Im Einklang leben

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1.5 Präsenz in Beziehungen

Präsenz ist eine Kraft. Das können wir nirgends besser beobachten als in Beziehungen. Dort erleben wir die unmittelbare Wirkung dieser Kraft. In der Liebesbegegnung oder in der Fußballarena suchen wir unbewusst die Kraft der Präsenz und nähren uns daran.

Begegnen wir einer Person, die eine starke Präsenz ausstrahlt, fühlen wir uns hingezogen und suchen ihre Nähe. Das ist nur natürlich, da auch unsere Präsenz – das Empfinden für unser Dasein, für Intensität und Wesentlichsein – im Feld der Präsenz einer anderen Person zunimmt. Wenn wir dagegen über längere Zeit nur Kontakte ohne Frische und Präsenz haben, fühlen wir uns nicht genährt und verlieren das Empfinden für unser grundlegendes Dasein. Wir erleben uns selbst gleichsam als Schatten, grau und ungreifbar.

Das Grundbedürfnis nach Bestätigung

Wo wir diesen Vorgang besonders deutlich beobachten können, ist bei Kindern. Kinder brauchen die Präsenz der Eltern für ihr seelisches Wachstum. Präsenz ist die grundlegendste seelische Nahrung für Menschen. Ohne diese verkümmert das Empfinden für das eigene Dasein und für den eigenen Wert.

Stellen wir uns vor, eine Mutter begegnet ihrem Kind aus der Präsenz heraus. Was geschieht bei diesem Vorgang genau? Die Mutter bindet sich ans SEIN an, vielleicht indem sie tiefer ins Lauschen geht. Sie ist. Sie spürt ihr eigenes Dasein. In diesem Zustand ist sie ohne Wollen und ohne Vorstellung, einfach offen. Daher kann sie auch dem Kind ohne Wollen und ohne Vorstellung begegnen. In einem solchen Moment sieht sie das Wesen ihres Kindes. Sie schaut darauf, wie es ist, und nicht darauf, wie sie es gerne hätte.

Die Folge ist, dass sich das Kind gesehen und geliebt fühlt. Wenn uns jemand ohne Vorstellungen sieht und nimmt, fühlen wir uns geliebt und frei, zu sein, wer wir natürlicherweise sind. Wir können unser Wesen entfalten, ohne die üblichen Anpassungs- oder Schutzmechanismen unseres Egos. Wir haben das Gefühl, dass unser natürliches Sein von Interesse und damit wertvoll ist. So gewinnen wir ein gesundes Selbstvertrauen und werden unser Leben aus unserer inneren Wahrheit heraus gestalten können.

Umgekehrt, wenn Eltern ihren Kindern nur sehr wenig „seinshafte“ Beachtung schenken können, fühlt sich das Kind weder gesehen noch geliebt. Es entwickelt die Überzeugung, dass das eigene Wesen nicht von Interesse ist, mit anderen Worten ohne Wert. Kinder brauchen aber trotzdem die Bestätigung der Eltern und suchen deren Aufmerksamkeit. Wenn sie diese nicht durch ihr natürliches Sein gewinnen können, beginnen sie sich an die Wertvorstellungen der Eltern anzupassen, um dadurch mehr Zuwendung zu bekommen.

Zum Beispiel könnte ein Kind merken, dass es in seiner Familie dann mehr Aufmerksamkeit bekommt, wenn es besondere Leistungen in einem bestimmten Bereich erbringt. Wenn dies im Bereich des Möglichen liegt, wird es sich wahrscheinlich in diese Richtung entwickeln, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen und in seinem Wert bestätigt zu werden. Allerdings entfernt es sich dabei vom natürlichen Wert, der in der Entfaltung des natürlichen Wesens liegt. Wir jagen einem Scheinwert hinterher, manchmal ein Leben lang.

Doch nicht immer versuchen Kinder sich den Vorstellungen der Eltern anzupassen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Manche Kinder gehen in den Widerstand und verweigern sich. Auch Widerstand zieht viel Aufmerksamkeit auf sich, wenn auch keine positive. Aber besser eine negative Aufmerksamkeit als gar keine. So können wir eine „Widerstandsidentität“ bekommen, die unser weiteres Leben unbewusst bestimmen kann. Jedes Mal wenn wir eine neue Beziehung gestalten (besonders in hierarchischen Beziehungen), gehen wir in den Gegenpol oder in die Verweigerung und „ernten“ unbewusst viel Aufmerksamkeit.

Obwohl unser Widerstand unser natürliches Wesen schützen will und Anpassung verweigert, haben wir jedoch auch hier, solange wir mit dem Widerstandsmuster identifiziert sind, kaum eine Chance, uns in unserer Natürlichkeit zu entfalten. Wir sind nicht frei, wir selbst zu sein, sondern müssen aus einem inneren Zwang heraus dagegen sein. Im Innersten fühlen wir genauso ein Wertloch wie diejenigen, die sich an einen Scheinwert anpassen.

In beiden Fällen kennen wir unseren wahren Wert nicht, der in unserem SEIN liegt. Wir fühlen uns irgendwie verloren und können den natürlichen Impulsen unseres Wesens nicht vertrauen. „Was will ich wirklich? Wer bin ich eigentlich? Was gibt meinem Leben Sinn?“ sind die typischen Fragen, die wir uns stellen. Wie ein Schiff ohne Steuerruder treiben wir übers offene Meer und werden mal hierhin und mal dorthin gespült. So fühlt es sich an, wenn wir nicht aus unserer Wesenswahrheit heraus leben und dadurch keine innere Orientierung in den Wechselfällen des Lebens haben.

Reflektiere:

Kennst du Momente, in denen deine Eltern oder andere Menschen dich in deinem Wesen gesehen und angenommen haben?

Erforsche, wie du dich in diesen Momenten gefühlt hast: Wie war dein körperliches, seelische Erleben dabei? Wie erfährst du in diesen Augenblicken deinen Wert?

Wie könntest du dein Leben gestalten, wenn das immer dein Grundgefühl wäre?

Der Leidenskreislauf der Persönlichkeit

Aus diesem Grund besteht die große Herausforderung des Elternseins nicht darin, unsere Kinder zu erziehen (also sie an gesellschaftliche Konventionen anzupassen), sondern ihnen mit Präsenz zu begegnen. Das ist im Alltagsgetriebe nicht immer leicht, da wir unter Stress unsere Präsenz verlieren und meistens mit gewohnten Mustern reagieren.

Außerdem haben wir alle viele Vorstellungen davon, wie ein „gutes“ Kind sein soll. Diese sind bereits aus unseren Herkunftsfamilien übernommen und prägen den Kontakt zu unseren Kindern daher meist vollkommen unbewusst. Viele dieser Vorstellungen sind bei Licht betrachtet nichts weiter als gesellschaftliche Konditionierungen und dienen nicht dem Wesen des Kindes, sondern nur der Entwicklung von Anpassungsstrategien. Manche dieser Vorstellungen sind vielleicht auch sinnvoll, aber alle noch so guten Erziehungsmaßnahmen beinhalten im Kern eine subtile Vorstellung davon, wie das Kind sein muss, damit es „in Ordnung“ ist und wie nicht.

Subtil vermittelt also jede Erziehung, auch die sanfteste, dem Kind die Grundbotschaft: „Du bist nur unter bestimmten Dingen in Ordnung und damit geliebt.“ Es entsteht mehr oder weniger stark im Kind das Gefühl, in seinem ganzen Sein nicht angenommen und geliebt zu sein. Dieses Grundgefühl „nicht angenommen zu sein“ ist die Basis unseres Egos und aller Anpassungsstrategien der Persönlichkeit. Denn wenn wir das Gefühl haben, nicht in Ordnung und damit wertlos zu sein, werden wir uns anstrengen dafür, wertvoll zu werden.

Diese Anstrengungen entfernen uns allerdings gleichzeitig von unserem natürlichen Sosein. Der Leidenskreislauf der Persönlichkeit beginnt: Ich fühle mich nicht angenommen… ich strenge mich an dafür, angenommen zu werden… ich entferne mich von meinem Wesen und fühle mich entfremdet… und selbst wenn ich für meine Anstrengung von anderen Anerkennung bekomme, wird dadurch nur bestätigt, dass man sich anstrengen muss, um angenommen zu sein… in meinem Wesen – in dem, was ich ohne Anstrengung bin – fühle ich mich weiterhin nicht angenommen… also werde ich mich noch mehr anstrengen dafür, angenommen zu werden…

Reflektiere:

Welche grundlegenden (vielleicht unausgesprochenen)

Vorstellungen hatten deine Mutter und dein Vater davon, wie ein „gutes“ Kind (oder guter Mensch) sein soll?

Wie strengst du dich an, um diese in deinem Leben zu erfüllen?

Was unsere Kinder also brauchen, ist nicht in erster Linie Lob und Anerkennung, um ein natürliches Selbstwertgefühl zu entwickeln, sondern unsere Präsenz als Eltern. Nur Präsenz bestätigt Kinder in ihrem natürlichen Sosein. Präsenz sieht, ohne zu wollen und zu werten. Präsenz schenkt Aufmerksamkeit und Interesse und vermittelt Kindern, dass sie sein dürfen und in ihrem Sein angenommen sind. Auf dieser Basis entwickelt sich im Kind ein Grundgefühl, in Ordnung und geliebt zu sein.

Natürlich muss ein Kind trotzdem noch manche kulturelle Anpassung vollziehen, um sich in soziale Gegebenheiten einfügen zu können. Aber wenn das Grundlegende an der Elternbeziehung die Erfahrung des Angenommenseins ist, wird sich dieses Grundgefühl immer mehr verankern, und notwendige Anpassungsleistungen werden vom Kind meist natürlich und leicht vollzogen. Kinder, die sich grundlegend angenommen fühlen, sind verankert in ihrem Wert und leben innenzentriert. Trotzdem fügen sie sich in einer natürlichen Weise ein, wenn es notwendig ist, ohne sich dabei zu verlieren.

Mit Kindern sein

Doch was bedeutet es konkret, Kindern mit Präsenz zu begegnen? Wenn unser Kind am Frühstückstisch sitzt und von seinen Träumen erzählt, sollen wir dann in die Stille lauschen und nicht zuhören? Natürlich ist diese Form der unbedingten Präsenz, wie sie in der Übung „Schauen ins Nichts“ beschrieben wird, in der Begegnung mit Menschen meist nicht geeignet.

Aber wenn uns Präsenz als grundlegende Erfahrung vertraut und leicht zugänglich ist, können wir uns in jeder Situation mehr oder weniger stark an Präsenz anbinden und von dort aus handeln. Dazu ist lediglich notwendig, dass wir uns an die Präsenz erinnern und innerlich den Fokus unserer Aufmerksamkeit öffnen und mehr ins Lauschen gehen.

Jetzt zum Beispiel beim Lesen dieser Zeilen. Lies weiter, aber sei nicht vollkommen hypnotisiert durch den Text, sondern lass deine Aufmerksamkeit weiter werden. Geh ins Lauschen und lies weiter. Präsenz und lesen… Lesen in Präsenz…

Wenn unsere Aufmerksamkeit sehr fokussiert ist – das kann durch einen Text sein, durch ein Gespräch, eine innere Vorstellung oder eine Tätigkeit –, dann vergessen wir die Weite des SEINS – die Präsenz. Das geschieht natürlich auch in Begegnungen. Wenn unser Kind von seinen Träumen erzählt, hören wir zu und achten vielleicht nur noch auf den Inhalt der Erzählung. Oder wir denken daran, dass es sich fertig machen muss für die Schule. Wir sind vielleicht damit beschäftigt, das Pausenbrot zu machen oder wir ärgern uns darüber, dass unser Kind beim Essen schmatzt. In all diesen Fällen verhalten wir uns als fürsorgliche Eltern, aber unser Kind bekommt von uns keine Aufmerksamkeit für sein Wesen.

 

So können viele Mahlzeiten vergehen, ohne dass das Wesen des Kindes gesehen oder bestätigt wird. Wir lieben unsere Kinder und meinen es gut mit ihnen und geben ihnen doch oft die grundlegende Nahrung der Präsenz nicht.

Doch wie leicht wäre es, sich an Präsenz zu erinnern und den Fokus weiter zu machen? Uns nicht von der Geschichte, der augenblicklichen Tätigkeit oder unseren Vorstellungen hypnotisieren zu lassen und in der jetzt entstandenen Weite unser Kind zu sehen? Wir könnten dann das Sein des Kindes sehen und erst einmal damit sein, bevor wir reden, handeln, versorgen, loben oder maßregeln.

Die Grundübung im Kontakt mit unseren Kindern ist immer wieder, unsere Aufmerksamkeit weiter zu machen, mit unseren Kindern zu sein und sie in ihrem Sosein zu sehen. Mit den gleichen Augen, mit denen wir sie als Babys angeschaut haben, unvoreingenommen und ohne Wollen und Vorstellungen uns von ihrer Vollkommenheit berühren zu lassen. Wie können wir unsere Kinder sehen, wenn wir nur durch die Brille unserer Vorstellungen schauen? Wie können wir ihr Wesen begreifen und bestätigen, wenn wir sie in eine bestimmte Richtung erziehen wollen? Wie sollen sich unsere Kinder verstanden und geliebt fühlen, wenn wir sie nicht wirklich sehen und nur immer wieder an ihnen herummachen, sei es durch Lob oder Kritik?

Experimentiere:

Erinnere dich in vielen alltäglichen Situationen mit deinen Kindern ans SEIN: Halte einen Moment inne und lass deine Aufmerksamkeit weiter werden… Geh ins Lauschen…

Lass alle Vorstellungen los und schau mit neuen Augen auf das Sein deines Kindes.

Mit der Not von Kindern sein

Mit Kindern auf diese grundlegende Art zu sein ist auch der Schlüssel dazu, sie in schwierigen Situationen zu begleiten. Wenn Kinder weinen oder schreien oder vielleicht sogar toben, dann brauchen sie in erster Linie von uns Eltern unsere Präsenz, nicht unser Eingreifen, unser Trösten, unser ärgerlich werden oder sonstige Reaktionen auf ihr Verhalten.

Natürlich ist ein Moment, in denen es unseren Kindern nicht gutgeht, zuerst unangenehm für uns Eltern. Sie sind laut und brüllen. Oder sie sind quengelig und lassen uns keine Ruhe. Wir fühlen uns in unserer Alltagsroutine gestört. Daher reagieren die meisten Eltern in solchen Situationen in einer Weise darauf, dass sie versuchen, durch alle möglichen Strategien das Kind wieder möglichst schnell aus diesem schwierigen Zustand der Unausgeglichenheit herauszubringen.

Doch egal, ob wir das Kind trösten oder ablenken, einsperren oder anbrüllen, immer versuchen wir nur die Situation möglichst schnell abzustellen, weil wir unsere eigenen unangenehmen Gefühle dabei nicht aushalten. Das bedeutet, all diese Handlungsweisen sind Abwehr- und Fluchtreaktionen, mit denen wir das Kind in Wirklichkeit allein lassen und in seiner Not weder sehen noch annehmen. Die Folge ist, dass das Kind die Überzeugung gewinnt, nur geliebt zu sein, wenn es ausgeglichen ist. Im Innersten entwickelt sich ein Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit.

Die meisten Menschen tragen in sich einen Ort von Einsamkeit, der hin und wieder aufscheint. Es ist das Gefühl, gerade in der Not, in der Schwäche und Ohnmacht, in den schmerzlichsten Situationen verlassen und unverstanden zu sein. Eine Folge immer wiederkehrender Erfahrungen von Alleingelassenwerden im Schmerz als Kind. Wie sehr sehnen wir uns doch alle zutiefst, dass uns Menschen in unserer Not aushalten und sich ganz für uns öffnen? Daher erleben wir meist die Rettungsversuche unserer Freunde, wenn wir in Not sind, nicht als Unterstützung, sondern nur als ein erneutes Verlassenwerden.

Reflektiere:

Wie sind deine Eltern mit dir umgegangen, wenn du unausgeglichen oder in Not warst?

Geh in diese Situationen hinein und spüre, wie du das erlebt hast. Was hast du daraus für Grundüberzeugungen und Grundgefühle entwickelt?

Menschen in Not, ob Kinder oder Erwachsene, brauchen unser Dasein, unser Einlassen auf den Moment der Ohnmacht. Sie sehnen sich nach unserer Präsenz, unserem „Damit-sein-Können“. Erst dann fühlen sie sich darin angenommen und müssen sich selbst nicht mehr so gegen den Schmerz, die Schwäche oder die Ohnmacht wehren. Sie können sich in diesen schwierigen Gefühlen niederlassen und mit der Zeit darin ihren Frieden und ihre Mitte wieder finden.

Ich kann immer wieder beobachten, wie sich Kinder relativ schnell beruhigen, wenn wir sie wirklich in einer Notsituation mit Präsenz begleiten. Präsenz ist eine ruhige Kraft, wo die Not sein darf und sich nicht ändern muss. Präsenz ist verbunden, da wir ganz mit der Person in ihrer Ohnmacht im Kontakt bleiben können. Präsenz beinhaltet eine tiefe Annahme, da wir der Person in Not durch unser Dasein vermitteln, dass sie in ihrer Ohnmacht in Ordnung ist. Präsenz hat aber auch eine große Klarheit, da wir nicht nach schnellen Lösungen suchen, sondern dem Prozess des „Sich-Versöhnens“ mit der Ohnmacht, so wie er abläuft, Raum geben können.

Dabei sollten wir uns klarmachen, dass eine Person in Not typischerweise an einer inneren oder äußeren Grenze steht, die sie noch nicht annehmen kann. Hier geht es um einen Versöhnungsprozess, bei dem sie verschiedene Phasen durchschreitet, bis sie irgendwann innerlich zustimmen kann und sich an der Grenze entspannt. Zunächst wehrt sie sich dagegen. Sie sucht nach Lösungen, aus der Ohnmacht herauszukommen oder die Grenze zu überwinden. Sie kämpft gegen die Grenze an. Sie ist vielleicht unruhig oder wütend. Dann kommt eine Phase, in der sie realisiert, dass sie in diesem Kampf keine Chance hat, und sie fühlt den Schmerz darüber. Sie fühlt, dass sie (von ihrer Vorstellung) loslassen muss und erlebt dieses Loslassen als Verlust und Trauer. Schließlich aber kann sie sich immer mehr auf das, was ist, einlassen und entspannen und findet zu ihrer Überraschung dort einen inneren Frieden.

Diese Phasen des Sich-Versöhnens sind bei allen Grenzen, die uns mit Frustration, Enttäuschung und Ohnmacht konfrontieren, gleich und am Ende wartet immer ein undramatischer Friede auf uns. Das liegt daran, dass das eigentliche Leiden niemals aus der für uns schwierigen Grenze entsteht, sondern aus einer festgefügten Vorstellung, die der Situation widerspricht und an die wir uns klammern. Jede erlebte Grenze, ob innerlich oder äußerlich, zwingt uns also letztlich dazu, eine Vorstellung loszulassen und uns mit dem Verlust dieser Vorstellung zu versöhnen.

Genau dazu ist nichts hilfreicher als die Klarheit einer Begleiterin in Präsenz. Sie ist mit uns und gibt dem Prozess des Sich-Versöhnens Raum. Durch ihre absichtslose Präsenz kann sie einem Menschen auf eine Weise beistehen, dass der Verdauungsprozess ablaufen kann und es wieder zu einer inneren Versöhnung mit dem Augenblick kommt.

Experimentiere:

Wenn ein Kind einen schwierigen Moment hat, begegne ihm mit Präsenz: Stimme den eigenen schwierigen Gefühlen und denen des Kindes ganz zu und sei damit. Mach dir bewusst, dass jede Grenze und jedes „Nein“ nicht das Ende eines Prozesses, sondern den Beginn eines seelischen Verdauungsprozesses darstellt.

Das Wesen der Liebe

Natürlich ist Präsenz nicht nur grundlegend in der Beziehung zu Kindern, sondern in jeder Beziehung. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit weiten und nicht mehr auf den Inhalt des Gesprächs, auf innere Vorstellungen und Werturteile fokussiert sind, haben wir die Offenheit, den anderen Menschen in seinem Wesen zu sehen. Dieses Sehen ist frei, unvoreingenommen und annehmend. Es ist nichts anderes als Liebe.

Natürlich ist dies keine Liebe in einem romantischen Sinne. Wir empfinden keine Schmetterlinge im Bauch und müssen nicht ständig an die andere Person denken. Es ist auch keine bedürftige Liebe, die die andere Person braucht und ihr nahe sein will. Wir können sehr gut ohne die andere Person weiterleben. Es ist vielmehr eine Liebe im existenziellen Sinne. „Ich liebe dich, da ich dich tief sehe und annehme.“ Wir können die andere Person in ihrem Wesen erkennen und ihr dort begegnen.

Wenn wir einer Person mit unvoreingenommenen Augen begegnen, werden wir sie in ihrer Vollkommenheit sehen können und in ihrer Schönheit. Vollkommenheit und Schönheit sind keine äußeren Maßstäbe und keine fixen Größen, sondern innere Dimensionen als Folge von Präsenz und Liebe. Vollkommenheit sehen wir, wenn wir frei von Vorstellung und Wertung auf das Sosein im Gegenüber schauen. Und dessen Schönheit erkennen wir, wenn wir mit Liebe schauen.

Mit Liebe zu schauen ist mehr als Präsenz. Präsenz öffnet unseren Geist. Wir sind ganz da. Wir spüren das SEIN. Wir sind Offenheit – unfokussiert, absichtslos, unvoreingenommen und weit. Liebe jedoch geht noch über diese Öffnung hinaus. Sie ist eine Herzensöffnung. Wir schauen durch unser Herz, mit Wärme. Wir lassen uns berühren und empfinden die Schönheit des SEINS.

Wenn wir daher längere Zeit die Vollkommenheit und Schönheit des Lebens und der Menschen nicht mehr empfinden können, liegt das nicht daran, dass Menschen so wenig perfekt sind und keinem Schönheitsideal entsprechen, sondern lediglich an unserer mangelnden Offenheit. Vielleicht könnten wir uns dann fragen, was gerade unseren Geist und unser Herz besetzt. Welche Vorstellungen, Ängste oder Ziele es auch immer sind, mit denen wir im Augenblick identifiziert sind, sie verstellen uns unseren Zugang zu Präsenz und Offenheit. Erst durch ein klares Erkennen unserer jeweiligen Identifizierung kann sich unser Geist wieder weiten und unser Herz sich öffnen.

Reflektiere:

Kannst du gerade die Vollkommenheit und Schönheit des Lebens und der Menschen empfinden?

Welche Vorstellungen, Ängste oder Ziele hindern dich daran, unvoreingenommen, annehmend und in Liebe zu schauen?

In Präsenz und Liebe andere Menschen zu sehen, ist nicht nur mit unserem Partner möglich. Es braucht keine besondere Situation dazu. Es braucht auch keine Erwiderung. Wir sind jederzeit frei, Menschen auf diese Weise zu begegnen und zu sehen. Das geht bei unseren Kindern genauso wie bei der Nachbarin, die uns ihre Leidensgeschichte erzählt. Bei den Liebsten ebenso wie bei unserer Chefin oder unseren Kolleginnen. Bei unseren Eltern ebenso wie bei der Bettlerin auf der Straße.

Immer werden sich die Menschen in unserer Gegenwart wohler fühlen und entspannen, da sie das Gefühl haben, sein zu können und angenommen zu sein. Sein lädt Sein ein. Wenn uns jemand annimmt und sieht, werden wir zunehmend entspannen und auf Masken und Anstrengungen verzichten. Wir können entspannen und fühlen uns auf eine schlichte Weise angenommen und geliebt. Diese Wirkung wird sich auch bei anderen mehr oder weniger immer einstellen, wenn wir Menschen aus einer Haltung von Präsenz und Liebe begegnen.

Was es ist

Es ist Unsinn

sagt die Vernunft

Es ist was es ist

sagt die Liebe

Es ist Unglück

sagt die Berechnung

Es ist nichts als Schmerz

sagt die Angst

Es ist aussichtslos

sagt die Einsicht

Es ist was es ist

sagt die Liebe

Es ist lächerlich

sagt der Stolz

Es ist leichtsinnig

sagt die Vorsicht

Es ist unmöglich

sagt die Erfahrung

Es ist was es ist

sagt die Liebe

ERICH FRIED1

Verändert euch nicht!

Der Drang nach Veränderung ist der Feind der Liebe. Meint nicht, euch selbst verändern zu müssen: nehmt euch an und liebt euch so wie ihr seid.

Verweigert euch dem Drang, andere ändern zu wollen: liebt alle anderen so, wie sie sind. Und verändert nicht die Welt: Sie ist in Gottes Hand, und Er weiß.

 

Wenn ihr euch so verhaltet, dann werden Veränderungen auf wunderbare Weise von selbst eintreten – zu ihrer eigenen Zeit. Gebt euch dem Strom des Lebens hin… frei und unbeschwert von Gepäck!

ANTHONY DE MELLO2

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