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Mirhat Balık in Bayrampaşa

Mit Mirhat Balık veränderte sich im politischen Trakt des Baryrampaşa-Gefängnisses alles. Am Tag nach Ahmets Rettung aus den Fängen der Kriminellen war er alleine und unbewaffnet zum Padişah gegangen und hatte vor den Augen der versammelten Menge dessen Stellvertreter halbtot geschlagen. Dann fragte er in die Menge, wer als Nächstes wolle. Dem Padişah drohte er mit dem Tod, sollte nur einem der politischen Häftlinge je nur ein Haar gekrümmt werden. Wie waren die Kriminellen feig. Seitdem kuschten sie und wurden – vor allem im Kampf um Gefangenenrechte – ehrfurchtsvolle Verbündete der Politischen. Mit diesen organisierte Mirhat Balık Gefangenenmilizen und Diskussionsrunden. Obwohl er von Theorie kaum eine Ahnung hatte, war er einer der treibenden Motoren dafür, dass all die konkurrierenden linken Splittergruppen hier im Gefängnis zu einer brüderlichen Einheit zusammenwuchsen, die irgendwann gemeinsam diese Gesellschaft verändern würde. Dazu kam es nie, denn unmittelbar nachdem die meisten von ihnen per Generalamnestie entlassen worden waren, putschte das Militär.

Mirhat Balık war im Gefängnis von Gaziantep drei Monate hindurch beinahe täglich am rechten Arm aufgehängt worden. Die geschwollenen Füße schlug man so lange, bis sie platzten. Dann ließ man ihn durch Salzlauge waten. Er soll nie geschrien haben, und keinen seiner Genossen hatte er je verpfiffen. Ahmet hatte er erzählt, wie stolz sein Vater auf ihn gewesen sei. Bevor du einen Kameraden verrätst, ist es besser, du stirbst, hatte er ihm zugesteckt.

Baryrampaşa, scherzte Mirhat Balık, sei ein Kuraufenthalt im Vergleich zu Gaziantep. Dort hätten ihn seine Lebensgeister beinahe verlassen, aber hier fühle er sich wieder lebendig und froh, hier nehme er es mit jedem auf. Niemand würde es je glauben oder es für Martial-Arts-Fantasien abtun, doch Ahmet hatte es mit eigenen Augen gesehen. Mirhat schien unbesiegbar, seine Gegner spürten, dass jede seiner Körperzellen ein perfekt aufeinander abgestimmtes Ganzes bildete, das stets zum Letzten entschlossen war. Hätte man seinen Körper zerhackt, seine Arme hätten weitergekämpft, hätte man davon die Hände abgetrennt, sie wären ihren Gegnern noch an die Gurgel gefahren. Eine Druckwelle der Entschlossenheit ging von ihm aus. Dabei fehlte ihm jeglicher Sadismus, jegliche Angeberei, jegliche Freude an der Aggression. Diese setzte er nur im Notfall ein. Sobald er sein Ziel erreichte, ließ er vom Gegner ab. Wir Schwächlinge, wusste Ahmet Arslan, hätten in unserer Wut, die immer eine Wut der gekränkten Schwäche ist, noch auf die Darniederliegenden eingetreten. Mirhat Balık war von beinahe kindlicher Freundlichkeit.

Ahmet Arslan verachtete sich ein wenig für das Blitzen in seinen Augen, wenn er trotz seiner vorgeblichen Ablehnung von Gewalt bei vorgerückter Stunde die alten Erlebnisse dann doch wie Actiongeschichten vortrug. Zur Zeit, als sie sich ereigneten, bedeuteten sie Angst und Schmerz oder seelische Abgestumpftheit und nackte Notwendigkeit. Doch sie waren nun einmal Erlebnisse, Wegmarken der eigenen Biografien, und er und seine Leidensgenossen hatte nur diese. Das ununterdrückbare Ausschmücken der Heldentaten entschädigte für die Demütigungen und Entmännlichungen, die man ihnen tagtäglich zufügte.

Niemand wusste, was aus Mirhat Balık geworden war, ehe Ahmet seine Spur fand. Er lebte als Autohändler in einer Kleinstadt südwestlich von Stockholm und war mit einer Schwedin verheiratet, deren Namen er angenommen hatte. Er hieß nun Mirhat Svenson. Vor sechs Jahren besuchte ihn Ahmet. Welch ein Erlebnis war das, den wildesten Kizilbasch aller Zeiten als kleinen, sanftmütigen Familienvater in seinem kitschig eingerichteten schwedischen Holzhäuschen wiederzutreffen, etwas bevormundet von seiner korpulenten Greta Svenson, die als Krankenschwester im örtlichen Spital arbeitete. Es schien ihm unangenehm, an seine Abenteuer erinnert zu werden. Das hatte Ahmet sehr gerührt, denn ein richtiger Kizilbasch ist nicht stolz auf die Gewalt, die er anwenden muss. Nach der halben Flasche Cognac, die er Ahmet mitgebracht hatte, wurde der Kizilbasch aber ein Mensch und beinahe zu kindisch stolz auf seine Vergangenheit. Doch wollte er weiter nicht, dass seine Kinder und seine Frau von seinem früheren Leben erführen. Die Kinder vielleicht. Aber erst, wenn sie erwachsen seien. Ahmet hatte ihm geraten, seiner Frau doch ein bisschen davon zu erzählen, das könne ihrem Liebeslieben unerwarteten Aufschwung verschaffen. Betrunken gekichert hatte Mirhat Balık, und hinzugefügt, dass das nicht mehr so wichtig sei. Es reiche ihm, sich in Gretas wunderbaren Busen zu kuscheln. Was für ein liebenswerter Bauer. Ein schüchterner Superman, aus dem nie ein Macho wurde, Mirhat Svenson Balık.

Dilek

Ahmet Arslan verließ das Klo. Die Autobusstation bot ihm einen bizarren Anblick und bestätigte ihn in seiner Annahme der spirituellen Vereinigung von religiöser Notdurft und Konsum. Das WC war eine große Halle, und in ihr gab es mehr Armaturen für rituelle Waschungen als Waschbecken und Pissoire zusammen. Dort saßen die Gläubigen, zogen ihre verschwitzten Socken von den Füßen, und wuschen diese, zogen sich Wasser in die Nasen und spuckten krächzend Rotz zu Boden. Dann begaben sie sich in den Gebetsraum.

Ahmet musste den Deutschen finden, um sich bei ihm zu entschuldigen. Und um seine Angst zu besänftigen, dass der Deutsche bereits Selbstmord begangen haben könnte. Doch der saß an einem Tisch in der hintersten Abteilung des geräumigen Speisesaals apathisch vor einem dampfenden Teller Köfte.

Wie sich die Raststationen verändert hatten. In seiner Erinnerung waren das klebrige Imbissbuden. Die waren blitzblanken Servicezonen gewichen mit über Drehkreuze begehbaren riesigen Selfservicekantinen. Von der Wand dahinter glänzten orientalische Fliesen. Und daneben fing die Shoppingmall an.

Wie Fremdkörper irrten die anatolischen Bauern durch die Konsumzone, wie falsch besetzte Komparsen in einem Werbefilm für die neue Türkei. Ahmet merkte ihnen an, wie unwohl sie sich in dieser Umgebung fühlten, wo die nächste Wand so weit entfernt war wie die Tenne im Dorf. Sie saßen stumpf wie der Deutsche da und tunkten Weißbrot in ihre Linsensuppen, welche sie nach allerhand demütigenden Ungeschicklichkeiten aus dem Kantinenlabyrinth zum Tisch befördert hatten. Ein Teil der Mitreisenden war gleich draußen auf den Stufen geblieben und verspeiste dort Sucuk. Ahmet Arslan fühlte sich ihnen tief verbunden. Vielleicht wurden die Videos der Überwachungskameras an Privatfernsehstationen geschickt, damit das städtische Publikum in Comedyshows über seine eigene Vergangenheit lachen konnte.

Ahmet Arslan brauchte eine Zigarette. Vor der automatischen Glastür stand die Kemalistin und rauchte. Es war zu spät, ihr auszuweichen.

Mit süffisantem Lächeln bot sie ihm eine Zigarette an.

Sie sehen wie ein eiserner Nichtraucher aus, der sich zwischendurch wieder mal eine gönnen mag.

Da haben Sie leider recht.

Ahmet Arslan und Dilek Demir kamen ins Gespräch. Es dauerte keine Zigarettenlänge, bis sie sich beschnuppert hatten. Als sie gemeinsam ins Stationsgebäude zurückgingen, wusste sie, dass er ein in Wien lebender Intellektueller und ehemaliger politisch Verfolgter war, der nun endlich in sein Heimatdorf zurückkehrte – Ahmet hatte das so kurz wie möglich referiert, aber nicht ohne die Geschichte in eine Lasurlösung aus Romantik zu tunken –, und er wusste, dass sie Modedesignerin und Tochter eines reichen Agas aus Solhan war, der eine Geburtstagsparty für sie hat ausrichten lassen, die sie nicht versäumen dürfe, weil Papa ihr dort die Schlüssel ihres neuen Geländewagens überreichen würde. Dummerweise habe sie den Flug versäumt und müsse nun diese beschwerliche Busreise auf sich nehmen. Man müsse das positiv sehen, immerhin lerne sie ihr Land von einer anderen Seite kennen. Ahmet beschloss ihr die restliche Pause ein charmanter Zuhörer zu sein und sie in dem Bild zu bestätigen, das sie zu vermitteln versuchte. Von ihrer sprudelnden Vertraulichkeit ließ er sich mitreißen, denn sie besaß ein unerwartetes Maß an Selbstironie – und schon war geschehen, was er gerne vermieden hätte: Sie war ihm sympathisch geworden.

Wissen Sie, Herr Arslan, auf was ich jetzt wirklich Lust habe?

Sie leckte sich die Lippen und schenkte ihm einen schalkhaft verführerischen Blick.

Nur Pommes mit Ketchup und Mayo, sagte sie. Dafür eine Riesenportion. Und ein Bier.

Ahmet nickte freudig. Menschen wie sie pflegen ihre kulinarischen Vorlieben wie weltanschauliche Bekenntnisse auszubreiten. Genau das Gleiche wolle er auch zu sich nehmen, verriet er ihr. Wenn das so sei, dann solle er sich einen Platz suchen, und sie werde Speis und Trank holen. Sie müsse üben, ergänzte sie, denn noch nie in ihrem Leben habe sie einen Mann bedient.

Er blickte ihr nach. Und war bereits etwas verschossen in sie. Markierte sie die Ulknudel, weil sie spürte, dass er sie für ein verwöhntes Mädchen hielt? Dabei waren dieser sorglose Humor und die schlagfertige, aber kindliche Koketterie doch das sicherste Indiz für ihre Verwöhntheit. Gut nur, dass er bei Elazığ ausstieg, wo würde das noch enden? Auf der Hacienda ihres Vaters?

Ahmet erinnerte sich plötzlich des kleinen Rekruten und suchte nach ihm. Der saß einige Tische weiter, mampfte traurig seinen Bohneneintopf und ließ sich nicht anmerken, dass er Ahmets Blicke bemerkte.

Die Kemalistin kam mit zwei Pagoden dampfender Pommes frites zurück, die beiden Bierdosen hatte sie zwischen Teller und Brust geklemmt. Ahmet half ihr beim Abstellen.

Sie fragte ihn, was er in Wien so mache.

Er habe Philosophie und Politikwissenschaften studiert und eine Zeit lang an der Universität unterrichtet, das habe nicht viel eingebracht, er sei nun Sozialarbeiter, unterrichte an Volkshochschulen politische Bildung, lektoriere Diplom- und Doktorarbeiten und reiche hie und da ein Projekt ein.

 

Dilek fand das alles höchst interessant. Sofort offenbarte sie ihre Vermutung, dass er in der Türkei ein linker Widerstandskämpfer gewesen sei. Ahmet aß die Pommes zu schnell, während Dilek nach einigen Minuten noch immer dasselbe Stück zwischen den Fingern hielt und zum Gestikulieren verwendete.

Sie finde solche Leute wie ihn unglaublich interessant, jemanden, der Prinzipien und Werte habe, für die es sich zu kämpfen lohnt, ja, für die er sein Leben zu geben bereit sei.

Viele ihrer Freunde hätten die Türkei nur aus wirtschaftlichen Gründen verlassen, sie selbst habe zwei Präsentationen in der Schweiz gehabt, eine in Basel, eine in Fribourg. An Angeboten habe es beileibe nicht gemangelt. Aber man müsse im Leben kämpfen. Auch wenn sie nicht so aussehe, auch sie habe Durststrecken durchlaufen, ehe sie mit ihrem Start-up Erfolg hatte. Es sei so einfach, einem zurückgebliebenen Land wie der Türkei den Rücken zu kehren und dem Ruf des besseren Angebots, der besseren Nachfrage zu folgen. Mutiger sei es doch, sich der Herausforderung zu stellen, im eigenen Umfeld etwas auf die Beine zu stellen.

Ahmet konnte nicht einmal ärgern, dass sie ihm da – unabsichtlich zumal und indirekt – Fahnenflucht vorgeworfen hatte, da wäre ihr hektisches Nachhaken gar nicht nötig gewesen, dass sie damit keinesfalls ihn meine, der – so zumindest ihre Annahme – aus politischen Gründen das Land verlassen musste. Ahmet nickte lächelnd und schluckte.

Sie und ihre Freundin Özlem hatten die Idee, eine Art Fair-Trade-Kampagne für kleine Textilproduzenten aufzuziehen und auch das Self-Empowerment bäuerlicher Produzentinnen zu fördern. Aber, sagte sie entschieden und stach mit ihrer Pommes ein Loch der Aufmerksamkeit in Ahmets Blickfeld, glauben Sie, diese armen, unterdrückten Geschöpfe Gottes würden sich helfen lassen.

Letzten Sommer fahre ich extra nach Kappadokien raus in eines dieser Yörükdörfer. Sie wissen schon, die sesshaften Nomaden. Natürlich wissen Sie. Verzeihen Sie. Die stellen in Heimarbeit diese wunderschönen Hamamtücher her. Großartige Arbeit. Wirklich. Wir wollten Pareos und Kleider daraus machen. Für so was sind die noch nie verwendet worden. Diese Mädels waren wirklich super. Keine Frage. Total freundlich und trotzdem stolz und eigenwillig. Aber leider auch sehr dumm. Die verkaufen das Zeugs pro Stück zu fünf Euro an ihre Cousins in Antalya, die sie um 20 Euro oder mehr weiterverkaufen. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ja? Dreihundert Laufmeter zu 1500 Euro. Das ist unsere Schmerzgrenze.

Ahmet nickte mit vollem Mund und versuchte, sein Schmatzen zu dämpfen.

Sie berät sich mit den anderen Frauen, kommt zurück und sagt brühwarm Nein. Nein. Stellen Sie sich das vor. Okay. Ich versuch’s mit Argumenten. Rechne Ihnen vor, was für einen Gewinn sie dadurch machen. Was für Prestige ihr Dorf bekommt. Was sie sich dadurch leisten könnten. Sie sagt mir, nein, nein, wir sind zufrieden damit, wie es ist, und wollen keine Großproduktion anfangen. Ich sage ihr, liebe Frau, ich kenne eine chinesische Firma, die stellt den Laufmeter für 40 Cents her, aber voll Turkish Style. Wissen Sie, was sie mir geantwortet hat? Das freut mich aber, sagt sie, dann lassen sie doch die Chinesen ihre Ware herstellen. Ich weiß nicht mehr, vielleicht bin ich etwas lauter geworden. Aber was macht sie? Sie drückt mir drei Handtücher, in jeder Farbe eines, in die Hand, sagt, das sei ein Geschenk, und wünscht mir einen guten Tag und dass Allah mich beschütze. Sie hat mich mit einem Lächeln auf den Lippen aus dem Dorf geschmissen. Verpiss dich. … Ja, ja, ich weiß, super, super, an Ihrem stillen Lächeln, so blöd bin ich auch nicht, merke ich, dass sie die Frauen toll finden, ja, stolz, unabhängig, klar. Verstehe schon. Mir geht es ja genauso. Toll, wie die sich dem freien Markt versperren. Ja, Rebellinnen. Aber sie kennen doch als gebildeter Mensch sicher den Ausdruck rebel without a cause. Und in diesem Fall ist die Rebellion nämlich gar nicht cool. Vom ökologischen Standpunkt, vom Frauenstandpunkt her … und … nun, der dritte Standpunkt fällt mir nicht ein. O Gott, das Bier wirkt schon. Sehen Sie meine Wangen? Die müssen total glühen. Zumindest fühlt es sich so an. Ich brauche nur einen Schluck von dem Zeug nehmen, und schon beginne ich zu glühen.

Nein, Frau Demir, Ihre Wangen haben bloß einen leichten Anflug von Abendröte. Man merkt es kaum und es sieht sehr reizvoll aus.

Na da sieh her. Ist das Viennese Style? Çok güzel. Schauen Sie, ich weiß vieles nicht und benehme mich manchmal total daneben. Aber auf meine Menschenkenntnis lasse ich nichts kommen. Ich hab Sie von Anfang an durchschaut.

Nun waren es Ahmets Backen, die sich röteten.

Machen Sie mir nichts vor, ich kenne euch kurdischen Krieger. Ich weiß, was Sie von mir halten.

Und was halte ich von Ihnen?

Ja, ja, stehen Sie dazu, Sie halten mich für eine verwöhnte Taksim-Tusse aus der Ausbeuterklasse, selbstbezogen, dämlich, unerträglich laut und schnatternd wie eine Ente. Eine gottverdammte luxuriöse Platzverschwendung. Eine, die noch nie was Richtiges erlebt hat, und deshalb den Mund umso voller nimmt. Eine, der es einmal richtig besorgt gehört, von uns wütenden Klassenkämpfern.

Nein, danke, dafür besteht kein Bedarf.

Sehr witzig.

Liebe Dilek, seitdem uns Ihre Verteidiger der Säkularität und des Fortschritts täglich Elektroden an die Schwänze hängten, sind wir völlig impotent. Sie haben also nichts zu befürchten.

Dilek warf ihm ein Stück Pommes ins Gesicht.

Verzeihen Sie.

Verzeihen Sie, ich wollte zunächst nur einen Scherz machen. Es tut mir leid, dass unser nettes Gespräch diesen Verlauf genommen hat. Aber ja, ich gebe zu, dass ich, bevor ich Sie kennen lernen durfte, einiges von dem, was Sie soeben sagten, geglaubt habe. Wenngleich nicht so drastisch, wie Sie es ausdrücken.

Dilek Demirs Gesicht nahm einen spöttischen Ausdruck an.

So, so, und was hab ich bis jetzt Superkluges von mir gegeben, dass Sie Ihre Meinung geändert haben?

Ich finde Sie klug und selbstkritisch.

Küsschen, Küsschen. Sagen Sie mal, da ich mal einen echten Indianer vor mir habe. Was mich schon immer interessiert hat, wie ist das mit euch Kurden? Ich meine, ihr habt ja diese verschiedenen Dialekte, nicht wahr. Ich habe einen kennengelernt, der bestand darauf, kein Kurde zu sein, sondern … wie hieß das Zeug noch?

Zaza?

Genau, so klang das. Zaza. Zazaki. Lustiges Wort.

Gut. Kurdisch besteht im Großen und Ganzen aus zwei Großdialekten, Kurmandschi und Sorani. Sorani wird eher im Irak und im Iran gesprochen. Dann gibt es noch das Gorani im Iran und das Zazaki, mit welchem ich aufgewachsen bin. Bei uns in Dersim spricht man sowohl Zazaki als auch Kurmandschi. Ein bisschen verwirrend ist, dass wir dazu nicht Zaza sagen, sondern Kırmancki, in Ost-Dersim nennen sie es Dımıli, und Kurmandschi nennen wir Kırdaşki, was so viel wie Sprache der Kurden heißt, was eigentlich ein Beweis sein könnte, dass wir Kirmancki- oder Zazakisprecher uns nicht als Kurden empfinden. Da aber außerhalb Dersims unsere Sprache Zaza heißt und die Linguisten der Meinung waren, dass sie so heißen soll, heißt sie so in der großen Welt, die von Zaza ohnehin nichts wissen will. Und jetzt wird es noch komplizierter. Linguistisch ist dieses Zaza Gorani näher als den anderen kurdischen Dialekten. Sind wir also Kurden? Nun, da unsere türkischen Freunde auch uns Bergtürken getauft haben, weil sie uns für Kurden hielten, wurden wir welche. In gewisser Hinsicht sind die Kurden ebenso eine Erfindung wie die Türken …

Hören Sie, fiel ihm Dilek, die seinen genüsslichen Ausführungen kaum zugehört hatte, ins Wort, Sie haben doch nicht die geringste Ahnung, wie sehr ich mich verachte. Mich, meine Herkunft, mein behütetes Leben. Meinen Sie, ich merke den Unterschied zwischen uns beiden nicht. Ich liebe die Kurden, und es schnürt mir jedes Mal das Herz zu, wenn ich daran denke, welches Unrecht Ihnen angetan wurde. Ich wirke nur so selbstsicher. Ich bin schon 33, und stehe erst am Anfang meiner Politisierung, aber ich möchte unbedingt lernen. Denn dazu ist das Leben ja schließlich da. Lachen Sie nicht, aber mich interessiert am meisten der Umweltschutz. Vor drei Jahren habe ich eine Gruppe von Jungs kennengelernt, die haben gegen Staudämme in Ostanatolien protestiert. Super Typen, lange Haare, Bart, super. Ja, natürlich war ich in einen von ihnen verliebt. Es läuft am Anfang immer übers Persönliche. Es hat nicht funktioniert zwischen mir und Ekin. Er war im Gefängnis. Sie waren auch im Gefängnis. Ja, ja, ich weiß, das waren nicht die Leute, mit denen Sie im Widerstand waren, sondern richtig süße Ökojungs aus guten İstanbuler Familien. Verdammt, man kann ja nichts für seine Herkunft, oder? Ich weiß, dass Sie sich schon die ganze Zeit wundern, warum ich meine Pommes kalt werden lasse und wir gleich in den Bus zurückmüssen, und ich weiß auch, dass ich das Bier nicht vertrage. Aber sei’s drum. Ich brauche Ihre Hilfe, mein Herr. Ja, Ihre Hilfe. Ich habe bislang nur mich selbst, mein gottverdammtes Ego im Kopf gehabt. Und meinen Erfolg. Was auf das Gleiche hinausläuft. Ich will mich engagieren, ich will endlich aus meinem kleinen Schneckenhäuschen ausbrechen. Wer bin ich schon? Und was sind meine Probleme gegen die Probleme der Welt? Ich frage Sie jetzt nicht, was ich lesen soll? Das können mir meine studierten Freunde auch verraten. Ich sehe Ihre innere Ruhe, ja, mein Herr, Sie ruhen in der Sache, das hab ich genau gemerkt. Viele Kurden haben das. Ich kann es nicht beschreiben, ohne kitschig zu werden. Ich weiß, dass Sie mich insgeheim verspotten, weil ich mich für Bäume und Tierarten und Flüsse stark mache und glaube, wir können die Welt schon verändern, wenn wir ein paar alternative Boutiquen einrichten. Da ergriff sie Ahmets Hand.

Was soll ich tun? Wie kann ich lernen, für eine Sache einzutreten? Wie kann ich die Welt verändern? Wo ansetzen? Wie schaffe ich es überhaupt, mich für irgendwas zu interessieren, und es nicht gleich nach wenigen Augenblicken wegzuwerfen. Lachen Sie mich bitte nicht aus.

Ahmet blickte finster auf die letzten drei Pommes und die gelben Fetttröpfchen auf seinem Teller. Die Mayonnaise hatte er nicht angerührt, denn er hasste Mayonnaise. Seine Augen benetzte ein glasiger Schlimmer. War es das Bier oder die Traurigkeit, die kurz seine Sinne geflutet hat? Er holte tief Luft.

Ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihr Vertrauen schenken, und, glauben Sie mir, nichts läge mir ferner, als über Sie zu lachen. Das sind ernste und schwierige Fragen, die Sie mir stellen, und zunächst muss ich Ihnen gestehen, dass Sie mich überschätzen. Denn ihre Fragen nagen nicht nur an Ihrer, sondern überraschenderweise auch an meiner Seele. Und das ist gut so. In meiner Selbstwahrnehmung lebe ich nämlich von früheren Gedanken, Leiden, Erfolgen. Ja, Sie haben Recht, ich war ein sehr politischer Mensch, sowohl als Aktivist als auch als theoretischer Denker. Als ich vom Land nach İstanbul kam, war ich dumm, aber voller Kampfeslust, getrieben vom nackten Ethos, mich im Kampf gegen jede Ungerechtigkeit zu bewähren. Aber das bequeme Leben in Wien hat mich faul gemacht. Ich sehe noch immer das Unrecht, ich interessiere mich immer noch für politisches Denken, aber alles nur halb und ohne wirkliche Überzeugung. Der Antrieb ist schlecht durchblutet. Und ich wärme mich an den glosenden Ascheresten meines früheren Feuers. Ich bin müde. Und deshalb ein schlechter Berater für Sie. Diese Welt scheint sich in vielen Belangen zum Besseren zu wenden und doch ist das nur ein Clinch, bevor die nächsten Schläge folgen. Ich bin alt und feige und kehre in mein Heimatdorf zurück, um meine Mutter noch einmal zu sehen und Frieden mit meinem Bruder zu schließen – mit dem ich mich nie überworfen habe. Ich versuche mein Wissen an jüngere Menschen weiterzugeben, aber hüte mich, sie zu mehr Radikalität anzustacheln, weil das ein Stachel in mein eigenes Fleisch wäre. Ich habe mich mit der Welt abgefunden, und zu große Umwälzungen würden bloß meine Urlaubspläne durcheinanderbringen.

Ich kann Ihnen nur aus eigener Erfahrung raten, meine Liebe, nicht auf ihr Ich zu verzichten, und im Übrigen ist nichts eitler als prahlerische Selbstlosigkeit. Ich weiß schon, was Sie meinen. Sie meinen diese wunderbare Freude von Kindern, die die Welt erforschen und dabei sich selbst vergessen. Wir sollen uns aber selbst gefallen. Das Problem beginnt erst dann, wenn wir die Wahrheit zurechtkneten, damit wir Gefallen bei anderen Menschen finden. Das ist der Sündenfall. Nicht der harmlose Egoismus.

 

Wir sind alle Kinder unserer Herkunft, liebe Dilek. Ich bin in Armut aufgewachsen. So etwas macht einen nicht automatisch zum Kapitalismuskritiker. Die meisten werden nur Neider. Aber es sensibilisiert für den Kern aller Probleme. Wenn man materiell sorglos aufwächst, ist man stärker mit sich selbst beschäftigt und sieht die Welt mehr als Design, als ästhetischen Aufputz der eigenen Allmachtsfantasien. Man interessiert sich für die Bäume, die Schmetterlinge, für Dekor und Lifestyle und Psychologie und nimmt die Gesellschaft als Kulturen wahr; dann schult man seinen Gerechtigkeitssinn dadurch, dass man glaubt, Kulturen wollen anderen ihre Kulturen wegnehmen. Dabei sind das Scheinrealitäten. Ich weiß nicht …

Seien Sie nicht so hart gegen all die einfachen Menschen, die ungebildeten Frauen, die ihr Kopftuch tragen. Das sind keine Islamistinnen. Das Problem: Sie sind leicht manipulierbar. Ich bin ein Bauernsohn. Ich weiß, wie dumm Bauern sein können. Aber sie haben mitunter auch eine wunderbare Großzügigkeit und Herzensgüte. Und das sage ich ohne jede Spur der Idealisierung. Doch die Moderne hat sie verwirrt. Sie widerstehen den gefährlichen Ideologien, wie religiösem Eifer, Nationalismus und Faschismus schon aufgrund ihrer eigenen Unbeweglichkeit am längsten. Sobald es sie aber einmal erwischt hat, werden sie ihre willfährigsten Vollstrecker. Ich hatte mit 18 an den Leninismus wie an eine Religion geglaubt. Und musste erst lernen, ihn kritisch zu befragen. Aber stellt ihr Liberalen mehr Fragen als die Leute, denen ihr euch so überlegen fühlt?

Dilek, Schwester, ich kann dir nur sagen, bekämpfe das Wirtschaftssystem. Dort wo es sich smart und zivilisiert und ausgewogen und vernünftig gibt. Ich habe keine schönen Aussichten. Zeit meines Lebens habe ich gegen Apokalyptiker geschimpft, und das mit guten Gründen. Aber diesmal ist es anders. Ich kann in die Zukunft sehen, und was ich dort sehe, macht mir Angst. Die Türkei ist konservativer geworden, doch gleichzeitig scheint es, dass sie toleranter gegenüber Minderheiten und wirtschaftlich erfolgreicher ist. Glaub mir, das ist nur eine Phase. Die Ouvertüre zum nächsten Faschismus. Und wir werden nirgends vor ihm fliehen können. Auch nicht in Europa. Die Hölle kehrt wieder. Schwester, du musst dich jetzt schon rüsten gegen die Wiederkehr der Barbarei. Die Hüter des westlichen Lebensstils und der offenen Gesellschaft werden dir ritterlich die Hand und Schutz gegen die Barbaren anbieten. Nimm ihre Assistenz an, um das Schlimmste hinauszuzögern, aber vergiss nie, dass ihre Geschäftsgrundlagen die nie versiegende Quelle der scheußlichen Ideologien sind, gegen die wir uns zu wehren haben. Wer sie zuschüttet, macht dem Spuk ein Ende. Ich fürchte, der Faschismus des vorigen Jahrhunderts war nur ein Aperitif, ein erster Versuchslauf. Wenn ich betrachte, wie die Ökonomie ihre Diktatur festigt, welche Rattenfänger sie auf den Plan ruft und wie schwach und dumm die Linken sind, so steuern wir auf eine schreckliche Eiszeit zu. Und wenn ich realistisch wäre und nicht Berufsverbot, Irrenhaus und Ächtung fürchten müsste, dann würde ich dir raten, sofort alle Banker, Bosse und Spekulanten des freien Marktes zu töten. Würden der Papst und der Dalai-Lama und … komm hilf mir, Schwester … nenne mir noch irgendjemanden, den jeder liebt und cool findet und nicht auf der Straße verbluten lassen oder von der Polizei zusammenschlagen lassen würde wie einen rechtlosen Flüchtling.

Johnny Depp?

Ja, warum nicht. Also würden der Papst und der Dalai-Lama und Johnny Depp gemeinsam in die nahe Zukunft reisen, würden sie nach ihrer Rückkehr keine Sekunde zögern, sie alle umzubringen, wie eine Notmaßnahme, wie das Ausschalten des Zeitzünders in der letzten Sekunde. Und die Blicke des Papstes und des Dalai-Lamas und von Johnny Depp wären entschlossener als meine, weil sie vielleicht wirkliche Idealisten wären, ich mich aber nur am erlöschenden Idealismus meiner Jugend wärme. Ich wäre mit dieser Einsicht Public Enemy, und alle Mitstreiter, Liberalen, Pazifisten, selbst die Revolutionäre würden sich von mir abwenden, weil solche Gedanken ja doch nur dazu beitrügen, Linke als stalinistische Massenmörder darzustellen und die Rechten als eigentliche Humanisten. Aber Benedikt und Dalai und Johnny hätten vielleicht eine winzige Chance: Sie würden in Anbetracht ihrer schrecklichen Erfahrungen aus der Zukunft sofort Privatarmeen rekrutieren und zur gleichen Zeit in alle Chefetagen der neoliberalen Schaltzentralen eindringen und alles bis auf die mittlere Ebene niedermetzeln. Und die Sicherheitskräfte wären dann plötzlich in der unangenehmen Situation, den Papst, den Dalai-Lama und Mr. Depp zu erschießen, und bevor die das Feuer eröffnen, werden die drei ihnen zurufen: Um Himmels willen, geht nach Hause und vertraut uns, wir müssen das tun, um die Welt zu retten. Man wird sagen, dass das ein abscheulicher, bloß symbolischer Akt war, der nur einzelne Menschen geopfert hat, aber das System nicht in seinem Kern traf. Irrtum, das Räderwerk würde kurz stillstehen, lange genug, um zu enteignen und die Drähte aus den Computern zu ziehen. Und es würde Jahre dauern, bis man erkennt, dass sie einen Zug gestoppt haben, der auf den Abgrund zuraste. Aber warum würde ich mich nicht diesen drei Helden anschließen? Weil ich ein feiger Hund bin, Dilek. Und weil ich ein feiger Hund bin, werde ich weiter wählen gehen, meine Rosen gießen und ein blödes Demokratengesicht aufsetzen.

Du siehst, Schwester, ich kann dir nicht wirklich helfen und bin ebenso ratlos wie du. Und was mir soeben über die Lippen gekommen ist, entlarvt mich auch in deinen Augen als gefährlichen Irren. Verzeih mir, ich war vermutlich noch nie so ehrlich. So, und jetzt müssen wir in den Bus. Der Kaptan, der Fahrer, sucht bereits nach uns.

Während sie sich gleichzeitig erhoben, lächelte ihn Dilek an.

Nein, nein, das hat alles schon Sinn.

Und siehst du, wandte Ahmet ein, das macht mir auch Angst, dass dich meine Gewaltfantasien nicht ängstigen. Du hast zu viel Kill Bill gesehen.

Ahmet war sehr stolz, dass er mit einer kulturellen Anspielung prahlen konnte, die ihm nichts bedeutete, ihr aber einiges bedeuten könnte.

Nein, sagte Dilek, du hast mir mehr geholfen, als du ahnst. Und ich habe dich sehr gut verstanden. Ich weiß nicht, wie weit ich gehen kann. Zumindest lass ich mich von meinen reichen Verehrern nicht mehr zum Dinner einladen. Dein Massaker aber, lass dir das von einer Frau vom Fach gesagt sein, hat einen Schönheitsfehler. Es hat zu wenig gute PR. Auch deine drei Musketiere, das wäre wirklich ein amüsanter Actionfilm, bräuchten gezielte Werbestrategien, sonst wäre alles umsonst. Nach meiner Rückkehr werde ich mit den drei Herren mal Kontakt aufnehmen und ihnen vorsichtig das Projekt Save the World unterbreiten. Ich werde dich jetzt nicht länger belästigen. Ich habe gekriegt, was ich wollte. Du setzt dich an deinen Platz, ich an meinen. Und dort werde ich sehr viel nachdenken. Sag mir, falls es mir bei meinem Vater zu langweilig wird, darf ich dich in Dersim mit meinem neuen Jeep besuchen kommen? Wie heißt dein Dorf?

Natürlich darfst du. Mein Dorf heißt Holike, nördlich von Elazığ zwischen Hozat und Pertek.

Die beiden küssten einander vor der Station auf die Wangen und bestiegen den Bus. Ohne einander anzusehen. Oktay hatte woanders Platz genommen und wich Ahmets Blick aus, als dieser an ihm vorbeiging. Der Deutsche schlief.