uns unseres Seins bewusst. Eines Seins, das noch unbedingt ist, frei von Gedanken und Gefühlen, frei von dem, was wir normalerweise sind und womit wir uns immer beschäftigen. Hier herrscht ein klares Erleben von SEIN, von „Ich bin“, ungeformt und ungerichtet.

Das ist ein Erwachen in die Lebenswirklichkeit von SEIN. Eine Wirklichkeit, die unserem In-der-Welt-Sein zugrunde liegt. Eine reine ungeformte Wirklichkeit, aus der alle menschlichen Erfahrungen und Formen erst entstehen. Es ist die Urerfahrung, frei von Konditionierung und Konzepten die Urerfahrung „zu sein“, oder anders ausgedrückt, die unmittelbare Erfahrung von „Ich bin“, von Existenz.

Auch in der Bibel wird auf diese Urerfahrung hingewiesen, als Gott Moses im Alten Testament seinen geheimnisvollen Namen offenbart: „JAHWE“. Übersetzt bedeutet dies: „Ich bin der Ich-bin.“ Die Mystikerinnen aller Zeiten suchten die Verwirklichung dieser direkten Erfahrung von Gott oder SEIN. Der Schlüssel zu diesem unbedingten SEIN ist reines Aufmerksamsein.

Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zum SEIN. Aber nicht fokussierte Aufmerksamkeit, sondern reines, ungerichtetes Aufmerksamsein. Je unmittelbarer wir in dieses unfokussierte Aufmerksamsein – wir könnten es auch Lauschen nennen – eintauchen, desto klarer entsteht die Erfahrung von Existenz, von „Ich bin“. Diese Erfahrung von SEIN wird Präsenz genannt. Es ist ein klares, intensives Erleben einer dichten immateriellen Substanz – ein Feld von SEIN.

Je deutlicher diese Präsenz, dieses Bewusstseinsfeld auftaucht, umso klarer erkennen wir, dass dieses Feld die Grundlage allen Seins ist. Sie ist die Grundlage unseres Seins als Mensch, unseres Körpers und unseres gesamten Erlebens. Ganz allmählich, je öfter wir die Erfahrung von Präsenz machen, fängt unsere Sichtweise von uns selbst an, sich zu ändern. Wir erkennen immer mehr, dass wir nicht ein Mensch mit bestimmten Eigenschaften sind, der die Erfahrung von Präsenz macht, sondern dass unsere innerste Natur SEIN ist, die die Erfahrung eines Menschen mit bestimmten Eigenschaften hervorbringt.

Plötzlich geht es uns wie der Nonne, die davon träumte, ein Schmetterling zu sein und beim Aufwachen nicht mehr wusste, ob sie, die Nonne, geträumt hatte, oder ob sie nicht in Wirklichkeit der Schmetterling ist, der gerade von einer Nonne träumt. Unsere Welt steht kopf und für eine gewisse Zeit kann dies sehr verwirrend sein. Doch letztlich wird sich immer mehr im Erleben von Präsenz das Erkennen durchsetzen, dass unsere grundlegende Identität das SEIN ist und nicht unsere begrenzte vorübergehende Form als Mensch. Jetzt verstehen wir auch die Aussage Buddhas: „Ich bin wach.“ Er hat seine wahre Identität erkannt: ungeformtes SEIN, das erfahren wird durch reines, ungerichtetes Aufmerksamsein.

Experimentiere:

Erinnere dich in Alltagbezügen immer wieder an das Aufwachen. Wache dabei immer wieder aus der Automatik und Unbewusstheit einer alltäglichen Verrichtung auf und sei dir des Vorgangs bewusst. Wie verändert sich dabei dein Erleben?

1.1 Zugänge zu Präsenz

Präsenz ist die Urerfahrung unserer Existenz, unseres Seins, und insofern eine andere Art von Erfahrung als unsere üblichen Alltagserfahrungen. Normalerweise nehmen wir immer innere und äußere Objekte wahr, Gedanken, Empfindungen oder Geräusche und visuelle Eindrücke. Aber in der Erfahrung der Präsenz richtet sich der Fokus unserer Aufmerksamkeit auf das Aufmerksamsein selbst. Hier gibt es kein Objekt, sondern nur SEIN, ungeformt und ungerichtet.

Obwohl dieses SEIN uns immer begleitet – es ist schließlich die Grundlage unseres Daseins –, braucht es dennoch unsere Aufmerksamkeit, dass es als Präsenz erfahrbar und dadurch für uns zur unmittelbaren Wirklichkeit werden kann. Es gilt zu lernen, unsere Aufmerksamkeit auf das SEIN auszurichten. Das ist kein Tun und braucht keine Anstrengung. Wir müssen dazu kein anderer werden, als wir sind, und es braucht keinerlei Entwicklung.

Der Zugang zu Präsenz ist mehr ein Sich-Erinnern als ein Tun. Wir erinnern uns ans SEIN und richten den Fokus unserer Aufmerksamkeit auf das Aufmerksamsein selbst und nicht auf den Inhalt unserer Erfahrung. Je ausschließlicher das geschieht, desto intensiver tauchen wir in die Erfahrung von Präsenz ein.

Da es für uns Menschen aber eine ungewöhnliche Perspektive ist, nicht auf die konkreten Erfahrungen zu schauen, sondern ungerichtet zu lauschen, erscheint es zunächst gar nicht leicht, das zu vollziehen. Doch so schwer es im ersten Moment erscheinen mag, so selbstverständlich und leicht kann diese Perspektive mit der Zeit werden. Um sich auf diese Art des ungerichteten Lauschens einzustimmen, ist es hilfreich, wenn wir zwei Grundübungen machen: „Das Schauen ins Nichts“ und „das Schauen auf die Totalität der Erfahrung“.

Schauen ins Nichts

Beim Schauen ins Nichts wenden wir ein sehr einfaches Prinzip an, das für viele Menschen sofort umzusetzen ist. Wir richten unsere ganze Aufmerksamkeit und unser Interesse auf die Leere. Das ist leichter, als wir zunächst denken. Wir nutzen dazu die Zwischenräume zwischen den Erfahrungsobjekten: Wir lauschen zum Beispiel auf die Pausen der Lautlosigkeit zwischen den Geräuschen. Wir schauen auf die Räume zwischen den tanzenden Schneeflocken oder zwischen den Blättern am Baum. Wir achten auf die Räume der Stille zwischen den Gedanken oder konzentrieren uns auf den Moment der Bewegungslosigkeit in der Atempause zwischen Ausatmen und Einatmen.

In all diesen Fällen richten wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf das Nichts aus. Unsere Sinne können in der Leere nichts Greifbares wahrnehmen, doch wenn wir vollständig aufmerksam sind ohne eine Wahrnehmung, dann bleibt eine intensive reine Form des Aufmerksamseins. Hier stellt sich die Erfahrung des SEINS ein. Denn Aufmerksamsein ohne etwas wahrzunehmen ist nicht nichts oder etwas Totes, sondern lebendige Präsenz, ungerichtet und formlos. Aus diesem Grund nennt man diesen Zugang in manchen Traditionen „Schauen ins nackte Sein“.

Allerdings ist es notwendig, um diese Erfahrung zu machen, dass wir ein wirkliches Interesse für das Nichts, das SEIN selbst entwickeln. Ohne Interesse wird unser Geist sich nicht auf das Nichts konzentrieren können. Und erst in Momenten von vollständiger Konzentration erfahren wir im Nichts eine intensive Präsenz – das SEIN.

Diese Präsenz ist eine Oase der Reinheit und Ruhe zwischen den Stürmen des Lebens, die uns immer offensteht. Doch dass sie für uns zur Lebenswirklichkeit wird, ein ruhender tragender Pol im Auf und Ab des Lebens, hängt davon ab, wie viel Liebe und Hingabe in uns für das Nichts entsteht. Menschen, die eine tiefe Liebe zum Nichts entwickeln, werden sich auf eine natürliche Weise immer wieder danach sehnen und darauf ausrichten.

Das ist nicht anders bei einer Liebesbeziehung zwischen Menschen. Eine Person, die wir lieben, suchen wir. Wir spüren förmlich einen Sog von ihr ausgehen und wir wollen sie kennenlernen und ihr nahe sein. Liebe richtet unsere Aufmerksamkeit auf eine natürliche Weise auf den oder das Geliebte aus. Lieben wir das Nichts und die Stille darin, ist uns das SEIN nah.

Reflektiere:

Welche Beziehung hast du zur Leere?

Welche Momente von Leere kennst du, die du liebst?

Experimentiere:

Lausche auf die Stille zwischen den Geräuschen.

Konzentriere dich auf die Pause zwischen Ausatmen und Einatmen und spüre den Frieden darin und die Präsenz.

Achte auf Gedankenpausen und genieße den Raum darin.

Schauen auf die Totalität

Wenn wir über den Zugang des Schauens ins Nichts das SEIN aufsuchen, haben wir manchmal den Eindruck, dass SEIN eine Dimension jenseits der normalen Erfahrungen und der Erscheinungen der Welt ist. Aber SEIN ist umfassend und schließt nichts aus. Besonders deutlich wird das in der Metapher von Welle und Wasser. Wie auch immer Wasser in Erscheinung tritt, als Welle, Bach, See oder Wolke, es ist und bleibt formloses Wasser. Und so ist jede Erscheinung, jede Erfahrung und jede Handlung im Grunde durchdrungen von SEIN. Nur weil wir Menschen in der Regel immer sehr fokussiert auf die Oberflächendimension der Phänomene schauen, erfassen wir das Ganze, die grundlegende Dimension des SEINs darin nicht.

Wenn wir das Umfassende am SEIN erfahren wollen, ist es daher hilfreich, einen anderen Zugang zu wählen: Wir schauen dabei auf die Totalität, auf die Ganzheit der augenblicklichen Erfahrung. Auch das ist kein Tun, sondern nur eine besondere Art der Aufmerksamkeit, bei der wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit ganz weit lassen.

Wir öffnen zum Beispiel die Augen und schauen mit einem „weichen Blick“. Dabei wird zwar das Sehen unscharf, aber wir erfassen das ganze Sichtfeld. Unser Schauen wird umfassend. Oder wir hören nicht mehr fokussiert auf die einzelnen Geräusche und deren Bedeutung, sondern auf die Ganzheit der Geräusche ohne Verstehen und ohne die üblichen Zuordnungen. Wir fühlen uns dabei vielleicht wie ein kleines Kind, das sich zutiefst sicher und geborgen fühlt, wenn es die Stimmen und Geräusche der Eltern im Hintergrund als Gemurmel hört. Der Inhalt der Worte hat keinerlei Bedeutung dabei. Oder wir spüren die Gesamtheit unserer augenblicklichen Körperempfindungen, ohne genauer zu differenzieren, welche Empfindung wohin gehört.

Das Prinzip ist immer das Gleiche. Wir sind auf eine unscharfe, unfokussierte Weise aufmerksam und erfassen die Ganzheit der augenblicklichen Wahrnehmungen. Je tiefer wir in die Wahrnehmung der Totalität des augenblicklichen Erlebens eintauchen und je vollständiger unsere Aufmerksamkeit dabei ist, desto mehr verschwinden alle Differenzierungen und damit auch alle Trennungen, die unser Verstand in der Alltagswahrnehmung erzeugt. Es bleibt ein einheitliches dichtes Feld von SEIN, das alle Wahrnehmungen einschließt. Präsenz wird hier in einer umfassenden Dimension erfahren.

Experimentiere:

Gehe in der Natur spazieren und schaue dabei mit einem „weichen Blick“.

Nimm dir Augenblicke, in denen du auf die Gesamtheit deiner Wahrnehmung achtest und lausche auf das SEIN darin.