Bus nach Bingöl

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Ali

In Düzce stieg ein junger Reservist zu, der wie ein Ali aussah. Er war untersetzt, hatte kindliche Gesichtszüge und blieb mit seinem Armeerucksack zweimal an den Haltegriffen hängen. Einer älteren Frau streifte er den Kopf damit. Sie fuhr ihn an, ob er nicht wisse, dass das Ding zwei Schleifen habe. Ahmet musste lachen. Er wusste, dass der Kleine sich den Rucksack nie und nimmer wie ein Schuljunge am Rücken fixiert hätte, so lange er nicht im Feld war, und selbst wenn er allen Passagieren damit gegen den Kopf geschlagen hätte. Und ihn amüsierte auch die verächtliche Miene, hinter welcher dieser tapfere Krieger sein Unbehagen verbarg. Der Junge, der wie ein Ali aussah, blieb kurz stehen, hielt Ausschau nach einem freien Platz, entschied, sich nicht neben die Kemalistin zu setzen, und fragte Ahmet. Ahmet lud ihn lächelnd ein, er erwiderte das Lächeln kurz, ehe er es von seinem Gesicht löschte.

Ahmet taufte ihn auf Ali. Er hatte diese Marotte, bestimmte Gesichter bestimmten Namen zuzuordnen. Dieser Junge sah wie ein Ali aus. Natürlich wusste er, dass solche Assoziationen sich nach Stars oder Menschen ausrichten, die man gekannt hat, die ähnlich aussahen und die Ali oder Ahmet hießen. Andere redeten Quatsch über Sternzeichen und er gönnte sich eben dieses alberne Spiel.

Ali setzte sofort Kopfhörer auf. Ein deutliches Zeichen, an Kommunikation nicht interessiert zu sein. Aus dem Augenwinkel beobachtete Ahmet den jungen Mann, und glaubte, alles über ihn zu wissen, über seine tiefe Verunsicherung, über die Angst, die Freuden der Kindheit gegen die Rolle eines ganzen Kerls eintauschen zu müssen, vor den nächsten Wochen, der Kaserne, dem Drill, dem Keuchen, vor körperlichem Versagen bei den Wehrübungen, den Strafen, dem Spott der Kameraden wegen seiner Statur, dem Brüllen der Offiziere, den sexuellen Übergriffen vielleicht. Ahmet wusste genau, wie man aus einem lieben Jungen eine wütende Kampfmaschine macht, wie man seine sozialen Regungen kastriert, und wie man vor allem die Weichlinge, Dicken und Schlusslichter in die effizientesten Rädchen der Maschine umfunktionierte. Solche sind für die Offizierslaufbahn vorgesehen und werden rücksichtslose Ausbildner, so sie ihr Wagemut, mit dem sie ihre humane Feigheit überspielen, an der Front nicht das Leben gekostet hat.

Plötzlich bot ihm Ali Salzmandeln an. Kurz nahm er die Kopfhörer ab.

Was hörst du da für tolle Musik, Soldat?

İsmail YK.

Cool?

Super.

Ali bot ihm einen seiner Kopfhörer an. Ahmet presste ihn an sein rechtes Ohr und hörte nichts als den üblichen türkischen Pop, bei dem es sich nach seinem Dafürhalten stets um dieselbe Nummer handelte. Ahmet wippte mit dem Kopf dazu. Ali erkannte es als Anbiederung, ließ es sich aber gerne gefallen. Ahmet gab ihm den Kopfhörer zurück.

Ali erklärte ihm, dass Şekerim nicht die beste Nummer von İsmail YK sei. Bomba bomba gefalle ihm viel besser. Er war vor zwei Monaten in Bodrum bei seinem Konzert.

Wie heißt du eigentlich, Soldat?

Oktay.

Freut mich, Ahmet.

Händeschütteln.

Bald befanden sich die beiden in einem angeregten Gespräch. Oktay war in der Tat auf dem Weg zum Militärdienst nach Diyarbakır. Als Ahmet das Wort Diyarbakır hörte, sagte er:

Möge Gott dir beistehen.

Oktay durchschaute schnell Ahmets vorsichtigen Versuche, eine antimilitaristische Haltung aus ihm herauszukitzeln.

Der Militärdienst sei schon okay.

Aber du sagtest, du hast eine Spenglerlehre gemacht. Ist das nicht sinnvoller, als in der Gegend herumzuschießen?

Ich weiß noch nicht. Als Offizier verdienst du besser. Und die Leute achten dich mehr.

Ja, leider.

Sind Sie Pazifist?

Theoretisch schon. Aber wenn man sich wehren muss, dann kann es schon sein, dass man den Angreifern Angst macht.

Das sehe ich genau so.

Mann, Oktay, gegen wen musst du dich wehren?

Gegen die Kurden.

Der entschlossene Ton, in dem der kleine Dicke das sagte, noch dazu, ohne lange nachzudenken, ließ Ahmets Gesicht rot anlaufen.

Und wenn ich Kurde bin?

Gegen Sie muss ich mich nicht verteidigen.

Hör mal, Oktay, sagtest du nicht, dass deine Mama aus Kars kommt? Stammt die von Tscherkessen ab?

Nein.

Aha? Von Armeniern.

Auch nicht.

Wär ja auch eine Schande, nicht wahr?

Das haben Sie gesagt.

Beiden behagte der gereizte Ton nicht, in dem sie miteinander sprachen. Und Ahmet wusste, dass er den kumpelhaften und doch souveränen Abi nicht mehr hinkriegen würde.

Okay, ich geh mal davon aus, dass deine Mutter Kurdin ist, oder zumindest in ein, zwei Generationen von Menschen abstammt, die Kurdisch sprachen.

Ja, das waren sicher Kurden. Ihre Großeltern sprachen kein Türkisch. Das hat sie mir erzählt.

Ahmet ergriff lächelnd Oktays Hand und schüttelte sie mit starkem Druck.

Willkommen im Klub. Ich bin Kurde.

Was Oktay nun sagte, erstaunte Ahmet.

Sie verstehen mich falsch, Arslan Ahmet Bey …

Nenn mich einfach Ahmet.

Ich habe nichts gegen Kurden, und ich finde es super, wenn sie ihre Sprache und Sitten pflegen können. Mein Vater ist Türke, aber er hat gesagt, dass die beste Sazmusik von den Kurden kommt. Ich rede von den radikalen Kurden. Von denen, die den türkischen Staat zerstören und meine Kameraden aus dem Hinterhalt angreifen.

Natürlich war Ahmet mit dieser Antwort noch lange nicht zufrieden, aber da sie sich doch verdächtig manchen seiner eigenen Aussagen näherte, die er in Wien kurdischen Hitzköpfen an den Kopf geworfen hatte, wollte er es dabei belassen. Er hatte keine Lust, mit dem Kleinen einen Streit vom Zaun zu brechen. Er wollte sein Herz gewinnen.

Ist schon gut, Oktay. Mir wird nur ganz anders bei dem Gedanken, dass du da in den Bergen dein junges Leben verlieren könntest oder dass jemand anderer sein junges Leben durch dich verliert. Ist beides nicht schön.

Die anfängliche Harmonie zwischen den Sitznachbarn wollte nicht wieder einkehren. Ahmet schien beim Versuch, alles richtig zu machen, einiges falsch gemacht zu haben.

Wenn es sein muss, muss es sein, sagte Oktay.

Wow, du bist aber cool.

Sein Lieblingscousin sei schon 42 Jahre alt, er verehre ihn wie einen Vater, er sei Offizier bei der Terrorabwehr und habe 25 von den kurdischen Schweinen ins Jenseits befördert. Er habe ihm ein paar PKK-Ohren versprochen.

Ahmet spürte, wie von den Beinen aufwärts die Kontrolle über sich aus seinem Leib fuhr.

Mit spöttischem Ton bohrte Oktay in Ahmets Wunde, die sich da vor ihm auftat:

Kann es gar nicht abwarten, bis ich mein erstes kurdisches Schwein abknalle.

Je mehr Ahmet seine Hilflosigkeit vor dem Jungen verbergen wollte, desto sichtbarer wurde sie. Seine Hände ballten sich, seine Rückenmuskeln pressten das Rückgrat zusammen, als wollten sie die Bandscheiben herauswringen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Die heiß ersehnte Pause rettete Ahmet davor, dass er den Jungen erwürgte. Der Bus hielt schnaubend bei einer riesigen Haltestelle nach Bolu. Der Fahrer sprach durchs Mikro sogar etwas von 45 Minuten, da eine kleine Reparatur erforderlich sei.

Los, lass mich raus!

Da der beleidigte Reservist nicht schnell genug seiner Anweisung folgte, war Ahmets Wunsch, als Erster den Bus zu verlassen, vereitelt. Er bekam keine Luft. Oktay stieß er zur Seite. Dann musste er hinter zwei alten humpelnden Frauen und drei Männern warten. Umso schneller stürmte er aus dem Wagen, ins Gebäude, ins Klo. Eine Kabine war noch frei. Und in gerade die wollte der Deutsche, jener Deutsche, dem im Bus die Pistole zu Boden gefallen war. Heftig stieß Ahmet ihn zur Seite. Aber hallo, rief ihm dieser nach. Ahmet sperrte ab, rief Entschuldigung, fiel auf die Knie und übergab sich ins Klo-Basin. Es war ein langes Kotzen – je älter er wurde, desto seltener, aber qualvoller war es. Nahtoderfahrung, die Angst, dass der Magen sich nach außen stülpt. Bittere gelbe, mit Blutschlieren durchzogene Magensäure spuckte er aus. Schwer atmend ließ er sich dann gegen die Wand fallen und wischte mit dem Saum seiner Lederjacke das Sekret von der Unterlippe. Tränen hatten seinen Blick verschleiert. Nachdem die Galle draußen war, kamen die Erinnerungen hoch, und dann ging es erst richtig los. Ein Weinkrampf erfasste Ahmet.

Du kurdisches Schwein

Der erste Polizist, der Ahmet Arslan je geschlagen hatte, nannte ihn kurdisches Schwein, und war damit seiner Zeit weit voraus. Solche ethnischen Spezifizierungen waren damals eher ungewöhnlich, denn in der Regel war man ein kommunistisches Schwein oder ein roter Eselssohn. Ganz richtig hatte Ahmets Genosse Murat Atalay denselben Sprecher des Empfangskomitees im Polizeigefängnis darauf hingewiesen, dass es gemäß der türkischen Verfassung keine Kurden gebe und dass er sich mit der Nennung dieses Namens strafbar mache. Er werde, fügte Murat hinzu, dieses Mal noch Gnade vor Recht ergehen lassen und bitte ihn daher, ihn türkisches Schwein zu nennen. Dieser Scherz kostete Murat den unteren Zahndamm.

Am 5. Mai, vier Tage nach einer der schlimmsten Auseinandersetzungen mit der Polizei im Bezirk Ümraniye, bei der vier seiner Genossen das Leben ließen, holte ihn die Polizei aus dem Bett und fuhr ihn in die Birinci Şube, die Erste Politische Abteilung. Dort verbrachte er die schlimmsten drei Wochen seines Lebens. Nur der Umstand, dass die Überlebenden seiner Gruppe vor ihm verhaftet worden waren, ersparte ihm die Schande, Genossen verraten zu müssen. Die er verriet, saßen schon. Und er wusste nicht, wer von ihnen seinen Namen verraten hatte, und wollte es auch nicht wissen.

 

In diesen drei Wochen wurde Ahmet täglich gefoltert. Und zwar immer vom selben Mann. Man nannte ihn İbrahim Doktor. İbrahims Doktors professionelle Grausamkeit war nicht das Schrecklichste an ihm. Wäre er einer der primitiven Sadisten gewesen, die im Staatsdienst ihre perversen Neigungen ausleben, ihre Minderwertigkeitsgefühle kompensieren, als Schwächlinge erkennbar waren, denen bloß ihre Position Macht gab, er wäre berechenbar gewesen. Doch nein, İbrahim Doktor trat den Häftlingen als Übermensch entgegen. Ein kühler Bürokrat, weder Lust noch Abscheu schien er zu empfinden. Als wäre er gleich einem Geschworenen per Los für sein Amt bestimmt worden und müsste es nun mit all der Würde und Professionalität ausüben, die er sich und dem Staat schuldig war. Es gab sicher weitaus mehr von der anderen Sorte, Ahmet hatte nur ihn erlebt. Und viele seiner Schicksalsgenossen, welche die Haft überstanden, hatten seine Erfahrung geteilt. İbrahim Doktor, der Spitzname kam nicht von ungefähr, arbeitete wie ein praktischer Arzt, nur dass er die Leiden seiner Patienten nicht heilte, sondern verursachte, nur dass er nicht ihre Reflexe prüfte, sondern ihre Knie zerschmetterte. Kontrolliert, schweigsam, als wäre er mit Aktenkoffer und Krawatte in den Knast gekommen, als hätte er seine Frau mit Kuss verabschiedet und die Kinder beim Frühstück nach ihren Leistungen in der Schule gefragt.

Solche Folterer waren eine Katastrophe, denn sie stahlen ihren Opfern das Gefühl der moralischen Überlegenheit. Nie ließen sie sich gehen, nie beschimpften sie einen. Weder Du rote Sau noch Ich ficke dich kam diesen Herren des Schicksals über die Lippen, nicht einmal Hass oder Freude. Aber auch kein Mitleid zeigten sie, was doch der fieseste Trick gewesen wäre: den verlorenen Sohn, der jeder von ihnen war, an sich zu binden.

Er sah wirklich wie ein Doktor aus, glatt rasiert und grau meliert, dicke Brille und pomadisiertes Haar, wie ein Relikt aus der guten alten postkemalistischen Nachkriegszeit. Wie so eine gottverdammte Orhan-Pamuk-Figur. Ahmet mochte Orhan Pamuk nicht, wie von ihm zu erwarten war, pries er Yaşar Kemal, obwohl er auch den längst überwunden hatte. Doch das ist eine andere Geschichte …

İbrahim Doktor hätte auch Anwalt sein können. Vielleicht war er es und verdiente sich was dazu. Es dauert nicht lange, mein Junge, flüsterte er ihm vertrauensvoll zu. Es dauert nicht lange, sagte er ihm beinahe zärtlich, nicht etwa: Wenn du vernünftig bist, pack aus, dann erspar ich mir Arbeit und dir Schmerzen. Es gab nichts mehr auszupacken. Die notwendigen Geständnisse hatten ihm die Polizisten schon in den ersten Tagen rausgeprügelt. Dieser Bürokrat des Schreckens hatte nicht die Aufgabe, Geständnisse zu pressen. Er hatte bloß die Aufgabe, Ahmet weh zu tun. Er war nicht einmal überzeugt von seiner Aufgabe. Er hasste die Linken nicht. Er hatte keine politischen Neigungen. Er verriet ihm, Ahmet, bloß seinen Arbeitsplan, dass für ihn, wie sich herausstellen würde, vier Minuten reichten. Bis zum Abendessen – kam seine Schwiegermutter zu Besuch oder hatte seine Frau Karten für den neuesten Film besorgt? – mussten noch sieben weitere Fälle erledigt werden. Wer weiß, vielleicht hätte er seinen Vorgesetzten auch sagen können: Dem Jungen tu ich nichts, er hat so hübsche Augen. Und niemand hätte widersprochen. Oft waren nicht einmal Wachebeamte im Raum. Er hätte Ahmet auch Zigaretten anbieten und mit ihm plaudern können. Aber er war kein Gesprächstherapeut – er war Diplomfolterer. Er arbeitete um der Arbeit willen, sine ira et studio. Die Gummihandschuhe zog er über, die Elektroden befestigte er an Ahmets Hoden und den Ohren, und nestelte wie ein Hobbyfunker an den Schaltern herum. Ahmet brauchte ihm nicht zu sagen, dass er sich melden solle, wenn es zu sehr schmerze – seine Schreie waren beredt genug, und dann erhöhte Dr. İbrahim die Spannung.

Ahmet Arslans Selbstkritik befahl ihm, diesen Typus nicht zu verallgemeinern, nur weil er so schön paradox schien und bei seinen fiktiven Zuhörern Erstaunen auslösen würde. Es gab genug von den Kerlen, die genau so waren, wie man sie sich vorstellte. Und die Schweine, die Jungs vergewaltigt haben, waren sicher keine väterlichen Bürokraten.

Einmal hatte man ihm einen Gummiknüppel in den Anus geschoben. Es war bei diesem einen Mal geblieben. In vielen anderen Knasten standen Vergewaltigungen an der Tagesordnung. Das war das Schrecklichste, was man einem jungen Mann antun konnte. Bevor er ein solcher wurde, stahl man ihm die Männlichkeit. Zeitlebens würde er sich rächen wollen und, falls er überlebt, den Täter nie finden und deshalb seinen Rachedurst an allen möglichen anderen Objekten stillen wollen, am ehesten bei denen, die ihm am nächsten stehen.

Das orientalische Paradox: Sagtest du dem Gefängniswärter oder dem Polizeioffizier, der regelmäßig Jungs fickt, er sei schwul, würde er dich auf der Stelle erschießen. Keine größere Verletzung seiner Ehre ließe sich vorstellen. Ihm zu erklären, wie so eine hübsche Latte zustande käme, hätte nicht viel Sinn. Nach eigenem Dafürhalten ist er alles andere als schwul. Auch Männer zu lieben ist nicht schwul. Schwul ist der Abschaum, der sich penetrieren lässt und Lust dabei empfindet. Der Ficker kann auch Lust empfinden, aber solange es nur die Lust der Erniedrigung ist, bleibt er ein geachtetes Mitglied der Gesellschaft. Er hat doch bloß Lust – ein für jeden Mann nachvollziehbarer Lausbubenstreich –, weil er einen Mann zu so etwas Erbärmlichem wie einer Frau macht. Als aktiver Part wäre er nur schändlich, wenn er seine zärtlichen Gefühle für einen Mann, bis dahin tolerabel, in gelebte körperliche Lust verwandelt. Ahmet resignierte bei dieser Kettenreaktion der Widerwärtigkeiten immer, wenn er sich eine moralische Hierarchie ausdenken, die Antwort auf die Frage finden wollte, was hier am widerlichsten sei: die Schwulenverachtung, die Verachtung von Frauen, die Demütigung des Schwachen durch den vermeintlich Starken, der Sadismus oder die peinliche Leugnung der eigenen Homosexualität.

Mirhat Balık

Zu seinem Glück wurde Ahmet ins Zivilgefängnis von Bayrampaşa verlegt. Dort blieb er auch nach dem Urteilsspruch. Fünf Jahre hatte er ausgefasst. In Bayrampaşa wurde wenig gefoltert. Zu Beginn war er öfter geschlagen worden. Andere Genossen landeten in Gaziantep, İzmir und Metris. Dort wurde systematisch gefoltert. In den Militärgefängnissen nach dem Putsch von 1980 kam niemand mehr der Marter aus. Was allerdings zu dieser Zeit und vor allem später in den 1990er-Jahren im Gefängnis der 5. Abteilung in Diyarbakır im Osten des Landes mit den Häftlingen geschah, das überstieg Ahmets Vorstellungskraft, und vermutlich geschieht es noch immer.

Dass die Gefängnisleitung in Bayrampaşa auf systematische Folter verzichtete und kaum sadistisches Personal anstellte, hieß aber mitnichten, dass man dort ohne Gefahr lebte. Mit regelmäßigen Hungerstreiks fügten sich die Genossen lebenslange gesundheitliche Schäden zu.

Die Kriminellen fürchteten die Politischen wegen ihrer Organisation und Unerschrockenheit. Aber verirrte sich mal ein verlorenes Schäfchen im Gefängnishof in falsche Gesellschaft, konnte es leicht sein, dass man es schlug, ausraubte oder vergewaltigte. Der Respekt dieser Halunken vor den Politischen war deren Schutz, denn der Ruf ihrer Taten und die völlig unverständliche Tatsache, dass sie diese Taten nicht irgendeines Gewinns willen außer dem einer besseren Gesellschaft vollbrachten, eilte ihnen ins Gefängnis voraus. In Wirklichkeit waren sie allesamt durch die Prügel der Untersuchungshaft eingeschüchterte Jungs, die Bürgerlichen weich und verzweifelt, die härteren Arbeiter- und Bauernjungs chaotisch und desorganisiert. Es dauerte, bis aus ihnen, den unversöhnlichen Konkurrenten aus Dutzenden linken Splittergruppen, ein Block wuchs, und ihr verdientester Anführer, das war Mirhat Balık.

Mirhat Balık war ein Monster und der edelste Kizilbasch zugleich. Er hatte in der Schlacht vom 1. Mai an vorderster Front gekämpft, ein kleiner drahtiger Kurde aus Erzurum. Liebenswürdig, hilfsbereit, politisch unendlich naiv, aber ein meisterlicher Organisator. Hatte er, Ahmet Arslan, je intellektuelle Arroganz gegenüber den ungebildeten Genossen verspürt, spätestens mit Mirhat Balıks festem Händedruck war die aus seinem Körper gefahren. Mirhat Balık hatte ihm das Leben gerettet.

Bald hatten die Kriminellen die Schwäche vieler Politischer erkannt. Manche von ihnen, vor allem die Bürgerlichen, erlagen der romantischen Anziehungskraft der Gauner, Zuhälter und Mafiosi und begannen für sie zu arbeiten. Zudem kamen alte Animositäten zwischen den rivalisierenden politischen Zellen hinzu. Einen Jungen aus Mardin, der wie Ahmet bei Dev-Yol organisiert war, hatten ein paar Messerstecher im Gefängnishof so sehr verletzt, dass er wenige Tage später starb.

Einer der Unterbosse hatte ausgerechnet an Ahmet Gefallen gefunden und um ihn geworben. Ahmet hatte ihm dann bei einer seiner Avancen die Nase eingeschlagen und war davongelaufen. Eines Tages schickte man ihn mit einem Brief in den Trakt der Kriminellen, den er an einen Boss übergeben sollte, den sie Padişah nannten. Plötzlich sah sich Ahmet von einer Bande lüstern grinsender und ihre Messer zückender Häftlinge umringt. In diesem Augenblick fuhr wie ein Blitz Mirhat Balık dazwischen. Ahmet versuchte sich immer wieder diese Szene ins Gedächtnis zurückzurufen, doch war damals alles so schnell gegangen, dass sich auch so viele Jahre später eine logische Abfolge schwer rekonstruieren ließ. Mirhat Balık hatte vier Männer zu Boden gestreckt, einen in den Schwitzkasten genommen und seinen Kantinenlöffel in dessen Kehle gedrückt. Er hatte Ahmet gerufen, zu ihm rüberzukommen, und den anderen befohlen, in ihren Trakt zu verschwinden. Auch ohne diese Geisel hätten die Kriminellen den Rückzug angetreten. Mirhat Balık war tags zuvor aus Gaziantep nach Bayrampaşa verlegt worden, und diesem glücklichen Umstand verdankte er sein Leben.

Warum die Einwohner das Atatürk-Viertel noch immer Viertel des 1. Mai nennen

Drei Tage vor seiner Verhaftung war er ihm das erste Mal begegnet, an jenem schrecklichen 1. Mai 1978, als Ahmet und vierzehn seiner Genossen einer Armee von 300 Polizisten eine Schlacht lieferten: Mirhat Balık, jenem unerschrockenen Hitzkopf, der nicht die Kraft, aber die Behändigkeit eines Superhelden besaß. Wann immer sich Ahmet die Ereignisse dieses Tages in Erinnerung rief, spulten sie sich wie ein Film ab, den er teilnahmslos ansah und auf dessen Besetzungsliste er fehlte. Aber wenn die Szene kam, da er seinen sterbenden Freund Mustafa in Armen hielt, auf dessen Mund sich Blutblasen bildeten, die mit dem letzten Atemzug zerplatzten und seine rechte Hand mit kleinen Tröpfchen benetzten, wenn er das hübsche bärtige Gesicht seines Genossen vor sich sah, bleich und leer, kam ihm jede Sekunde dieses Tages in den Sinn zurück.

Dieser verfluchte 1. Mai. Heute ist die Gegend ein verbautes Viertel im asiatischen Stadtteil Ümraniye, damals war sie Stadtrand. Jahr für Jahr, Monat für Monat, Woche für Woche waren Familien aus Anatolien hierher geströmt und hatten Land in Besitz genommen. Für die Hütten, die sie darauf errichteten, gab es keine Baugenehmigungen. Eine kleine Stadt, Hunderte Hütten und Häuschen, so weit das Auge reichte, war in wenigen Monaten aus dem Boden geschossen. Ihre Erbauer waren wie Ahmet Menschen aus dem Osten, Lumpenproletariat, in die Stadt gespült, um dort rechtlos und ausbeutbar die Mühlen des Wirtschaftswachstums anzutreiben. Ahmet und seine Genossen hatten nicht gezögert und sofort mit der Politisierung der Migranten begonnen. Ob sie Türken oder Kurden oder Christen waren, spielte damals keine Rolle. Es waren ihre Leute, sie sprachen ihre Dialekte, sie waren ihr Fleisch und Blut. Und oft hatten sie dieses Fleisch und dieses Blut verdammt, so begriffsstutzig waren viele von ihnen. Mustafas Zelle war wesentlich beteiligt daran, eine funktionierende Administration einzurichten: provisorische Schulen, faire Wasserverteilung, Siedlungsräte, Bürgermeister, Diskussionsgruppen. Die meisten Bewohner vertrauten ihnen. Die Polizei wagte sich kaum in diese Siedlungen, und die Grauen Wölfe nach ein paar Versuchen auch nicht mehr, denn sofort stießen ihre Angriffe auf Gegenwehr.

Am 1. Mai 1978 war alles anders. Zwanzig Caterpillars waren angerückt, um die illegale Siedlung endlich platt zu machen. Hinter diesen und fünf Tanks war eine schwer bewaffnete Armee in Stellung gegangen. Die Leute aus der Siedlung waren, durch die politische Agitation von Mustafas Organisation angestachelt, zum Äußersten bereit. Mit Holzlatten und Steinen und rostigen Stangen bewaffnet, schrien sie ihre Wut aus den Lungen.

 

Ahmet und seine Genossen befanden sich plötzlich in einer absurden Funktion. Sie, die keine bewaffnete Konfrontation scheuten, waren nun Ordner, ein diplomatisches Corps geworden, alle ihre Kräfte aufwendend, die wütende Masse zu beschwichtigen, mit weißen Tüchern den Kontakt zur Polizei zu suchen und ein Massaker zu verhindern. Die Polizisten hätten ihre Emissäre, Mustafa und einen baumlangen Lazen namens Ibo, auf der Stelle verhaften können, doch sie akzeptierten sie als Sprecher, denn auch sie zeigten wenig Lust, Menschen zu töten.

Während Mustafa und Ibo mit der Polizei verhandelten, wurde Ahmet ein neuer Genosse vorgestellt, Mirhat Balık, ein kleiner drahtiger junger Mann, ein Kizilbasch, der bei den Linken İstanbuls als Legende galt. Viele der Geschichten um ihn mussten erfunden sein, dachte Ahmet, ehe er ihn das erste Mal im Kampf erlebte. Er soll am helllichten Tag eine der größten Juweliergeschäfte İstanbuls ausgeraubt und nichts vom Schmuck für sich zurückbehalten haben.

Niemand hatte um seine Unterstützung angesucht, er war einfach aufgetaucht wie ein erfahrener Spezialist, der den göttlichen Auftrag verfolgte, auf die Grünschnäbel, die Ahmet und seine Genossen nun einmal waren, aufzupassen. Niemand wusste zudem, welcher Organisation er angehörte. Dass man ihn nicht als Agent vertrieb, lag an dem guten Ruf, den er überall genoss. Im Vergleich zu ihnen, die nur Pistolen und Mauser hatten, war er bis an die Zähne bewaffnet. Ein Schnellfeuergewehr hing ihm am Rücken, zwei Pistolen steckten im Hosenbund, und eine beachtliche Sammlung an Molotowcocktails und selbstgebastelten Dynamitgranaten hatte er schon in der Dämmerung, lange bevor sie anmarschiert waren, am Fuß eines Sandhaufens in Stellung gebracht. Mirhat Balık war gekommen, um mit ihnen zu sterben. Und er war quietschvergnügt.

Ahmet und er hatten nicht viel Zeit zu reden, ein kurzer Händedruck reichte, ein kurzes freundliches Lächeln. Mirhat Balık war nicht politisch gebildet, möglicherweise konnte er nicht einmal lesen, er kämpfte aus reiner Menschenliebe. Das klingt heute seltsam. Doch nie hatte sich ein prinzipientreuerer Alevit zu den Kommunisten verirrt. Er war der Inbegriff des treuen Genossen.

Mustafa und Ibo kehrten zurück. Die Polizei gab der Menge fünfzehn Minuten, den Weg freizugeben. Fast heulend beschworen sie die Siedler, dieses Mal klein beizugeben, doch das machte diese nur noch wütender. Dann begannen die Caterpillars, die ersten Hütten niederzureißen. Steine flogen, einige Polizisten schossen ohne Befehl drauflos, einer der Siedler wurde tödlich getroffen, mehrere wurden verwundet von ihren Angehörigen weggetragen. Verzweifelt schrien die Genossen einander an, was sie nun tun sollten. Und alle hofften sie insgeheim, dass sie sich zur Flucht entschließen könnten. Doch Mustafa erhob seine Pistole und schrie: Wir kämpfen. Und dann eröffneten sie das Feuer, denn wenn sie stürben, so würden sie nicht als Verräter, sondern Märtyrer in Erinnerung bleiben. Wie zu erwarten liefen die Siedler bei den ersten Schüssen davon. Und die Weltgeschichte sah eine ihrer verrücktesten Schlachten, wie sich vierzehn Straßenkämpfer mit Pistolen auf ein Kontingent von Hunderten Polizisten stürzten. Dass nur vier von ihnen an diesem 1. Mai ihr Leben ließen, lag an den vielen Sand- und Erdhaufen, hinter denen sie Deckung suchten.

Mirhat Balık bat um Feuerschutz, und beide Pistolen abfeuernd lief er auf die Feinde zu, schleuderte seine Molotowcocktails und setzte zwei Tanks in Brand. Dann sprintete er unverletzt zurück und hechtete hinter einen Sandhaufen, der kurz danach von einer Panzergranate zerstört wurde. Ahmet war der festen Überzeugung gewesen, dass Mirhat Balık das unmöglich überlebt haben konnte. So viel Tollkühnheit hatte keiner der Genossen je gesehen noch sich vorstellen können.

Der Besatzung der brennenden Tanks wurde es bald zu heiß, und sie kam aus den Luken gekrochen. Als Cem Kaya, ein Genosse aus Yeyladere, auf sie zu schießen begann, rief ihm Mirhat Balık hinter dem Sandhaufen zu, dass er sofort damit aufhören solle. Mirhat empfand es als feige, diesen armen, schutzlosen Kerlen, denen er schließlich beinahe einen Feuertod beschert hätte, in den Rücken zu schießen. So bekamen die Kombattanten des 1. Mai nicht nur ein Zeichen, dass er noch am Leben war, sondern zudem seiner sprichwörtlichen Ritterlichkeit. Das war das Letzte, was sie von ihm hörten und sahen, denn dort, von wo aus er geschrien hatte, detonierte bald eine weitere Granate.

Keine zwanzig Minuten dauerte der Kampf. Als Ahmet klar wurde, dass es für Mustafa keine Rettung gab, war er davongelaufen. Wie die anderen Kameraden auch. Vier hatten sie tot, zwei verwundet zurückgelassen.

Zwei Tage später wurde Ahmet verhaftet. Er wusste nicht, warum, aber die Siedlung wurde nicht abgerissen. Man nannte sie in Erinnerung an diesen traurigen Tag Siedlung des 1. Mai. Sie bildet heute das Herz eines Bezirks, den man auf – wie auch anders – Mahalle Atatürk taufte. Doch im Gedächtnis der älteren Leute ist er noch immer als Mahalle 1 Mai, Viertel des 1. Mai, bekannt.