Bus nach Bingöl

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Oktay und die Liberalen

Ahmet fragte sich nach dem Grund seiner guten Laune. War es das Interesse der jungen Frau an ihm? Oder dass ihm solch ein prägnantes Pamphlet gelungen war, an das er selbst nicht glaubte – noch dazu in einer Sprache, die er nur noch bei seinen Männerabenden in Wien pflegte? Dort redete man nicht nur aus Rücksicht gegenüber den türkischen Freunden Türkisch. Auch nicht deshalb, weil es sich bei den Muttersprachen der Kurden um Dialekte handelte, die untereinander schwer verständlich waren. Und nicht einmal der Umstand, dass die meisten von ihnen von Abstammung her Kurden waren, aber nie Kurdisch gelernt hatten. Einige holten es nach und radebrechten dann in Kurmandschi, obwohl sie aus Gegenden kamen, in denen Zaza üblich war. Die meisten aber plauderten bei ihren Treffen in von Kurden geführten Pizzerias in der Sprache, in der sie politisiert wurden, in der sie Gedichte schrieben und in der auch ihre Helden Nâzım Hikmet, Yaşar Kemal und Aziz Nesin schrieben.

In theoretischen Belangen hatte sich Ahmet Arslan stets unzulänglich gefühlt. Auch wenn er in Wien von Fachkollegen und -kolleginnen konsultiert wurde, schwärte lange noch diese Wunde in ihm. Seine Organisation damals in İstanbul war leninistisch ausgerichtet gewesen. Viele seiner Genossen aber hatten den maoistischen Weg gewählt, der von all den linken Wegen, die die wenigsten, die darauf schritten, auch wirklich verstanden, der dümmste war. Der chinesische Bauernkommunismus sprach die opferbereiten Dorfburschen am meisten an. Moderne, Industrialisierung, Urbanität und Zivilisation waren ihnen fremde Konzepte, und ihre ersten Marxtexte lasen sie wie epische Dichtungen oder Zaubersprüche, die man eingerollt in Glücksamuletten mit sich herumträgt, am liebsten hätten sie diese zur Saz gesungen, so wie sie auf Kurdisch sangen: Bîrnakim ha bîrnakim, riya Lenin bîrnakim – Vergiss nicht, vergiss nicht den Weg Lenins.

Als die Nachrichten von der Kulturrevolution, von Hungersnöten und Staatsterror auch nach Holike, Çemişgezek oder in die Vororte İstanbuls drangen, wandten sich viele von Mao ab und suchten Ersatz. Da die Leninisten und Trotzkisten zu viel umständliches Zeug redeten, fanden sie ihn in Maos europäischer Filiale, bei Albaniens Diktator Enver Hoxha. Ein Genosse hatte ihm das Verhältnis zu diesem neuen Leitstern einmal folgendermaßen erklärt: Wenn es in Tirana regnete, spannten wir in İstanbul die Regenschirme auf.

Ahmet Arslan begann ein Politologiestudium an der Istanbuler Universität und trat der Dev-Yol, einer Nachfolgeorganisation der Dev-Genc, bei. In Wien setzte er sein Studium fort. Hatte er in İstanbul die gesamte Theoriegeschichte bis zur Frankfurter Schule rezipiert (die ihm das größte Kopfzerbrechen bereitete, und das nicht nur wegen der schlechten Übersetzungen), so stürzte er sich in Wien mit Ehrgeiz auf all die neuen französischen Lehren, die bereits in der Türkei die Vorherrschaft des Neomarxismus an den Unis zu unterwandern begannen. Doch fand er in ihnen keinen Halt. In der Wiener Szene gab es zwei Intellektuelle, die er bereits in İstanbul gekannt hatte. Er und sie gehörten völlig verschiedenen Welten an, obwohl der österreichische Blick ihrer aufgeschlossenen Bekannten sie ein und derselben zuordnete. Cahir und Alparslan hatten sich in der Heimat schon die neuen Jargons zugelegt. Sie gehörten zu der Schicht, die Ahmet und die anderen anatolischen Landeier belächelte, wenn diese mit unsicherer Leidenschaft halbverstandene Slogans aus dem marxistischen Fundus predigten. Es waren Jungs aus İstanbuler Bürgerfamilien. Linksliberale – Ahmet und die seinen nannten sie etwas abfällig Liboşlar. Dabei bewunderten die Liboşlar sie, die Genossen und Genossinnen aus Dersim, Gaziantep, Erzurum, Diyarbakır, Hakkari, den Tauros- und den Pontosbergen, und suchten ihre Freundschaft. Intellektuell nahmen die Liboşlar sie nicht für voll. Sie waren deren Indianer. Edle Wilde aus dem Osten. .

Ahmet Arslan verstieg sich wieder einmal in Reflexionen über sein Verhältnis zu den liberalen Genossen, mit denen er noch die eine oder andere Rechnung offen hatte.

Die Liboşlar versuchten sowohl unsere grobschlächtige Unmittelbarkeit als auch unsere naiv-blumigen Redewendungen nachzuahmen. Wir waren ihre Reservoirs für ihr Selbstbild als Revolutionäre: Männlichkeit, Ehre, verträumte Rauheit, Brüderlichkeit, Sazspiel. Sie klaubten uns die Distelkletten von den speckigen Jacketts und steckten sie sich auf ihre bunten Pullis. Mit ihren langen Haaren und Bärten sahen sie wie Banditen aus den Bergen aus, während wir Bergbanditen lange Zeit unsere Scheitel kämmten und Schnurrbärte stutzten, bis wir selbst der Mode erlagen. Dennoch scherzten wir darüber, wie ihre Mütter ihnen vor den Demonstrationen die Mähnen und Schnauzer frisierten und sie sich diese dann, kaum außer Haus, wieder zerrupften. Ausgiebig naschten sie von unserer Entschlossenheit im Straßenkampf. Doch während wir uns mit den Grauen Wölfen Schusswechsel lieferten, warteten sie lieber mit gezückter Pistole hinter der Ecke ab, wie die Schlacht ausging. Trieben wir die Feinde in die Flucht, und meistens taten wir das, kamen sie aus ihren Deckungen hervor, umarmten uns und feierten mit uns den gemeinsamen Sieg. Der Unterschied: Sie gingen nach der Aktion, nach der Demonstration, nach der Schießerei nach Hause, weil Mamas Abendessen auf sie wartete und sie Dallas nicht versäumen wollten. Das, wie mich mein kluger Freund Erol Sentürk aufklärte, gar nicht so dumme Kapitalismuskritik sei, zumindest schön zeige, wie Macht in repressiv-imperialistischen Gesellschaften gestaffelt ist. Ich verstand nichts, ich verstand nur, dass sich wir anatolischen Helden in den Baracken am Stadtrand verstecken mussten. Doch vielleicht nehme ich den Mund zu voll. Denn ich teilte mit zwei anderen Freunden eine Wohnung in Cihangir mit Bosporusblick, und mein Vater finanzierte mein Studium mit, so gut es halt ging. Ich war so etwas wie ein Missing Link zwischen den Liboşlar und den ruhmreichen Bauernterroristen. Und dennoch lud mich Erol Sentürk nie zu sich nach Hause ein. Und die Liboşlar uns Bauern allgemein nicht. Teils weil sie sich für ihren Wohlstand genierten, teils weil sie dort unter sich sein wollten, ihren Deleuze und Guattari diskutieren und die neueste Led-Zeppelin-Scheibe hören wollten. Von uns erwarteten sie alevitische Lieder.Von den wichtigen gesellschaftlichen Fragen des sozialistischen Umbaus der Gesellschaft, der Hegemonien und der Praxen der Macht schlossen sie uns aus. Anstatt ihr Wissen mit uns zu teilen, sahen sie Analphabeten oder moskautreue Totalitäre in uns, was für sie aufs selbe rauslief. Und diese feinen Eselsöhne hatten sogar recht, doch hatten sie kein Recht, rechtzuhaben. In ihren klimatisierten Kinderstuben glaubten sie, bloß eine repressive Demokratie zu erleben, die sich eben wie die USA ihrer linken Opposition erwehren musste, und die es mit friedlichen und demokratischen Mitteln zu einer gerechten Gesellschaft zu transformieren galt. Ich wurde selbst nicht aus ihnen schlau. Für uns verhielten sie sich in ihrem Denken wie bei den Straßenkämpfen. Unsicher wankten sie zwischen linkem Kemalismus, Eurokommunismus, Sozialdemokratie oder Anarchismus hin und her, aber nicht wie wirkliche Zweifler, deren Unentschlossenheit die Ehre selbstquälerischen Denkens ist, sondern eher wie solche, die abwarten, wer angeschossen am Boden zurückbleibt, um dann die Partei des Siegers zu ergreifen. Es stimmt, wir waren totalitär. Das war unser Fehler. Sie waren feig. Das war der ihre. So kann man es belassen.

Ihre Türkei war eine andere als die unsere. Unsere war die der Bauern, Kurden, der Landlosen, Tagelöhner und Getretenen. Wir hatten nichts zu verlieren. Sie ihre Häuser, Plattenspieler und Haare. Ja, wir beteten den Moskauer Katechismus nach, aber wir taten es mit den besten Absichten. Sie wollten den Faschismus nicht wahrhaben. Wir erlebten ihn. Wenn wir uns in den Fabriken gewerkschaftlich organisieren wollten. Wenn wir uns in der Schule weigerten, die Liebesgedichte für Atatürk aufzusagen. Wenn wir einen der Grauen Wölfe abknallten, nachdem er einen der unseren umgelegt hatte, und wenn ein Polizist mal eine blutige Nase abbekam, nachdem er Dutzende unserer Nasen eingeschlagen hatte, warnten sie uns oft vor der Sinnlosigkeit gewaltvoller Eskalationen. Jahrzehnte hatte es gedauert, bis ich erkannte, dass all ihre subtilen, komplizierten Theorien der Gesellschaft auch die Funktion hatten, den einzigen klaren Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarei auf der einen, den zwischen Kapital und Arbeit auf der anderen Seite mit interessanten Spekulationen auszupolstern, bis man ihn nicht mehr sah. Darauf bauten sie ihre akademischen und politischen Karrieren.

In Wien dann versuchte ich wie sie zu werden, weil wir dort die Annehmlichkeiten einer sozialen Demokratie genossen. Wir begegneten einander freundlich, doch ich spürte weiter ihre Herablassung. Noch immer war ich ein Indianer in ihren Augen. Und zwar ein Indianer, der den Liboş spielen konnte, das machte mich zu ihrem natürlichen Feind. Denn gegenüber den reinrassigen kurdischen Indianern konnten sie selber ein bisschen den Bruder und den gefühlvollen Anatolier raushängen lassen. Ich aber drang in ihr Revier ein, ich kannte ihre Lieder, durchschaute sie und konnte mich gut ausdrücken, obwohl ich ihnen gegenüber noch immer die alte Unsicherheit verspürte.

Auf Podien, auf die uns wohlmeinende Österreicher einluden, welche unsere unausgesprochenen Konflikte nicht kannten, entwickelten sich kultivierte Gespräche. Die Liboşlar erweckten den Eindruck, als wären wir alte Kumpels, ein Debattierclub gar, der sich wöchentlich trifft. Nach der Podiumsdiskussion wurde nicht politisiert. Wir misstrauten einander. Wir waren noch immer die dummen Radikalinskis und sie die feigen Arschkriecher, die sich mit ihrer seriösen Verbindlichkeit gewinnbringend den Weg zu ansehnlichen Positionen im akademischen und kulturellen Bereich geebnet hatten. Als ich meine Dozentur an der Uni hatte, hofierten sie mich und richteten mich hinter meinem Rücken aus. Als Sozialarbeiter war ich schließlich bedeutungslos für sie.

 

Ahmet Arslan legte den Kopf in die Nackenstütze und musste schmunzeln. Wie sehr ihn das noch immer bewegt. Wenn er es sich recht überlegte, handelte es sich bei der Gegnerfront der Wiener Liboşlar aus der Türkei doch bloß um eine Handvoll Menschen. Und vielleicht tat er ihnen doch unrecht, denn sie waren zumindest Linksliberale geblieben, während so mancher seiner radikaleren Freunde unpolitisch oder AKP-Sympathisant geworden war.

Noch immer war Ahmet in ihren Augen also das unkorrumpierbare Ausrufezeichen vor ihrer Anpassung. Wie sehr sie ihn überschätzten. Sie wussten offenbar nicht, dass ihm selbst der Hüftspeck der Konformität gewachsen war. Und vielleicht war er es, von dem die abweisenden Signale kamen. In Wirklichkeit wartete er auf die große letzte Aussprache, in welcher er mit ihnen souverän und gut begründet abrechnen würde. Und das wussten sie, und deshalb vermieden sie diese Option durch unverbindliche Höflichkeit, um derentwillen er ihnen einfach grollen musste. Und zeigte er seinen Groll, dann hatten sie gesiegt, weil dann er derjenige war, der die Probleme macht. Er wusste, dass sie es noch immer mit den Kemalisten hielten; es waren dieselben Leute, welche, um von den Grünen und den Multikultifeministinnen gemocht zu werden, jede Kopftuchträgerin mit liberalen Theorien verteidigten, aber beim İstanbultrip mit größter Verächtlichkeit über sie spotteten.

Genug der schlechten Gedanken, dachte sich Ahmet, er müsse noch mit Oktay ins Reine kommen. Drei Sitze vor ihm auf der rechten Seite saß der junge Reservist. Geduldig wartete Ahmet, bis sich Ali nach ihm umdrehen würde. Und als er es tat, konnte er Ahmets Blicken nicht mehr ausweichen. Dieser schlug mit der flachen Hand auf den leeren Sitz neben sich und schickte Oktayein vertrauensseliges Lächeln, das von dessen breitem Kindergesicht erwidert wurde. Oktay kam zurück. Als er sich entschuldigen wollte, wehrte Ahmet mit einer eindeutigen Handbewegung ab. Eine halbe Stunde plauderten die beiden in bester Eintracht, ehe sie bei Sonnenuntergang in Ankara einfuhren und es Zeit war, Abschied zu nehmen. Sie umarmten einander. Dann verließ der Rekrut den Bus. Er wurde draußen von einem jungen Mann und dessen Frau erwartet. Oktay blickte nicht mehr zurück. Ahmet stellte sich vor, wie man den Reißverschluss über Oktays bleichem Gesicht zuzieht, wenn er dereinst seinen Eltern überstellt wird.

Ahmet überlegte sich, ob er sich zu Dilek setzen sollte, denn eine gierige Spätnachmittagswollust hatte in ihm das Bedürfnis entfacht, ihr nah zu sein, sie zu riechen, seinen Oberschenkel an ihrem zu reiben. Er blickte zurück und sah sie mit offenem Mund schlafen. Auch recht.

Als der Bus Ankara verließ, hatte sich blaue Dunkelheit über das Land gelegt.

2.

Ertappt

Bleich war Meltem im Gesicht. Und bleich war auch die ältere Frau. Beide trugen sie Kopftuch. Meltem am Hinterkopf geknotet und einmal um die Stirn geschlagen. Das Tuch der anderen bedeckte auch Hals und Teile der Schulter, doch eine grauschwarze Tolle ragte über der Stirn heraus und verlieh ihr einen noblen Anstrich. Lächelnd fragte die Ältere die Jüngere, ob der Platz neben ihr noch frei sei. Meltem nickte, laute Musik drang aus ihren Kopfhörern. Als sie erkannte, dass noch zwei Sitzreihen im Bus nicht belegt waren, war es zu spät.

Die ältere Frau lächelte still in sich hinein, während sie Meltem aus den Augenwinkeln fixierte. Alles in Meltem krallte sich zusammen vor Schmerz. Was lächelt die so blöd? Schon draußen in der Station war ihr die schwarz gekleidete Frau mit der kleidsamen grauen Strähne im schwarzen Scheitel aufgefallen. Sie sah gut aus, aber auch unheimlich. Auf ihrem linken Nasenflügel saß wie ein bleicher Käfer, der die Kunst der Mimikry beherrscht, eine Warze. Meltems EDV-Lehrerin hatte so eine Warze gehabt, allerdings über der Lippe. Und Meltems beste Freundin Meral hatte ihr im Unterricht zugesteckt, das sei der verschiebbare Deckel eines USB-Ports, wo man sich die Fantasie dieser Lehrerin runterladen könne. Diese habe in etwa ein Datenvolumen von 2,4 Kilobyte. Dann hatte Meltem, die von Meral geliebt werden wollte und sich deshalb von ihr zu schrägen Meldungen anstacheln ließ, gesagt, wenn die Frau Lehrer vor dem Wichsen an Kenan İmirzalıoğlu denke, steige das Volumen kurz auf 2,7 und falle danach sofort auf 1,8 runter. Und Meral hatte sie zwar mit Lachen belohnt, aber, weil sie immer das letzte Wort haben musste, noch eins draufgesetzt: Vielleicht hat die ja die Klitoris im Gesicht, und unten, wo sie sein sollte, ein blinkendes Kontrolllämpchen. Die beiden hatten so gekichert, dass sie von der Lehrerin mit dem Kontrolllämpchen unter dem braunen Cordrock aus der Klasse geschmissen wurden. Siehst du es blinken?, hatte Meral sie gefragt, und das Kichern hallte noch vom Gang in die Klasse, und die Lehrerin hatte sich vergessen und ihnen hässliche Komplimente nachgeschrien.

Was waren das für schöne und lustige Tage. In welchen Abgrund fiel sie nun. Und was wollte die Alte bloß von ihr? Die Alte ging von kurzen, durchdringenden Seitenblicken zu direktem Anstarren über. Meltem presste ihre Wange fest ans Fenster, doch spürte sie, dass diese seltsame Frau nicht mehr von ihr ließ. Schließlich riss sie sich die Kopfhörer runter und fragte sie:

Warum starren Sie mich so an?

Die ältere Frau fasste nach Meltems Hand. Meltem zog sie zurück.

Wo war es?, fragte Hatice. Gülbahar Caddesi oder bei Dr. Arınç?

Meltems bleiche Wangen füllten sich mit Blut.

Woher wissen Sie …?

Die lächelnde Frau ergriff abermals Meltems Hand. Nun ließ es Meltem zu.

Nenn mich Hatice.

Das klang vertrauensvoll. Wollte diese verrückte Frau sie trösten?

Was wollen Sie?

Gerechtigkeit!

Meltem fasste sich an den Mund. Durch Anspannung der Zungenwurzel gelang es ihr, den Brechreiz zu unterdrücken. Sie war zu schwach für Diskussionen. Die Tränen schossen ihr über die Lider.

Bitte lassen Sie mich in Ruhe! Bitte!

Ich weiß, was du getan hast. Niemand von euch kommt ungestraft davon.

Da sammelte Meltem all ihre Kraft und versuchte, diese Hatice so gehässig und herablassend anzustarren, wie es ihr nur möglich war, doch das Machtspiel verlor sie nach Sekunden, denn schon hatte Hatices Hand nach ihrem Gesicht gepackt und dieses zusammengequetscht.

Wo steigst du aus?

Bingöl.

Gut. Ich auch. Wir werden beide zur Polizei gehen, und du wirst Selbstanzeige erstatten. Das mindert das Strafmaß.

Hatice ließ sie los.

Meltem sprach: Sie können mich nicht einschüchtern, ich war in der siebenten Woche. Ich kenne die Gesetze.

Da packte sie Hatice am Ohr.

So, so, sie kennt die Gesetze. Will mir einen juristischen Vortrag halten. Die Gesetze Gottes scheinst du nicht zu kennen. Was hält eigentlich dein Vater davon?

Mein Vater ist tot.

Schon spürte Meltem einen Streich auf den Kopf.

Lügen kann sie auch, das Miststück. Ich hab doch vorher gesehen, was du deinem Baba geschrieben hast. Morgen um zehn bin ich zu Hause, Baba. İstanbul war sehr schön. Tante Serap lässt dich grüßen. – Weiß Tante Serap davon, deckt sie den Mord? Eine schöne Familie.

Es hatte keinen Sinn, diese fremde Frau, ihre Nemesis, die wie aus dem Nichts erschienen war und plötzlich so viel Macht über sie gewonnen hatte, darauf hinzuweisen, dass sie kein Recht habe, in diesem Ton mit ihr zu sprechen. Meltems Kopf fiel nach vorne und kam mit der Stirn am rauen Kunststofffilz des Vordersitzes zu lehnen. Sie schluchzte.

Wein nur, du kleine Schlampe. Das hättest du dir früher überlegen sollen.

Seien Sie bitte nicht so laut!

Man kennt mich hier im Bus. Ich mache die Tour nicht das erste Mal.

I am a passenger and I ride and ride

Nachdem Hatice das Mädchen gebrochen hatte, begann sie ihr von ihrer Mission zu erzählen. Sie sei die Vizevorsitzende der AKP-Frauenorganisation von Kaleönü und erst wenige Monate zuvor von der Staatsministerin und der Generaldirektorin für den Status der Frau, Nimet Çubukçu, mit dem Verdienstabzeichen der Republik Türkei ausgezeichnet worden. Während Hatice ihren Vortrag über die Verdienste der Regierung für die Rechte der Frau hielt, dachte Meltem bloß an das Butterflymesser in ihrer Handtasche, das ihr Meral geschenkt hatte. Mit diesem wollte sie bereits den Typen umbringen, der ihr den Embryo angehängt hatte. Nun stand die Waffe vor ihrer Bewährung. Zwei Optionen standen offen. Entweder würde sich Meltem am Klo der nächsten Busstation die Pulsadern öffnen. Oder … Wieso ihr junges Leben opfern? Ihre Fantasie schlug einen extremen und doch so logischen Pfad ein. Sie würde Frau Hatice töten. Ein Stich ins Herz. Schnell. Weglaufen. Nein, zuvor die Wertsachen an sich nehmen. Identitätskarte nicht vergessen. Und das Zeug irgendwo verschwinden lassen. Bis sie identifiziert ist, dauert es ein paar Tage. Raubmord, klarer Fall. Der Beifahrer wird zwar die Businsassen vor der Weiterfahrt abzählen, aber die Jungs haben ständig Stress, er wird sich einbilden, die Passagiere seien vollzählig. Meltem wird sich schlafend stellen, und in ein paar Stunden, nach ihrem Aufwachen, den Busfahrer darauf hinweisen, dass die komische Frau fehle, die doch nach Bingöl wollte. Nein, keine gute Idee. Sie ist einfach auf dem Weg ausgestiegen. Kann ja sein. Bloß keinen Staub aufwirbeln.

In Wirklichkeit wollte sie die Alte abstechen wie den Ziegenbock, den ihr Bruder beim letzten Opferfest geschlachtet hatte. Das erste Mal hatte sie ein Tier sterben sehen. Das ängstliche Mähen, als wüsste es, was ihm bevorsteht, das Röcheln, das Zittern, der ewig lange Todeskampf in den Augen. Meltem hatte weinen müssen und nichts von den Innereien angerührt. Aber die Vorstellung, diesen Ausdruck im Gesicht der alten Hexe zu sehen, ihr kotziges Röcheln, während der weit geöffnete Hals das Grinsen ihres hässlichen Mundes übernimmt …

Dieses kurze Aufwallen eingebildeter Macht versiegte jäh. Und so ließ es Meltem sich gefallen, dass Frau Hatice den linken Arm um ihre Schultern legte und sie an sich drückte, an diesen verwitternden Körper mit dem muffigen Geruch des Anstands.

Weißt du, Kleine, sprach sie, eigentlich ist es ja gut, dass es diese Kliniken und Ärzte gibt. In unserer Zeit taten wir es mit Stricknadeln. Zwei Freundinnen habe ich so verloren. Mach dir keine Sorgen, das bleibt unser kleines Geheimnis. Ist dein Vater streng?

Er würde mich umbringen, antwortete Meltem.

Es würde mich freuen, wenn du zu unseren Sitzungen kommst. Du hast wahrscheinlich ein völlig falsches Bild von uns. Weißt du, mir sind Menschen, die überhaupt keine Religion haben, lieber als die Heuchler, die nach außen hin Anstand wahren, die Gesetze lieblos befolgen, die Feiertage einhalten, aber sich nichts daraus machen. Man sagt, die Atheisten kämen in die Hölle. Ich persönlich glaube das nicht. Ich habe nichtreligiöse Menschen kennengelernt, die eine sehr hohe Moral hatten. In die Hölle kommen die Gedankenlosen, die nur glauben, sie seien Muslime. Die wie du ein Kopftuch tragen und ab und zu beten und auch in die Moschee gehen, aber nichts empfinden dabei. Ich habe in Deutschland gelebt. Dort glaubt man, der Islam sei eine Frauenunterdrückerreligion. Oh diese Unwissenden. Komm uns besuchen, Meltem. Dann wirst du ein anderes Bild bekommen. Es ist die Unwissenheit über ihre Religion, die Männer dazu veranlasste, Frauen zu unterdrücken, weil sie glauben, dies wäre erlaubt. Ebenso ist es Unwissenheit der Frauen, dass sie ihre gottgegebenen Rechte nicht einfordern. Kinder werden erwachsen, um die Dummheit ihrer Eltern zu verewigen. Über die islamische Geschichte hinweg haben Frauen und Männer beiderseits als Gelehrte und Lehrer des Glaubens Respekt geerntet. Die Bücher des Ridschal beinhalten Namen von vielen prominenten Frauen, beginnend mit Aisha und Hafsa.

Sie werden mich also nicht verraten?, fragte Meltem.

Das hängt ganz von dir ab, mein Kind.

Sie wollen, dass ich Ihrer Organisation beitrete?

Weißt du, mein Kind, ich bin nicht sehr religiös aufgewachsen. Mein Vater war Trinker. Er arbeitete im Hafen von İstanbul. Ich trug kein Kopftuch. Geschminkt hab ich mich und amerikanische Musik gehört. Ich trug Lederjacken und Jeans, und die Haare ganz kurz. Da staunst du. Wenn ich so ein Landei wie dich gesehen hätte mit dem Fetzen auf dem Kopf, hätte ich mich bloß lustig gemacht über dich. Selbst als Gottlose hatte ich mehr Persönlichkeit als ihr Jungen. Weder Fisch noch Fleisch seid ihr.

 

Und dann zeigte Hatice Meltem auf ihrem Handy ein Foto von sich als junger Frau, und Meltem staunte über diesen hübschen Punk auf dem Scan eines ausgebleichten Fotos aus irgendeiner längst zurückliegenden Zeit. Als Hatice Meltems Lächeln sah, verdunkelte sich ihre Miene. Ganz gleich ob es aufrichtig war oder nicht, Hatice kannte kein anderes menschliches Motiv als Berechnung. Wütend packte sie ihr Handy ein.

Schwänze, nicht wahr?

Wie bitte?

Du stehst auf Schwänze.

Seien Sie bitte leise.

Ach was. Wenn man einmal die Wahrheit sagt, muss man leise sein.

Das Grinsen auf Hatices gekräuselten Lippen bedeutete nichts Gutes.

Du hast geglaubt, es sei Liebe, nicht? Wie heißt er denn, der Vater deines ermordeten Kindes?

Ekrem.

Wie passend.

Hatice kicherte sich in die höheren Register hoch.

Bitte, die Leute schauen schon auf uns.

Tatsächlich wandten sich ein paar Passagiere nach der etwas lauten Frau um, schenkten ihr aber keine weitere Beachtung. Für Meltem war der Mord hiermit abgeblasen, und es würde wohl der Freitod werden.

Du hast Angst, aufzufallen, was? Bist überhaupt ein ängstliches Häschen. Aber wir Frauen werden nie was erreichen, wenn wir uns ständig ducken. Allahu ekber. Ich liebe Allah. Er ist mein Licht. Er ist mein Pfad der Freude und der Zuversicht.

Und dann begann sie zu singen.

I am a passenger, I am a passenger, I am a passenger and I ride and ride.

Wieder und wieder sang sie mit verfehlter Tonlage diese eine Zeile und Meltems Wangen füllten sich mit der Hitze der Scham.

Iggy Pop, sprach Hatice, das haben wir damals gehört. Verstehst du. Und was hörst du? Tarkan. Ha?

Dabei parodierte sie die schmatzenden Kussgeräusche aus Tarkans Hit Şımarık.

Und glaubst du, Tarkans Schwanz riecht nach Rosen?

Als sie merkte, wie peinlich Meltem ihr Benehmen war, sang sie mit triumphierendem Lächeln weiter.

Singing la la la la la la la la, singing la la la la la la la la …

Meltem setzte sich die Kopfhörer auf. Hatice riss sie ihr runter.

Wäre es ein Mädchen oder ein Junge geworden?

Ich weiß nicht. Wirklich nicht.

Und dein Ekrem hat sich aus dem Staub gemacht.

Woher wissen Sie …?

I am a passenger, and I ride and ride.

Du warst über beide Ohren verliebt in ihn. Du hast ihn gebeten, ein Kondom zu nehmen oder zumindest aufzupassen.

Meltem nickte.

Als der Streifen rosa war, hast du dich gefreut, und dir vorgestellt, wie du im Ikea von Bingöl gemeinsam mit deinem Ekrem Möbel aussuchst.

Meltem starrte Hatice fassungslos an.

Lass mich raten, dein Ekrem arbeitet bei einer Versicherungsgesellschaft.

Damit war Hatice zu weit gegangen. Ekrem war Baggerfahrer, und Meltems Erstaunen war wieder nüchterner Abneigung gewichen.

Ach, Sie wissen überhaupt nichts.

So nahe beugte sich Hatice zu Meltems Gesicht hinunter, dass ihre Nasenspitzen einander beinah berührten.

Ich weiß überhaupt nichts, sagst du? Ich weiß nicht viel. Aber das Wichtigste weiß ich. O ja! Ich weiß, dass immer, wenn er seinen stinkenden Bockschwanz in dich gejagt hat und seine ganze Verachtung, seinen Triumph in dich gerammelt hat, dann hast du geglaubt, er liebt dich, und je brutaler er dich mürb gefickt hat, desto mehr hieltst du das für Leidenschaft, du selten blödes Weiberschaf.

Aus Meltems tränenschweren Augen loderte Hass, und dieser Hass gab Hatice recht.

Ihr seid alle so dumm. Mit euren dummen Mädchenträumen. Amán, amán, wie dumm ihr seid. Sie waschen ihre Elefantenrüssel nicht einmal, so sehr verachten sie uns. Und am liebsten würden sie hundert Löcher in uns schneiden, um uns auch dort demütigen zu können, nachdem unsere Fotzen von tausend Vergewaltigungen, Geburten und Fehlgeburten ausgeleiert sind wie die Lippen alter Esel. Und wenn sie unsere Seelen aufgefressen haben, dann kommen die Europäerinnen dran, und selbst die Feministinnen fallen auf sie herein. Am Anfang ist es antirassistische Sozialarbeit, wenn sie sich die Eselsschwänze unserer Männer reinstecken lassen, aber wenn unsere Mustafas ihren ganzen Hass dann in Sybille und Susi reinficken, dann glauben auch die, dass es Liebe ist. Ich war dort und hab es gesehen.Nirgends ist die Würde der Frau besser aufgehoben als in unserer alten Religion, glaub es mir, Canım, wir müssen sie nur für uns zurückerobern.

Das war Hatices Hauptthese, und sie verspürte Lust, diese zu wiederholen. So wollte es Meltem scheinen. Doch wie alle Menschen mit Mitteilungszwang war die Alte schwächer, als sie sich anfangs dargestellt hatte. Achteinhalb Stunden blieben Meltem, sie für sich einzunehmen. Also nickte sie und gab Interesse vor. Doch Meltem war eine schlechte Schauspielerin. Denn Hatice hatte nicht nur Sendungsbewusstsein, sondern wie alle unaufrichtigen Menschen einen Sinn für die Aufrichtigkeit anderer. Oder nennen wir es Verfolgungswahn, der eher aus Zufall als aufgrund von Beweisen recht behält.

Und du kleine Hure glaubst wirklich, dass du mich reinlegen kannst. In Bingöl und Umgebung hat unsere Organisation tausendsiebenhundert Mitglieder, wir haben Informantinnen in beinahe allen Kliniken und Organisationen des Landes. Ich werde mit dir zu deinen Eltern gehen. Und selbst wenn du entwischst, wir finden dich. Die gottlosen Gesetze mögen dich schützen, aber der gerechten Strafe Gottes entgehst du nicht. Als uns der Präsident vor vier Monaten besuchte und wir ihn auf das Gesetz ansprachen, da hat er uns bei der Ehre seiner Mutter geschworen, dass er alles dafür tun werde, es zu Fall zu bringen. Mein Kind, die Zeiten ändern sich.

Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte Meltems Unterleib.

Ha, schickt dir dein Töchterchen Grüße aus dem Paradies? Möge der Frieden und Segen auf unserem Propheten Muhammad, seiner Familie und seinen Gefährten sein.

Wieder keimte in Meltem der Wunsch, Hatice zu töten. Ihr Und in Gedanken flehte sie Ekrem um Hilfe an. Und der kam auch – in Gedanken – und stieß der Hexe das Butterflymesser in den Nacken. Meltems Fantasien korrigierten sich. Nichts würde von Ekrems Entsatz künden. Nur plötzlich, gerade in dem Moment, wenn das Weib die niederträchtigsten Beschimpfungen ausstieß, würde plötzlich die Messerspitze aus ihrem Adamsapfel treten und Hatices Tiraden würden in ebenso grässlich anzuhörendem Röcheln ersterben. Ekrem würde sie an der Hand nehmen und mit ihr gemeinsam flüchten, nach Almanya. Und ihre schändliche Tat würde sie bis an ihr Lebensende aneinanderbinden. Der Bus hielt in der Station von Bolu. Der Kaptan kündigte durchs Mikrofon an, dass die Pause wegen einer kleinen Reparatur länger dauern würde.

Hatice ließ nicht mehr von der jungen Frau.

Komm mit!

Sie nahm Meltem an der Hand und führte sie zur Toilette.

Was wollen Sie von mir?

Wir gehen in den Gebetsraum.

Ich muss zuvor pinkeln.

Aber mach schnell.

Als Meltem ihre mit Blut vollgesogene Binde sah, und darauf kleine Gewebsstücke zu erkennen glaubte, musste sie wieder heulen. Die Tränen hörten auch nicht auf zu fließen, als sie in den großen Vorraum zurückkam, wo die Zahl der Fußwaschhähne die der Waschbecken übertraf und wo Hatice ungeduldig auf sie wartete.

Hatice hieß sie auf einem der kleinen Hocker neben einem der Wasserhähne Platz nehmen, zog ihr grob die Sneakers aus, streifte die Socken von ihren Füßen und wusch diese. Das kitzelte. Mit strengem Blick gebot Hatice Meltems Lachen Einhalt.

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